Anonymer Künstler, 47, analysiert seine Situation

2014:Dez // Einer von hundert

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12-2014

Die Arbeit
Geht auf jeden Fall noch voran. Hat vielleicht minimal an Dynamik verloren. Neue Ideen kommen nicht mehr ganz so schnell daher. Aber dafür ist eine Substanz vorhanden, die Werk heißt. Das lässt mich ruhiger agieren.

Das Werk
Nimmt mir keiner mehr weg. Auch wenn ich jetzt sofort den Hammer fallen lasse.
Wer hätte das gedacht. Aus dem ganzen Gewurschtel und Gesuche und Rumgeeiere hat sich durch Hartnäckigkeit tatsächlich ein stabiles Werk entwickelt.

Die Ziele
Ändern sich interessanterweise gar nicht so großartig im Laufe des Lebens. Unabhängigkeit ist immer noch das größte davon. Besonders im Lichte des täglichen Kampfes ums Geld betrachtet ein wirklich lohnenswertes Ziel.

Die Perspektive
Erscheint mir aus heutiger Sicht gar nicht so schlecht zu sein. Weltstar werde ich nicht mehr, aber verschwinden werde ich auch nicht mehr. Dazwischen ist noch so einiges möglich.

Der Kunstmarkt
Ist die Hölle für Künstler und ein beschämendes Ereignis insgesamt, ganz egal, ob man da erfolgreich ist oder nicht. Wer was anderes behauptet ist ein Arschloch und gehört verprügelt.

Die Familie
Kann ich mich überhaupt noch in die Situation desjenigen hineinversetzen, der keine Familie hat? Kann ich definitiv nicht. Familie ändert alles bis ins allerkleinste Zipfelchen. Zeit, Liebe, Struktur, Ziele, alles.

Die Freunde
Sieht man leider immer weniger, weil alle im Alltag feststecken. Ist aber auch ok so. Mehr werden es auch wahrscheinlich ab jetzt nicht mehr. Eher weniger.

Der Körper
Altert der Körper eines Künstlers anders als andere? Nein, leider nicht. Weiches wird weicher und Muskeln spürt man nur, wenn sie verspannt sind. Sport ist die einzige Rettung. Ich möchte gar nicht wissen, wie es sich in 20 Jahren anfühlt.

Das Selbstbild
Erscheint mit jedem weiteren Jahr in etwas milderem Licht. Ohne Selbstzweifel wird auch der Rest nicht abgehen, die werden erst mit dem Eintreten des eigenen Todes enden.

Die Weisheit
Kleine miese Lüftchen blasen micht nicht mehr um. Da muss schon der große Sturm her. Weisheit ist aber nicht mit Zufriedenheit zu verwechseln. Oder ist der Weise auch immer der Zufriedene? So weit bin ich leider noch nicht.

Der Neid
Der Neid ist eigentlich weg und nimmt mit fortschreitendem Alter auch immer weiter ab. Ich freue mich grundsätzlich mit jedem, der Erfolg hat. Ist ja auch hart genug. Wer seinen Neid nicht in den Griff bekommt, hat ein ernsthaftes Problem. Denn das macht krank.

Die Radikalität
Ist natürlich eine schwierige Frage. Der Jüngere ist auf jeden Fall radikaler, aber ist er auch immer besser? Ich war jedenfalls um Längen schlechter als ich jünger war. Die ruhige Hand kann auch radikal sein.

Die Zufriedenheit
Ich habe gelesen, dass die Menschen zwischen 45 und 55 am unglücklichsten sind. Auch mit Familie oder gerade deswegen. Danach setzt aber wohl die große Freiheit ein. Weniger finanzielle Belastung, weniger Druck, weniger verbleibende Zeit.

Die Sicherheit
Mit jedem Tag, an dem ich älter werde, sinkt die Wahrscheinlichkeit der völligen Verarmung um genau einen Tag. Deswegen mag im Alter die Intensität des Armutsrisikos wachsen, dessen Länge verkürzt sich aber stetig.

Die Entspanntheit
Ist definitiv etwas, was ich nicht kenne. Oder nur unter Drogen oder härtester Endorphinausschüttung nach sportlicher Verausgabung. Bleibt ein unerreichbares Ziel. Und ist vielleicht auch langweilig.

Die Vergangenheit
Das Feuer brannte lichterloh, das Leben war ein Rausch und alles war rosarot. Ich hatte permanent gute Ideen, habe ständig gefeiert und hatte anschließend auch noch tollen Sex. Ist natürlich gelogen. Oder doch nicht?

Die Zukunft
Zu meiner Zukunft äußere ich mich frühestens, wenn sie Vergangenheit ist.