Auf einmal haben alle Angst

2015:Mai // Gerhard Rohde

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05-2015

Die einen haben als ständigen Begleiter eine Frau oder einen Mann, wahlweise einen Hund, in der Literatur schon mal eine Riesenschlange: Mein ständiger Begleiter ist die Angst. Nicht etwa die Angst vor Spinnen, meinen Mitmenschen, dem Fahrstuhlfahren oder was andere so haben. Da könnte ich mir eine Fliegenklatsche zur Spinnenklatsche umbauen, gezielt auf meine Mitmenschen zugehen, den Eiffelturm rauf- und runterdüsen oder so. Kurz: Ich könnte etwas machen, aktiv werden, meine Angst anpacken und durchschütteln, ihr etwas entgegensetzen und sei es die genannte Spinnenklatsche.
Meine Angst ist anders, sie ist generalisiert, diagnostizieren die Ärzte mehr oder minder vorsichtig, denn wer will schon gerne behaupten, dass Generäle Angst haben. Nein, ihre Aufgaben liegen im weiteren Sinne zum Beispiel in Afghanistan, beim IS, der Terrorismusbekämpfung, Kämpfe mit dem demografischen Wandel, Finanzkrisen, Umweltproblemen, der wachsenden Weltbevölkerung und ähnlichem. Aber Angst? Wir doch nicht, Daumen hoch! Lieber nicht darüber nachdenken, dass die Mächtigen dieser Welt Angst haben oder aus Angst handeln und die Welt durcheinander bringen.
Ich hingegen kämpfe des öfteren mit Dingen und Situationen wie: Soll ich jetzt aufstehen und die Zähne putzen oder fällt mir dabei die Zahnpasta auf den Boden oder der Himmel auf den Kopf? Kommt der Bus oder fahren überhaupt noch Busse? Verhungere ich morgen im Supermarkt? Schaffe ich es meine Hose zu reinigen, wenn ich sie mit Ei bekleckere? Verliere ich meine Wohnung? Was ist das für ein Pickel auf meinem Rücken? Seit geraumer Zeit kann bei mir fast alles Angstgefühle auslösen, alles! Unberechenbar, tückisch, besonders beliebt, wenn man sich mal angenehm gut gefühlt hat, was auch noch genug vorkommt.
Ich habe nicht die Krankheit Angst, sondern ich habe eine Angstpersönlichkeit, einen Angstcharakter. Und jetzt, mit Ende fünfzig, steht das so klar vor mir, prägt mich, ist da. Ich habe meinen Teil der Welt erobert, tief empfunden geliebt, dem Leben den einen oder anderen leichtfertigen Streich gespielt.
Nein, Dank habe ich dafür nicht erwartet, das wäre wohl ein bisschen vermessen angesichts der Probleme der Welt.
Aber etwas anderes als diese ach so präsente Angst hätte ich denn doch entschieden lieber. Ich kann und konnte es mir wohl nicht aussuchen, sonst hätte ich es getan, denn vieles erscheint mir lebbarer als diese Angst, die lähmt, Lebensfreude verschluckt, nicht daran denkt zu verschwinden. Da hilft oft auch kein Pinsel, kein Stift, keine Maus oder sonst ein künstlerisches Werkzeug.
Die Angst ist in mir wie mein kriegsgeschädigter Vater, meine hausfrauenängstliche Mutter, meine Frau, die weg ist, der Stress im Beruf, die labile geopolitische Weltlage, zuviel Freiheit, Verarmung, Job- und Wohnungsverlust, Krankheiten.
Es gibt genug realistischen Nährboden für meine Angst. Aber wie das alles zusammenhängt, ob es einen Zusammenhang gibt oder ich meine Angst mit der Muttermilch und dem Vatersamen einfach als Auftrag mitbekommen habe, die nächste Generation zu sein, das Leben der Menschheit einfach weiterzuführen: Ich weiß es nicht, darf dafür aber täglich mit meiner Angst leben. Toll!
Es gibt schöne Momente in meinem Leben. Manchmal nenne ich sie sogar angstfrei. Aber ich weiß, dass sie da ist, Big Angst is watching you!!! Ich versuche, trotz dieser permanenten Reizung ruhig zu bleiben, meinen Mitmenschen und der Welt im allgemeinen freundlich und interessiert zu begegnen. Allerdings: Wenn ich meinem ständigen Begleiter nachts im Wald begegnen würde und ich hätte eine Waffe, ich würde abdrücken.
Verwendung von Gustave Courbets Selbstporträt „Der Verzweifelte“ (1843–1845)