Tagebuch

2014:Dez // Einer von hundert

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12-2014

Einer von hundert
/ Tagebuch aus dem Berliner Spätsommer und Herbst

8. August, unterwegs
Ich bin zwei Tage nacheinander in kommunalen Galerien: erst im Projektraum der alten Feuerwache, dann im Haus am Kleistpark. Ist erstere eine Ausstellung, die speziell für den Ort entstanden ist und Bezug nimmt auf die sozialistische geprägte Umgebung, ist zweitere eine historische Gruppenausstellung zu Ehren der Künstlergalerie Großgörschen 35. Sie ist Zeugnis einer Künstlergruppe und Selbsthilfegalerie und gibt zugleich Einblick in das spezifische West-Berlin der 70er Jahre bis zur Wende.

12. August, Zimmerstraße
Ein weiterer Doppelschlag: Auf dem Weg in den Martin-Gropius Bau komme ich an der daadgalerie vorbei und erinnere mich, dass es dort eine Ausstellung von Sheela Gowda gibt, die mich mit ihrer sinnlich wie politischen Arbeit bei der documenta 12 sehr beeindruckt hat. Auch hier wird der Raum großzügig vermessen, gibt es eine angenehme Mischung aus Materialität/Oberflächlichkeit und weiterführenden Fährten und Bezügen.
Im MGB ist die Bowie-Ausstellung überfüllt und wir gucken uns die Sammlung von Albert Kahn an. Was für eine gute Alternative! Gezeigt werden Farbfotografien der Welt um 1914, die Kahn als Friedensmission und ethnologisches Foto- und Filmprojekt in Auftrag gegeben hatte. Das „Archive de la planète“ fasziniert technisch und thematisch. Auch wenn die Porträts nicht frei von Inszenierungen sind, kann man sich an den traditionellen Gewändern, den Gesichtern und Stadtszenen nicht satt sehen. Die Fotografen haben jedoch etwas unterschiedliche Schwerpunkte. Mal gibt es vor allem Kirchen und Landschaften zu sehen, dann wiederum Straßenszenen, Flüchtlinge, einen Gefangenen, Menschen bei der Arbeit.
Dazu aber zum Teil schwierige Texte, weil sehr interpretierend. Kein roter Faden, was die Inhalte betrifft, manchmal aber sehr informativ. Wo kommen die Texte her?
Was mir generell auffällt, ist die Tatsache, dass es hier zunächst um die Fotografietechnik geht – weniger um das ethnologische Projekt, als darum, wie die Farbfotografie entwickelt wurde und wie diese funktioniert. Gab es jemals eine Malereiausstellung, in der die Malereitechnik erklärt wurde?
Im Anschluss findet sich eine Vermittlungsabteilung mit Computerspiel, Büchern zum Blättern, Fotoschießmöglichkeit und Regalwand. Es sieht alles etwas zusammengestückelt aus, aber viele Leute nehmen die Angebote an.

18. August, vor der Nationalgalerie und Unter den Linden
Während der Woche bei der Nationalgalerie vorbeigefahren aber vor verschlossenen Türen gestanden, weil die Piene-Präsentation nur zwischen 22 und 3 Uhr nachts angeboten wird. Das ist ja eigentlich schön, diese Erweiterung der Öffnungszeiten, mal was andres halt, aber ich komme nicht umhin, an die armen MitarbeiterInnen zu denken und weiß, dass ich es um diese Zeit wohl nicht in diese verlassene Ecke schaffen werde.
Am Sonntag dann aber zu Piene in die Deutsche-Bank-Kunsthalle oder wie die jetzt heißt. Etwas enttäuscht, obwohl doch eigentlich viel zu sehen war. Aber eher Dokumentationen als konkrete Werke. Dabei war der Lichtraum doch sehr schön! Bleibe aber trotzdem merkwürdig außen vor, weil seine projektbezogene Arbeitsweise sich so schlecht vermitteln lässt? Weil es kaum Infos zu seiner Arbeitsweise gibt? Zu seiner Biografie? Warum diese Beschränkung auf das Frühwerk? Oder werde ich dieser Ausstellungskooperation nicht gerecht, weil ich bei keiner Veranstaltung teilnehme und mir damit das Beste entgeht?

20. August, zu Hause
Der Moment, in dem ich die Ankündigung zu diesem Heft bekam, war besonders – schon weil ich die Ankündigung kaum öffnen konnte, da eine mysteriöse Virusinfektion mein Muskelsystem komplett lahmgelegt hatte: so lahm, dass ich kaum die essenzielle Bewegung des modernen Menschen ausführen konnte: eine Taste drücken. Aber auch alle anderen Tätigkeiten, zu denen man Muskelkraft braucht, waren plötzlich unmöglich: einen Topf halten oder die Zahnpastatube ausdrücken, den Handyknopf drücken oder sogar das ­Schreiben funktionierte plötzlich nicht mehr. Es war, als wäre ich mit einem Schlag in die 90-something-Welt befördert worden … von wegen 45 oder 50, von denen in der Ankündigung des Heftes die Rede war – Gerontokratie! Ich hatte es plötzlich mit dem Diktat des Alters zu tun. Nicht nur physisch, sondern auch mental. Denn auch die psychischen Vermögen bewegten sich plötzlich nah bei den physischen – ich googelte plötzlich „Rheuma“ und „Gicht“ und keine Künstlernamen mehr. Ich ging zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder zum Arzt. Die Ärztin, die in der Stadt, in der ich jetzt wohne, auch die halbe Kunstakademie behandelt, meinte, es sei eine Virusinfektion. Also googelte ich Virusinfektion. In den kommenden Tagen war ich von Abstiegsängsten und Vergleichsterror geplagt. Ich googelte Konkurrenten und deren glamouröse Veranstaltungen und stellte fest, dass mein vorletztes Buch plötzlich nicht mehr bei amazon lieferbar war. Ich stellte fest, bei welchen Konferenzen, Buch- und Forschungsprojekten ich alles nicht mit dabei war und schaute mir Videos von den Teilnehmern an. Mir ging es schlechter und schlechter. Sollte das etwa das Alter sein, Alter?

28. August, Halle im Berghain
Schon im Eingang wird markiert, dass es sich nicht um eine „normale“ Ausstellung handelt, denn es steht ein Türsteher herum und an der Kasse ist man vom Presseausweis völlig unbeeindruckt. An der Irritation darüber, dass es nur einen Stempel gibt, den ich leider nicht von der Steuer absetzen kann, merke ich meine Verspießerung, und dass hier etwas andere Regeln gelten. Coolness zum Beispiel. So unbeteiligte Aufseher, die mit Kopfhörern abgeschottet sich die ganze Zeit ihrem Telefon zuwenden, habe ich ja noch nie gesehen. Lässig!
Trotzdem ist die Ausstellung ziemlich gut gemacht. Es handelt sich nicht um eine dahingerotzte „Wir-machen-jetzt-auch-auf-Kunst“-Ausstellung, sondern eine gute ausgewählte und auf den Raum und den Ort bezogene Geschichte. Die thematisch, aber auch räumlich aufgeht. Weil es mehrere großformatige Arbeiten gibt, wie die Installation von Viron Erol Vert oder den Tanzteppich von Norbert Bisky, der zudem Assoziationen an losgelöste, tanzende Massen weckt. Oder das Video von Piotr Nathan, dessen Sound die Geräuschkulisse zur Ausstellung bildet.
Angenehm die Mischung aus aufdringlichen und dezenten Arbeiten wie die zwei Fotografien von Friederike von Rauch, die man erst kaum erkennt, weil sie sich so gut an die Wand anpassen. Ihre großformatige Vergrößerung einer Plane, die auf dem Boden des Berghains auslag, ist eine typische Referenz an das Berghain, ähnlich dem Leuchtkasten „Hero’s Journey (Lamp)“ von Sarah Schönfeld, für den sie Urin von Benutzern gesammelt hat und nun ausleuchtet.
Aus Sven Marquardts Fotoplakaten, die direkt auf die raue Wand geklebt sind, spricht das Selbstbild des Hausherrn himself: top gestylte, kräftige, hotte Kerle, grimmig guckend.

18. September, KunstWerke
Hier stimmt jedes Wort. Selten, bei einem Pressetext. Ach Bilder, magisch ziehen sie Worte an. „Site Visit“, eine Ausstellung von Ryan Trecartin und Lizzie Fitch in den KunstWerken. Im Text stimmen alle Verweise auf Internet-Selfie-Drohnen-Video-Youtube-Game-Life–Reality-Show-Camps und Camp-Style-Ästhetiken. In „Site Visit“ ist wirklich alles drin, unaufgelöst durch jedwede Erklärungsmodelle. Hier herrscht das Spielprinzip. Auf den vier großformatigen Videowänden wird spontan zusammengeschmissen, was den Performern vor Ort einfällt, verklammert durch den Drehort, ein ehemaliges Hotel der Freimaurerloge und das feste Team. „Draußen“ kommt hier nur in Form von digital animierter Natur vor, selbst gezeltet wird drinnen im Foyer des Hotels. Es ist die bewährte Kulturtechnik des alles Zusammenschmeißens, solange man nicht weiß, was man will. Um sich vom kreierten Hier aus zu entwickeln. In Berlin passiert das viel zu wenig, vielleicht sogar überhaupt nicht. Lizzie und Ryan kreieren Zwitter, irgendwo zwischen einem Tech-Nick, Ariel Pink und Conchita Wurst. Dazu gibt es Musik zwischen digitalen Störgeräuschen, Shlohmo und Sun Araw, Cameron Stallones alias Sun Araw, ist übrigens knapp zweieinhalb Autostunden entfernt von Lizzies Geburtsort aufgewachsen. Ansonsten ist die Installation bürgerlich-ironischer L.A.-Trash der Nach-Kelley-Rhoades-Ära vom Feinsten, welche vermutlich auch schon keinen Spaß am Sex hatten. Und wieder zeigt sich L.A. als wichtiger Knotenpunkt im kulturellen Nervennetz des Weltbürgertums. Das liebt bekanntlich das Falsche, und weil es an das Echte schon lange nicht mehr glaubt, hofft es, es einmal besitzen zu können. Nur der olfaktorische Faktor der KW-Ausstellung stimmt leider nicht. Vorbildlich diesbezüglich, Kai Althoff, unser einziger L.A.-Trasher (Bock und Meese sind zu deutsch). Wir erinnern uns, auch Althoff-Braun ähnlich ätzend, an die Berlin Biennale 2006, doch wurde bei deren Installation bewusst das Anti-Todesangst-Testosteron-Spray, wie es in Mastbetrieben verwendet wird, eingesetzt. Teppichbodenausdunstungen sind einfach nur eklig. Ansonsten öffnen„Site Visit“ einem wieder die Poren für das, was Film ist und wie Kritik heute aussehen kann. Versteht man unter Kritik, sich nicht dermaßen, also von den oben genannten Ästhetiken und den damit einhergehenden Behauptungen beherrschen lassen zu wollen. Auch die besonnenen Antworten Ryans im Monopol-Interview sind lesenswert. Hier stimmt also einmal alles und dem Pressetext ist nichts hinzuzufügen. Nach einiger Zeit stellte sich mir die Frage, ob es einen qualitativen Unterschied von Überforderung gibt. Im Vergleich zwischen „Site Visit“, Polleschs Theater-Texten und Godard-Filmen. Denn schließlich sind wir das, was übrig bleibt nach einer Überforderung, sowie das, was an unverstandenen Resten in uns weiter lebt.
Ach ja, als Standbilder, also auch als Filmstills, funktionieren die Bilder überhaupt nicht, wirken eher lächerlich.

21. September, abc-Messe
Eigentlich gehe ich da von Jahr zu Jahr lieber hin, echt! Nirgendwo kann man so komprimiert dem Kunstbetrieb einen Besuch abstatten, zeigen, dass man auch noch lebt, mit diesem oder jenem quatschen, mit Georg Kargl aus Wien zum Beispiel, treuestem Berliner Messeteilnehmer und das schon seit dem Art Forum, bei dem er ausgerechnet im Boykottjahr 2003 das erste Mal teilnahm. Dem Jahr, als fast alle großen Berliner Galerien nicht teilnahmen, das zeugt von Kargls Unabhängigkeit und deshalb macht es auch Spaß, sich mit ihm zu unterhalten. Man tauscht sich über die unterschiedliche Arschlochigkeit von unterschiedlichen Leuten aus …

21. September, abc-Messe
Der beste Tag für einen abc-Besuch ist natürlich nicht die Eröffnung, sondern der Sonntag, der letzte Tag. Man schlendert völlig entspannt und muss nicht alle ein Meter fünfzig stoppen. Bei der Eröffnung wären mir bestimmt nicht die Horror-Bilder von Eder aufgefallen. Abgepinselter Neo-Gothic, der bei jedem UdK-Rundgang auch irgendwo hängt und genauso riecht.
Genauso erscheinen die Bilder von Jonathan Meese bei Krinzinger als wirklich letzter Abklatsch seiner selbst. Da hängen sie wie Lappen, so ausgewrungen, dass das letzte Tröpfchen Interesse längst im schönen Spätsommernachmittag weggetrocknet ist.

27. November, Hackbarth’s
Wie zwei bis drei andere Male am Tag wieder im Hackbarth’s, schwarzer Kaffee und Zigarette, draußen, blauer Himmel, kalt, schön.
Denke an letztes Frühjahr und Peter Lang, der hier oft saß und einen mit „Mein Lieber …“ begrüßte. Ich sprach ihn wie immer auf einen Text für von hundert an, den er mir seit Jahren versprach, irgendeinen. Er schrieb auch zwei Mal, aber lange her. „Du musst mich noch stärker unter Druck setzen, dann klappt das schon, ich hab auch schon ein, zwei Ideen …“ Dann gab er einem ein, zwei Karten seiner aktuellen Ausstellungsprojekte und man verabschiedete sich. Der Text wird nicht mehr kommen, Peter verabschiedete sich für immer. Er fehlt. Schade, dass wir nicht gemeinsam in den kalten November schauen können. Ein letzter Gruß von Esther Ernst auf Seite 46 – eine Besprechung seiner Jules-Vernes-Ausstellung, da lebte er noch.
Sheela Gowda, Ausstellungsansicht daadgalerie
Viron Erol Vert, Ausstellungsansicht Berghain
Ryan Trecartin, Ausschnitt aus „Animation Companion“ (2014), Fotostory, veröffentlicht in Modern Weekly, Guangzhou. Courtesy der Künstler; Andrea Rosen Gallery New York; Regen Projects Los Angeles; und Sprüth Magers Berlin London.
Peter Lang, Foto von der Website des Künstlerhauses Bethanien