Die Welt der Realität im Pseudosystem: Facebook und Konsorten

2015:Mai // Joachim Blank

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05-2015

Anmerkungen zur zunehmenden Homogenisierung von individuellen und kollektiven Erkenntnisprozessen

Alle seine Vorstellungen und Begriffe sind bloß seine Geschöpfe, der Mensch denkt mit seinem Verstand ursprünglich, und er schafft sich also seine Welt. (Immanuel Kant, 1781)

Die Welt als Wille und Vorstellung

(Arthur Schopenhauer, 1819)


Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt,
in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.

(Niklas Luhmann, 1996)



Bevor Imanuel Kant sein Hauptwerk „Kritik der reinen Vernunft“ veröffentlichte, unterschied er zwischen der sinnlichen Erkenntnis von den Erscheinungen der Dinge („Phaenomena“) und der Erkenntnis der Dinge an sich durch den Verstand („Noumena“). Darauf gründete Kant seine Analyse der unterschiedlichen Bedingungen bei der Bildung von Erkenntnisvermögen. In diesem Kontext erweiterte er gewissermaßen interventionistisch den Diskurs über das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und dem Intellekt (Verstand). Der Begriff Noumena, mit welchem ein Gegenstand bezeichnet wird, der nur dem Denken oder dem Geist zugänglich ist, geht jedoch auf Platon zurück.1 Für Platon war Noumenon das mit dem Geist zu erkennende eigentlich Wirkliche, von dem das Phänomen nur das mit den Augen zu sehende sinnliche Abbild ist.2 Kant jedoch erweiterte trotz Widerstand einiger Zeitgenossen diese Definition mit dem „Ding an sich“: „Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen, so fern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahieren: so ist dieses ein Noumenon im negativen Verstande. Verstehen wir aber darunter ein Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich die intellektuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und das wäre das ‚Noumenon in positiver Bedeutung‘.“3
Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass zum sinnlich-rezeptiven Akt ganz wesentlich auch das, was wir beim Menschen als denkendes Dasein bezeichnen, gehört. Der ­Begriff Betrachtung, wie er insbesondere bei der Rezeption von Kunst angewendet wird, ist dem philosophischen Konzept der Anschauung sehr nahe: Beim Betrachten sehen wir nicht nur etwas an, sondern wir beschauen es und bedenken, erwägen und streben zugleich („nach etwas trachten“). Karl Jaspers beschreibt den von ihm gemeinten Sachverhalt wie folgt: „Allen … Anschauungen ist eines gemeinsam: sie erfassen das Sein als etwas, das mir als Gegenstand gegenübersteht, auf das ich als auf ein mir gegenüberstehendes Objekt, es meinend, gerichtet bin. Dieses Urphänomen unseres bewussten Daseins ist uns so selbstverständlich, dass wir sein Rätsel kaum spüren, weil wir es gar nicht befragen. Das, was wir denken, von dem wir sprechen, ist stets ein anderes als wir, ist das, worauf wir, die Subjekte, als auf ein Gegenüberstehendes, auf die Objekte, gerichtet sind. Wenn wir uns selbst zum Gegenstand unseres Denkens machen, werden wir selbst gleichsam zum anderen und sind immer zugleich als ein denkendes Ich wieder da, das dieses Denken seiner selbst vollzieht, aber doch selbst nicht angemessen als Objekt gedacht werden kann, weil es immer wieder die Voraussetzung jedes ‚Objektgewordenseins‘ ist. Wir nennen diesen Grundbefund unseres denkenden Daseins die Subjekt-Objekt-Spaltung. Ständig sind wir in ihr, wenn wir wachen und bewusst sind.“4 Nach Arthur Schopenhauer ist der Verstand das Werkzeug des Willens. Die „animalische Natur“ des Willens und sein Verhältnis zur Vernunft wird wohl immer kontrovers diskutiert werden. Ohne Verstand könnten wir beim Betrachten „nicht erkennen und nicht verstehen“.
Der menschlichen Selbstvergewisserung voraus geht das Bewusstsein, nicht allein auf der Welt zu sein. Erste Erfahrungen des Menschseins wurden wahrscheinlich auf Basis des programmierten „Überlebenswillens“ von den Automatismen des Triebes (essen, trinken, fortpflanzen) als Grundmotoren des Lebens bewältigt. Wir fragen uns nicht, warum wir es wollen, sondern entscheidend ist die Tatsache, dass es unser Körper will. Der Körper fordert den Willen, der Willen fordert den Intellekt und der Intellekt steuert unsere sozialen und kommunikativen Neigungen, deren tieferer Sinn vermutlich in der Entwicklung einer individuellen Überlebensstrategie liegt. Von Generation zu Generation wird im Kontext der Familie, als der ersten Gemeinschaft, aber auch mit Hilfe religiöser („liebe deinen Nächsten wie dich selbst“), politischer („Wir sind das Volk!“) oder ökonomischer Ideale die Einsicht in die Sinnhaftigkeit kommunikativer Gemeinschaften weitergegeben. Wie aber wirken sich solche kollektive Strukturen auf die Entwicklung des Erkenntnisvermögens bei Individuen aus? Inwieweit verändert sich die Wahrnehmung der Lebenswelt jedes Einzelnen? Und wie koppeln sich solche Veränderungen wieder in die Gesellschaft zurück?

Das „Regime der links“ 5
Mit dem Beginn der industriedominierten Gesellschaft hat sich der Blick auf kollektive Strukturen, vom Individuum auf die sogenannten Interessensgruppen und andere Gemeinschaften verlagert. Seitdem wird die kapitalistische Gesellschaft zunehmend diskursbestimmt – nicht nur in der Politik, sondern gerade auch in Kunst, Kultur und Philosophie: Etwas wird erst dann als relevant empfunden, wenn es ein quantitativ nachweisbares Interesse gibt. In Anlehnung an Michel Foucaults Diskurstheorie über das Verhältnis von Diskurs und Macht entwickelt Siegfrid Jäger seine „kritische Diskursanalyse“: „(…) Der Diskurs als ganzer ist die regulierende Instanz; er formiert Bewusstsein. Insofern Diskurs als „Fluss von ‚Wissen‘ bzw. sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“ funktioniert, schafft er die Vorgaben für die Subjektbildung und die Strukturierung und Gestaltung von Gesellschaften (…).“6 Diskurse werden im Wesentlichen über Sprache, Text und Bilder geführt. Der Computer als Universalmaschine mit dem Internet als „Öffentlichkeit“ ist hervorragend als Diskursmedien geeignet. „Mit dem Vorrat an Kollektivsymbolen, die alle Mitglieder einer Gesellschaft kennen, steht das Repertoire an Bildern zur Verfügung, mit dem wir uns ein Gesamtbild von der gesellschaftlichen Wirklichkeit bzw. der politischen Landschaft der Gesellschaft machen, mit dem wir diese deuten und – insbesondere durch die Medien – gedeutet bekommen.“7 Wenn Jäger schreibt, dass „die Medien für uns deuten“, geht er noch von einem Medienverständnis vor der Verbreitung des Internets aus: Denn heute deuten wir mithilfe der „sozialen Medien“ ja nun zusätzlich auch noch selber und glauben, damit einen authentischeren Blick auf die Welt zu bekommen. Wir akzeptieren das Netz als lebensweltliche Realität. Dabei wird zunehmend unklarer, wer in welcher Gruppe mit welcher Absicht in wessen Auftrag handelt.

Asoziale, soziale Medien
Niklas Luhmanns berühmte Bucheinleitung „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, wurde 1996, also einige Jahre vor der Verbreitung der „sozialen Medien“ veröffentlicht.8 Seit Mitte der neunziger Jahre wurde das Internet, durch die beginnende Ausbreitung des World Wide Web, ein Brennglas des Zeitgeistes. Luhmann konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht die „sozialen Medien“ reflektieren, da sie in der heutigen Form noch nicht existierten. Vielmehr ging er in seinen Betrachtungen von „Kulturtechniken“ wie Fernsehen, Radio und dem Printbereich aus, die eine „körperun­gebundene“ Wissensvermittlung und Wissensspeicherung ermöglichten und die er alle zusammen bereits als ein System bezeichnete. Was zu diesem Zeitpunkt in diesem Medienmix fehlte, war die Bindung der einzelnen Teile. Dennoch waren bereits hier Tendenzen bekannt, dass diese Arten der Wissensvermittlung und -speicherung den menschlichen Drang nach Erkenntnisstreben nicht nur manipulieren, sondern sogar im Luhmann’schen Sinn „konstruieren“ können. Wie aber formiert sich das Verhältnis von Wissen und Erkenntnis ?
Ganz im Gegensatz zum Wissenserwerb geht es beim Erwerb von Erkenntnisvermögen auch um Wege, die über nicht logische Wahrheiten und intersubjektive Nachweise führen. Erkenntnis basiert zwar auf dem Wissen selbst, aber vor allem auch auf der Einsicht in dessen Bedeutung. Wie wird die Einsicht in seine Bedeutung aber hergestellt? Um mit Luhmann zu antworten: durch die Eingebundenheit in ein System, dessen Teil wir sind. In den sozialen Medien sind wir stärker als jemals zuvor aktive Bestandteile des „Systems“ – in der Zeit vor den „sozialen Medien“ waren wir das weit weniger, weil die Massenmedien durch ihre Sender-Empfängerstrukturen (einer sendet – alle lesen, gucken oder hören zu) eindimensionaler waren. Offensichtlich entfaltet Luhmanns Systemtheorie erst durch die „sozialen Medien“, also seit der konsequenten Verbindung von Individualkommunikation und Massenkommunikation den Standard eines „operativ geschlossenen Prozesses sozialer Kommunikation“. Allerdings kommt dieses System als ein „Pseudosystem“ daher: es ist nur ein Teil eines umfassenderen Systems, welches durch mächtige Instanzen kontrolliert, analysiert und gesteuert wird. In ganz ähnlicher Weise wie in Peter Weirs Film „The Truman Show“ (1998) vorgeführt, können sich Individuen im „Pseudosystem“ lediglich in einem komplexen, scheinbar naturähnlichen, letztlich aber in präzise geplanten „sets“ von Rahmenbedingungen bewegen. Dieses „Pseudosystem“ wird viel weniger von den Nutzern selbst geschaffen als in den Anfangszeiten des Internets gehofft, sondern von Programmierern und Designern, die im Dienste privatwirtschaftlicher Interessen von Unternehmen und strategisch-politischer Interessen von Staaten handeln. Vor dem Individuum, also den einzelnen Benutzern dieser Pseudosysteme, breitet sich eine schier unergründliche Datenmenge aus, die leicht vergessen lässt, dass bei intensiver Nutzung ein durchaus sehr eingeschränkter Blick auf eine Lebenswelt entstehen kann, die nur noch sehr wenig mit der Realität, über die Platon, Kant und Schopenhauer gestritten haben, zu tun hat. Die alten Philosophen haben das eigenständige Individuum und das „in-der-Welt-sein“ ins Zentrum ihrer Beobachtungen gesetzt. Sie fokussierten „das Ding an sich“ und nicht nur die „links“ auf die Dinge als Ausgangspunkt für eine Weltbetrachtung. Wir operieren zunehmend mit den als „links“ abgebildeten Korrelationen , die sich aber bereits von den Dingen abkoppelt haben: Die links können nicht mehr die Dinge referenzieren, auf die sie eigentlich vorgeben zu verweisen, weil es sie oft nicht mehr gibt. Gefährlich wird es, wenn der Verlust nicht mal mehr bemerkt wird.

Kollektive Konformität
Trotz des Scheiterns der kommunistischen Idee und dem Ende der „großen Gleichmacherei“ produziert die derzeitige Gesellschaft genau diese auf hohem Niveau. Das Gefühl der „Alternativlosigkeit“ als Resultat eines seit den neunziger Jahren folgenden Individualisierungsdrucks in der kapitalistischen Gesellschaft führte nicht zu mehr Vielfalt, sondern zu einem unbewussten Drang, das „Ich“ im Kollektiv aufzulösen: Es beschleunigt sich nicht etwa die Individualisierung unserer Gesellschaft, sondern insbesondere seit der Etablierung der „sozialen Medien“ scheint sich eine fast vorbehaltslose, kollektive Konformität durchzusetzen. Die Anzahl der „Kanäle“ steigt zwar, vielleicht damit auch vordergründig die Vielfalt, aber die medialen Ordnungssysteme sorgen dafür, dass sich vieles in überraschend ähnlicher Weise einpegelt, obwohl wir uns mit der Idee des allseits kommunizierenden Individuums genau das Gegenteil erhofft haben. All die „likes“, „followers“, „prosumers“ und Freunde von Freunden bei face­book sind sichere Indikatoren dafür, geschmackliche Eintracht auch in Zukunft zu gewährleisten.
Auf diese Weise wird zwar sehr direkt Einigung über gemeinsame Werte hergestellt, aber die Manipulationsgefahr wächst. Bereits Carl Gustav Jung postulierte, „… alles, was irgendwann einmal von der individuellen Psyche eines Menschen ausgedrückt wurde, werde zu einem Bestandteil der psychischen Grundkonstitution eines Menschen – und ebenso auf einer kollektiven Ebene zu einem Bestandteil der ganzen Gattung und damit zu einem Bestandteil des kollektiven Unbewussten.“9 Wenn die individuell wahrgenommene Wirklichkeit zunehmend durch Nutzung sozialer Medien geprägt wird und wir deshalb von mehr Dingen geringerer sinnlicher Anschauung in den sozialen Medien umgeben sind, als es in der Lebenswelt der Fall ist, wird sich das von Kant gemeinte „Noumenon in positiver Bedeutung“ durchsetzen: Immer weniger Vertrauen in die Wahrnehmung von „Phänomen“, stattdessen mehr Vertrauen in externes Wissen. Das Verhältnis von Noumenon und Phänoma droht aus den Fugen zu geraten. Eine Folge und das daraus resultierende Grundproblem ist: Je häufiger sich das Falsche oder Unwichtige wiederholt, desto größer wird die Chance als wichtig erachtet zu werden. Banalitäten gewinnen an Tiefe und der Intellekt gerät zunehmend in Konflikt mit dem sogenannten gesunden Menschenverstand. Das „Regime der links“ ist sicher erfolgreich. Die Massenmedien leisten nicht nur mehr einen Beitrag zur Realitätskonstruktion der Gesellschaft, wie es Luhmann einst postulierte, sondern die Realitätskonstruktion hat bereits begonnen, die Realität der Gesellschaft zu ersetzen. Die interessante Frage bleibt, wie sich das auf die zeitgenössische Kunstproduktion und -rezeption auswirken wird. Widersetzt sie sich oder bleibt sie ein Funktionssystem der Gesellschaft?



1 http://www.philosophie-woerterbuch.de/ (Suche nach „Noumenon“)
2 http://anthrowiki.at/Noumenon
3 Imanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), Meiner Verlag, Hamburg 1998
4 Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, München 1953, 24f
5 In einem englischsprachigen Vortrag über „Reproduktion“ im Rahmen des Projekts „copy&repeat“ sprach Stefan Heidenreich an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig in 2012 über Wertesysteme des Paradigmenwechsels von der Industriegesellschaft, dem „regime of time“ zum „regime of linking“ der Wissensgesellschaft. Er hat den „link“ im WWW als ein Indiz für einen Vernetzungsgrad und damit als ein Maß für Aufmerksamkeit bezeichnet. Siehe dazu auch Stefan Heidenreich in „copy&repeat“; Notizen zu Kunst und Reproduktion, S. 28–30; Hrsg. Sparkasse Leipzig, 2013
6 Siegfried Jäger, Aspekte einer kritischen Diskursanalyse
http://www.diss-duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel/ Aspekte_einer_Kritischen_Diskursanalyse.htm
7 ebenda
8 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 1996
9 Carl Gustav Jung, Psychologische Typen, Gesammelte Werke. Band 6, §§ 161, 281, 762, 842; Walter-Verlag, Düsseldorf 1995
Illustration: Joachim Blank