Hey Alter

2014:Dez // Gerhard Rohde

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12-2014

Wer jetzt noch lebt,
hat sich auch
bisher nicht
tot gemacht.



Wäre ich ein Mann mittleren Alters müsste ich 116 werden. Das erscheint mir mit meinen 58 Jahren doch ein wenig sehr optimistisch. Ich scheine also älter zu sein als meine Mitte. Es gab Anzeichen dafür, die ich aber offensichtlich ignoriert habe:

Rüstige Rentner überholen mich locker mit ihren E-Bikes.

Man bietet mir zusehends Präparate mit Risiken und ­Nebenwirkungen an.

Mein Konto weist Buchungen für Zuzahlungen und Nachzahlungen auf.

Das eine Knie knirscht, ein Zahn wird überkront, ich bin auch mal schneller müde.

Kurz: Alles nicht so weltbewegend als dass mein unmittel­bares Ableben anstehen müsste.

Innerhalb kurzer Zeit sterben dann zwei gute, alte Freunde, mit denen ich alt werden wollte, dann meine Mutter.

Natürlich weiß man es vorher auch schon, aber jetzt empfinde ich mein Leben tatsächlich als endlich, der Verlust ist sehr groß, man hat nur eine Mutter und Freunde wachsen nicht einfach so nach, wie gesagt: eigentlich Basiswissen.

Wenn ich davon erzähle oder rumfrage, höre ich, dass es ­vielen in meinem Alter ähnlich geht oder sie diese Erfahrung teilweise schon vor etlichen Jahren gemacht haben: So viele Krebs, Herz- und Hirninfarkte, Unfälle, Tode. Und man trifft sich auf Beerdigungen, nicht auf Partys.

Die andere Seite des Lebens, auch meines Lebens.

Gleichzeitig entfaltet es sich für mich in seiner Komplexität, seiner Schönheit, seinen Abgründen. Was bleibt?

Ich konnte mich geliebt und angenommen fühlen. Meine Mutter war immer da, mit meiner ersten Freundin habe ich lange zusammen gelebt, mit meiner Frau dann 14 Jahre. Das trägt mich, trotz aller Widersprüche, und bleibt.

So viele Prägungen, soviel Schönes, Unbeschwertheit, die Dinge liefen von selbst, die Zeit war entsprechend.

„Meine Frau hat mich vor 9 Jahren verlassen, weil ich bin, wie ich bin.“ Manchmal verstehe ich das, dann will ich es wieder nicht wahrhaben. Sie ist meine große Liebe, sie hat eine schöne Seele, ich liebe ihr Sein und ihr Wesen, ich habe viel von ihr gelernt, anscheinend nicht alles, um zusammen alt zu werden.

Offiziell habe ich eine gebrochene Erwerbsbiographie, das weiß ich aber so richtig erst jetzt. Vorher war es einfach nur meine Realität, erst spät den ersten festen Job zu bekommen, der mir krankheitsbedingt wenigstens eine kleine Erwerbsminderungsrente erbracht hat.

Davor gab es Projekte, BAFÖG, kleine Veröffentlichungen, ALG, ALH I, Radiosendungen über Worldmusic, Kontakte zu Rockstars und Senatsmenschen, ein bunter Mix an Aktivitäten, die wenig Geld einbrachten, aber mir ermöglichten mich auszudrücken.

Es gab viele wie mich, in Berlin und anderswo, wir blieben lange jung, alterslos, amüsierten uns.

Diese Zeit gibt es so nicht mehr, die Welt hat sich gedreht, ich nehme es wahr und halte doch an vielem davon fest, weil es mein Leben war und ist.

Die Welt sieht nicht nach einem geruhsamen Lebensabend aus, viel Veränderung, viel Stress, vieles so anders.

Ich suche die Nähe Gleichgesinnter, mal mit Erfolg, mal mit Enttäuschungen… und der Tod ist präsenter geworden.

Nicht altwerden und altbleiben, sondern altwerden und bleiben, so ist es bis auf weiteres.