David Chipperfield

Neue Nationalgalerie

2014:Dez // Anne Marie Freybourg

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12-2014

Rasterwald unter Mies’scher Hebebühne

Der britische Architekt, Sir David Chipperfield, hatte für die von ihm kuratierte Architekturbiennale 2012 seine Themenwahl „Common Ground“ damit begründet, dass es in der Architektur nicht um außergewöhnliche Formgestaltung und aufdringliche Bilder gehen kann, sondern vielmehr um eine Verantwortung für das Soziale und Funktionale von Gebäuden und gebautem Stadtraum. Es war eine harsche Absage an spektakuläre Architektur à la Frank Gehry, die dazu dient, Touristen anzuziehen, und an aufgeblähte Formgestaltungen zum Beispiel von Jürgen Mayer H., die das Interesse von Investoren an tollen Verpackungen befriedigen.
Damals hat er betont, dass symbolisch wie metaphorisch der Grund und Boden, auf dem die Architektur entsteht, als „Common Ground“ entscheidend ist: Sei es eben der Erdboden, das Eigentum des Grundstücks, der städtische Raum oder die Geschichte der Architektur. Auf der Pressekonferenz zu seiner Intervention „Sticks and Stones“ in der Neuen Nationalgalerie erläuterte Chipperfield in seiner bescheidenen Art, dass es für ihn wichtig ist, immer im Blick zu behalten, dass ein Gebäude die Funktion des „shelters“, des Schutzes hat und eine im wahrsten Sinne des Wortes „Behausung“ sein soll. Nicht Spektakel und Repräsentation, sondern architektonische Grundfragen und Fragen der Konstruktion sind mit der notwendigen Präzision, aber nicht aufwendiger als nötig, mit jedem Bau erneut zu lösen.
Mit „Sticks and Stones“ fokussiert Chipperfield auf ein besonderes architektonisches Grundelement: die Stütze. Wie das Gebäude selbst muss die Stütze auf sicherem Boden stehen, um in die Höhe ragend das Dach tragen zu können, ohne das ein Haus keinen sicheren Schutzraum bilden würde. Überhaupt würden ohne sicheren Boden und gute Stütze keine Gebäude gebaut werden können. Die Schwere, die Traglast der architektonischen „Aufrichtung“ muss ja in den Boden abgeleitet werden können; weshalb in dem weichen, meist sandigen Boden Berlins häufig noch umgekehrte Stützen, sprich Pfähle in den Boden gerammt werden müssen.
Der Bau der Neuen Nationalgalerie ist eine weltweit bewunderte Architektur-Ikone der Moderne und versetzt immer wieder erneut in Staunen. Aus einem besonderen Grund: Mies van der Rohe hat für diesen Bau eine radikale Stützenkonstruktion gefunden. Das große Dach des Gebäudes wird  – es ist fast unglaublich – von nur acht Stützen an der Außenkante des Daches getragen. Im Innenraum der oberen Halle konnte Mies daher völlig auf Stützen verzichten (nicht natürlich auf die beiden Haustechnikschächte). Das zu schweben scheinende Dach und die Offenheit und Leere der Halle schaffen ein Raumerlebnis, das das Obergeschoss der Neuen Nationalgalerie zu einem ungewöhnlichen architektonischen Ort macht.
Manche Künstler haben es sich nicht nehmen lassen, ­diesem Raumerlebnis mit speziellen Kunstwerken zu huldigen. Aber nur wenigen ist die Hommage gelungen. Panamarenko stellte ein einzelnes seiner von ihm gebastelten Einpersonen-Flugzeuge in die Halle. Jenny Holzer machte die Decke der Halle zur imposanten Schalt- und Schautafel einer fortlaufenden Textbotschaft. Ulrich Rückriem entwickelte eine skulpturale Bodenarbeit, die sich mit Material und Masse subtil in die Halle einschmiegte.
David Chipperfield tritt nun mit dem besonderen konstruktiven Stützenentwurf des Mies-Baues in einen Dialog. Er hat 144 frisch geschlagene und entrindete Baumstämme in die Halle gestellt. Die Baumstämme sind Bodenmuster und Deckenrasterung folgend in einem streng geometrischen Muster angeordnet. Es sind, bewusst gewählt oder aus glücklichem Zufall, 100-jährige Fichten, die damit genau doppelt so alt wie der Bau selbst sind. Eine Intervention, die simpel anmutet. Das Hineinstellen der vielen Bäume schafft aber ein anregendes Vexierbild, das durch Befragen und Bespielen der Mies’schen Konstruktion die architektonischen wie geistigen Dimensionen des Baues und generell von Architektur aufleuchten lässt.
Gegen die moderne Stahlkonstruktion des offenen Hallenraumes dort wird hier eine dicht gestellte Säulenhalle aus Naturmaterial gesetzt. Oder sind die Baumstämme billiges Baumaterial? Möglicherweise schon als Stützen für die zukünftigen Renovierungsarbeiten eingestellt? Auf den ersten Blick tun die Baumstämme so, als ob sie stützen würden. Aber realiter sind sie unten bloß leicht verkeilt und oben mit Bolzen in Schraubhülsen eingehängt, damit die Baumstämme senkrecht stehen und nicht kippen können. Eine einfache Absicherung. Etwas anderes konnte Chipperfield auch gar nicht machen. Denn er konnte selbstverständlich keine Kraftschlüssigkeit herstellen und die Bäume zwischen Boden und Dach einklemmen. Das hätte die Lastabtragung in dem bestehenden Bau verändert und möglicherweise vor der Renovierung noch zu weiteren Schäden geführt. Auch dies ist ein anregendes Moment des Chipperfieldschen Vexierbildes: die Bäume in der Maskerade der Stütze.
Von der unwirklichen Baumstütze geht der Blick wie selbstverständlich in den Außenbereich des Gebäudes hinaus auf die wirklichen Stützen. Falls die tragenden Außenstützen einknicken würden, könnte das Dach dann durch die Bäume aufgefangen werden, weil sie sofort zu Notstützen mutieren würden. An der starken, verdichteten Vertikalität der Baumstämme gleitet der Blick hinauf zum Dach, das eine große, 65 mal 65 Meter messende horizontale Fläche bildet. Auch hier hat Mies keine konstruktive Mühe gescheut. Denn bei dem Dach handelt es sich um einen Trägerrost, bei dem die gleich hohen Quer- und Längsträger nicht wie gewöhnlich übereinanderliegen, sondern ineinandergreifend in einer Ebene verschweißt sind. Durch diese aufwendige Konstruktion konnte ein Dach entstehen, das eine außergewöhnlich flache, weil durchgehende Fläche bildet. Stützenfreiheit, Größe des Raumes und richtungslose Flächigkeit des Daches bestimmen das freie Raumerlebnis.
Von der Verwunderung über den theatralisch anmutenden Stützenwald wird man von Chipperfield mit leichter Hand auf das Faszinosum der architektonischen Konstruktion dieses Baues geleitet. Man wird zu Assoziationen und konstruktiven Gedankenspielen angeregt, die tief in das architektonische Denken hinein führen. Chipperfield inszeniert mit extrem reduzierten Mitteln ein Zwiegespräch, das Hommage, Konterkarierung, Reflexion und Spiel zugleich ist.
Über die zukünftigen Renovierungsarbeiten wurde auf der Pressekonferenz nicht im Detail gesprochen. Genaueren Aufschluss wird eine Fachkonferenz Ende November in der Neuen Nationalgalerie geben. Aber man darf schon gespannt sein, ob die für die Generalsanierung notwendige Dekonstruktion des Gebäudes auch so spektakulär wird, wie damals die Aufrichtung des Daches. Wahrscheinlich kann es kaum aufregender werden als am 5. April 1967, als mit acht hydraulischen Pressen das Dach vom Boden aus nach oben gepresst wurde. Die acht Stützen, die wir heute so bewundern, hingen frei schwingend am Dach, klappten unter dieses und setzten dann mit eleganter Bewegung auf.

David Chipperfield „Sticks and Stones, eine Intervention“,
Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin
2. 10. 2014 – 31. 12. 2014
Rohbau der Neuen Nationalgalerie 1965: Anhebung des Daches