Schwindel der Wirklichkeit

Akademie der Künste

2014:Dez // Naomie Gramlich

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12-2014

Spiegelnde Schwindeleien

„Schwindel der Wirklichkeit“ heißt die prominent bestückte Gruppenausstellung, die momentan in der Akademie der Künste zu sehen ist. Der Titel schreckt mich ab, zieht er doch den langen Rattenschwanz der Bilderflut durch die digitalen, referenzlosen Medien und der Realität im Verhältnis zu ihrer virtuellen Simulation nach sich. Themenkomplexe, die spätestens seit den 90ern mit dem Aufkommen des digitalen Bildes und des Internets ziemlich en vogue und gleichzeitig überpräsent sind. Stehen sie doch im Zeichen der Krise der Repräsentation und der Postmoderne, dem explosiven Augenblick der Entfesselung; der Befreiung von allem sozial/gesellschaftlich/politisch/historisch Konstruierten, sei es von der Subjekt-Objektposition, sei es Gender oder Ethnie. Kategorien, die bis dato die Wirklichkeit immer fest definiert hatten.
Was genau das in Bezug auf die analoge und digitale Wirklichkeit heißen sollte, kann ich nie ganz begreifen. Wenn ich per Smartphone mit zwei Personen chatte, bin ich dann nicht mehr in der Lage, die bunt färbenden Blätter des Baumes in ihrer ganzen Sinnlichkeit wahrzunehmen? Im Zeitalter des Web 2.0 scheint es, als wechseln wir nicht nur mühelos zwischen sozialen Rollen, sondern auch von digitaler zu analoger Realität. Wenn es also mehrere Realitäten/Wahrnehmungsmodi gibt, ersetzt die eine die andere und verstopft damit die Fähigkeit, den erlebten Jetztmoment in seiner vollen Sinnlichkeit wahrzunehmen – oder wird der Mensch stetig an neue Realitäten gewöhnt, die das Hirn in einer Art neuronalen Umcodierung mit der Fähigkeit zur multiplen Wahrnehmung ausstatten? Ein unerschöpflicher Fragenkatalog, mit dem ich in die Ausstellung gehe.
Ich lese, dass es in der Ausstellung ein „Metabolisches Büro zur Reparatur von Wirklichkeit“ gibt, in dem ausstellungsbegleitend Vorträge gehalten werden. Reparatur von (nicht „der“) Wirklichkeit, die ganz offensichtlich nicht mehr intakt zu sein scheint. Das klingt ein wenig sehnsüchtig nach einer Wirklichkeit, die wieder an das unversehrte Anfangsstadium ihrer Einheitlichkeit gebracht werden muss. Als müsste der von digitalen Metastasen durchzogene Wirklichkeitskörper einem chirurgischen Eingriff unterzogen werden. Ein nostalgischer Blick verklärt immer das Vergangene. Denn es gibt genügend Beispiele, die zeigen, dass die Realität bereits vor einigen Jahrhunderten einen Drehwurm hatte. Wie – um ein Beispiel zu nennen – James Nasmyth (1808–1890), der die Oberfläche des Mondes in Miniaturplastiken nachbaute, um sie mit Hilfe der Fotografie zum Leben zu erwecken (verblüffend ähnlich zu den Ausgangsideen von Thomas Demand und Thomas Wrede). Dann steckt in der Bezeichnung des Büros noch der Metabolismus, der – das schlage ich später nach – etymologisch für Veränderung und Durchlässigkeit steht. Also glücklicherweise doch kein Anspruch auf die eine feste, einzige Wirklichkeit. Denn neben dem Schwindel, dem Taumel der Wirklichkeit, steckt im „Schwindel“ auch die trügerische Schwindelei der Realität, die uns versucht hinters Licht zu führen. Dieser Hang zu Spiel und Doppeldeutigkeit, der in der Wortwahl des Titels mitschwingt, ist der dickste, rote Faden dieser Ausstellung.
Im Spiel geht es auch immer um mich, mich als Interagierende, als Betrachterin, als interagierende Betrachterin. Gleich bei der ersten Arbeit (Giny Vos „Giovanni Arnolfini en zijn jonge vrouw“), in der wir uns selbst in einer konvexen Spiegel-Videoinstallation anblicken, sagt mein Freund K. zu mir: „Ich glaube, wir werden uns noch ziemlich häufig in der Ausstellung sehen.“ Richtig getippt, denn die Füllung des Kunst-Behälters ist in vielen der gezeigten Arbeiten ganz offensichtlich die Betrachterin selbst. Also hoch-subjektive Realitäten, statt fest abgeschlossener Entitäten. Vorstellung statt Darstellung. Nicht nur der Anspruch auf die eine vermeintliche Realität wird dekonstruiert, auch die Werk/Objekt- und Betrachterin/Subjekt-Dichotomie funktioniert hier nicht mehr. Die Akademie der Künste hat sich zu einem interaktiven und experimentellen Spielplatz verwandelt. In Spiegel-Video-Installationen begegnet die Betrachterin einer zersplitterten oder verzerrten Realität ihrer selbst (Peter Campus „mem“/Olafur Eliasson). Fragmente, die durch die Trennung der Elemente hervorgebracht worden sind; das Bild wird vom Geräusch getrennt und außerhalb der gewohnten Ordnung wieder zusammengefügt (Robin Arnott „SoundSelf“) sowie die Handlung der Zeit und dem Raum entzogen (Servaas „Pfft“). Einer Selbstwahrnehmung, in der das Jetztzeit-Ich sein vergangenes Ich beobachten kann (Bruce Nauman „Live-Taped Video Corridor“/ Dan Graham „Present Continuous Past(s)“). Eine vergnügliche Mischung aus Narzissmus und erschrockener Selbstbeobachtung. Diese Installationen sind Möglichkeiten der Selbsterkundung und erzeugen zweifellos auf affektive Weise ein genussvolles und spielerisches Schwindelgefühl. Die menschliche Sehnsucht nach dem Verlassen des eigenen Körpers in Form des Spiels geht Hand in Hand mit den ersten Medien. Noch einmal ein historischer Rückblick: lange vor der künstlerischen oder theoretischen Thematisierung des Schwindels der Wirklichkeit, existierte die Lust am Trug der Augen. Bereits das 17. Jahrhundert und vor allem das 18. Jahrhundert bieten eine Bandbreite an Sehinstrumenten zum optischen Vergnügen. Wenn auch nicht der breiten Maße zugänglich, luden Laterna Magica, Guckkasten und Anamorphosen lange vor dem Videospiel zum Spiel am Wirklichen ein. Ich kehre zu der Anfangsfrage zurück, ob die Realität denn heute mehr schwindelt als zu der Zeit, in dem die neueren Medien, die in der Ausstellung vielerorts eingesetzt werden, noch nicht zur Verfügung standen.
Ganz allgemein lässt sich behaupten, es hat nie eine objektive Wirklichkeit gegeben. Die Wirklichkeit ist ausschließlich subjektiv erfassbar. Der Realität ist also immer etwas Imaginäres inhärent. Ein radikaler Zweifel am Gesehenen und ein Misstrauen gegenüber dem Wahrgenommenen (Richard Kriesche „Zwillinge“) bis hin zur Zerstörung des Auges, dem wichtigsten Wahrnehmungsorgan (ART+COM, Joachim Sauter, Dirk Lüsebrink „Zerseher“). Im Gegensatz zu diesem dekonstruierenden Verständnis von Realität, das eine feste Wirklichkeit anzweifelt, statt sie stabilisieren zu wollen, gibt es auch die gegenläufige Beziehung zur Realität, die davon ausgeht, es ist etwas da, das auch gezeigt werden kann. (Harun Farocki, Trevor Paglen „Visiblity Machines“). Unverkennbar politisch und real, wenn auch nicht Teil der Realität der meisten AusstellungsbesucherInnen (gold extra „Frontiers“).
Die künstlichste und gleichzeitig realste Form der medialen Realitätsverwirrungen begegnete uns am Ende der Ausstellung in Form einer Oculus Rift (Daniël Ernst/The Shoebox Diorama „Der Große Gottlieb“). Diese Videobrille transportiert die Trägerin in eine vollausgestattete virtuelle Realität, in der sie samt ihrer ganzen Sinnesorgane aus ihrem analog-realem Umfeld gerissen wird. Wenn auch der eigene Körper dort zurückgelassen werden muss, denn dieser kann kein Teil der programmierten Realität sein. Ein echter Ventilator schaffte den Link zwischen beiden Welten. Mark Zuckerberg zufolge, der als Kopf von Facebook Oculus Rift für 2,3 Milliarden gekauft hat, werden Virtual Reality Brillen in 15 Jahren ihren eigenen Markt geschaffen haben. Ist Kathryn Bigelows Film „Strange Days“ (1995) also ein Wegweiser in eine Zukunft, in der analoge Wirklichkeit vollkommen von der virtuellen Realität absorbiert werden wird?
Als ich nach dreieinhalb Stunden das Gebäude verlasse, dreht sich tatsächlich mein Kopf. Der Schwindel funktioniert in der Ausstellung als künstlerische Strategie, die die Wirklichkeit so wie sie zu sein scheint, herausfordert. Trotzdem steht hinter meinen Fragen nach wie vor ein großes Fragezeichen. Nach so vielen Realitäten muss ich erst einmal in die momentane Jetztzeit zurückfinden und fühle mich wie in einem Irrgarten, in dem unterschiedliche Entscheidungen verschiedenste Konsequenzen mit sich tragen können (Rosa Feigs „Box Stories“); als wäre das Leben ein Spiel, in dem es darum geht, zwischen verschiedenen Optionen zu wählen.

„Schwindel der Wirklichkeit “, Akademie der Künste,
Hanseatenweg 10, 10557 Berlin,
17. 9.–14. 12. 2014
Sergey Galyonkin, Gründer von Oculus Rift, Bild von wikipedia: Uploaded by Yakiv Gluc
James Nasmyth „The Moon“, John Murray, London, 1874