Apokalypseblindheit

Ein Gespräch

2015:Mai // Raimar Stange und Andreas Koch

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05-2015

Andreas Koch  /    Gerade, als wir uns auf der Straße trafen, meintest du, dass wir heutzutage in einer Gesellschaft leben würden, die so wenig Angst hätte wie nie zuvor. Kannst du mir das erklären? Zumal ich gerade den gegenteiligen Eindruck habe, nämlich dass immer mehr Leute von einem diffusen Angstgefühl befallen sind. Klar, konkrete Gefahren werden medial hochgepeitscht, aber nach ein paar Tagen geht’s weiter. Fukushima, Ebola, Charlie Hebdo, alles angeschaut kurz Angst bekommen und wieder verdrängt. Meiner Meinung nach lagert sich aber eine immer größer werdende Angstsedimentschicht in uns ab, diffuse Reste des Verdrängten.
Raimar Stange  /    Klar haben die Menschen Angst, ich spreche von unserer Ersten-Welt-Angst: vorm Zahnarzt, vor Jobverlust, vor einer zu langsamen Internetverbindung, vor Übergewicht, vor dem Tod … Aber sie haben keine Angst vor den großen Katastrophen wie dem Klimawandel. Da gilt schon, was Günther Anders angesichts des atomaren Wettrüstens in den Sechzigerjahren formuliert hat: „Apokalypseblindheit“ ist die vorherrschende Stimmung. Und dieser Zustand wird im Interesse der Global Player in unserer „Event-Kultur“ von den ihnen gehörenden Medienkonzernen gezielt weiter vorangetrieben. Gleichzeitig, siehe Naomi Klein und ihr Begriff der „Schock-Doktrin“, werden Ängste geschürt, z.B. vor Überfremdung und Terrorgefahr, die dann von den tatsächlichen Problemen ablenken.
Koch  /    Irgendwie nachvollziehbar, aber natürlich auch wieder nicht. Vielleicht wird die Apokalypse genauso verdrängt wie der eigene Tod. Egoistisch weitermachen und nach mir die Sintflut, jetzt sogar wörtlich. War das in den Siebzigerjahren nicht anders? Ich erinnere mich an das Waldsterben und die Bewegung dagegen. Genauso an die atomare Bedrohung und den Protest gegen die Wiederaufrüstung. Ich träume manchmal immer noch davon, dass die Atombombe einschlägt, da bin ich geprägt von meinen Kindheitsängsten. Aber nochmals: Waren die siebziger und achtziger Jahre ernsthafter und hat vielleicht das ausbleibende großflächige Waldsterben dazu geführt, dass man heute die Sache nicht mehr ernst genug nimmt?
Stange  /    Schwierige Frage, aber ich glaube tatsächlich, diese Jahre waren „ernsthafter“, es hat ja auch sehr viel heftigere Proteste gegen die Umweltkatastrophe gegeben als heute, wo z. B. umweltzerstörende SUVs fröhliche Konjunktur haben und kaum in der Kritik stehen. Es hat vielleicht auch damit zu tun, dass von der „anti-autoritären Erziehung“ am Ende vor allem ihre neoliberalen Qualitäten übriggeblieben sind: Keine Grenzen zu kennen und nur die eigenen Regeln zu akzeptieren – das ist da der gemeinsame Nenner. Und der führt zu angepassten „nützlichen Idioten“, die willfährig bei der neoliberalen Globalisierung mitmachen. Und wer da Karriere machen will, der hat erstmal keine Zeit für Angst oder so.
Koch  /    Vielleicht könnte man unsere Zeit tatsächlich eine postapokalyptische Zeit nennen, und dieses Post ähnlich verwenden, wie bei der aktuell gängigen Definition von Post-Internet-Kunst, wo „Post“ kein Nach-dem-Internet bedeutet, sondern die Selbstverständlichkeit dessen Existenz bezeichnet. Genauso haben wir den Untergang der Welt schon soweit verinnerlicht, dass wir nichts mehr dagegen tun, geschweige denn darüber nachdenken. Wir riechen den Weltuntergang nicht, wir schmecken ihn nicht, also lass ich mir meine Sushi-to-go schmecken und fahr mit meinem Familienvan nach Brandenburg ins Landhäuschen. Dieser Selbstbetrug müsste eigentlich spätestens dann aufhören, wenn wir auf dem Rücksitz unseren eben gerade vom Aikido-Kurs abgeholten Nachwuchs anschauen, den wir mit all unseren Möglichkeiten für ein zukünftiges Berufsleben trimmen. Dass das dann aus anderen Gründen ausfallen könnte, verdrängen wir …
Wie sieht es denn in der Kunstszene bei deinen Kollegen, Freunden und Bekannten aus. Siehst du da mehr Angst als in den letzten Jahren? Persönliche Ängste, Existenzängste, Weltuntergangsängste? Und äußern sich diese gegebenenfalls auch in den Arbeiten.
Stange  /    Das kann man natürlich nicht verallgemeinern: So gibt es unter den Künstler_Innen selbstverständlich kritische und verängstigte Menschen, Gott sei Dank! Mehrheitlich gibt es aber die, die im neoliberalen Marktgeschisse mitmachen und z. B. die inzwischen täglich weltweit stattfindenden Kunstmessen mit Frischware beliefern. Ein Trauer­spiel!
Foto: Raimar Stange