Einer von hundert

Tagebuch aus dem Berliner Winter und Frühling

2015:Mai // Einer von hundert

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05-2015

30. Januar, Büro
Nach dem fulminanten Relaunch von Spike, das nach bewährter Mirko-Borsche-Manier alle Designregeln umschiffte und sogar das Logo von der Chefredakteurin selbst gemalt wurde, warte ich immer noch auf die seit einem halben Jahr angekündigte Website. Sie kommt bestimmt … Das Prelaunch verspricht die üblichen Collagetechniken mit Bad-Taste-Einsprengseln.

27. März, Galerie Crone
„Darf der das?“ Diese Frage stellt ein Autor sehr doppeldeutig im „Spiegel“, bleibt aber im Laufe des Artikels weitgehend philosemitisch. Muss das sein, ist mein Gedanke bei Erez Israelis Ausstellungseröffnung in der Galerie Crone. Sehr eindeutig werden hier israelischer Hedonismus, schwule Clubkultur und Holocaust miteinander vermischt. Das vermeintliche Opfer geht jeden Sonntag acht Wochen lang während eines Atelieraustauschs mit Norbert Bisky ins Berghain. Die Stempel, die er dort bekommt, lässt er sich auf seinen Unterarm tätowieren und macht Fotos davon. Eine konkrete Referenz an die eintätowierten Nummern von KZ-Häftlinge. Ich finde es geschmacklos, wie diese Eins-zu-eins-Übersetzung mit meinem Gewissen zu spielen versucht. Weiterhin sehe ich riesige Schwänze, überall, ob als Schattenriss direkt aus der Hölle oder als Nasen, ein weiteres Klischee, das mir nicht vorenthalten wird von Israelis in Berlin.

10. April, Büro
Mail von Spike. Schon die zweite Ausgabe im neuen Design. Das Logo wurde umgemalt, die Homepage ist noch immer die alte, aber irgendwie lande ich auf der ersten Kolumne von Timo Feldhaus mit dem Titel „Real Time“. Endlich. Er spricht in LA (!) mit einem Post-Internet-Künstler der ersten Generation, Jon Rafman, der fast gleich wie Timo aussieht und die beiden reden melancholisch über all das, was das Internet mit uns macht. Feldhaus schreibt ein bisschen wie Moritz von Uslar, nur sind seine Sätze noch einen Tuck verspielter, ja, poppiger. Das leicht Zynische kippt bei Feldhaus hintenüber und wird von einem Netz aus Romantik aufgefangen. Da zappelt es dann. Seine Zukunftsalltagsanalyse liest sich wie folgt: „Es geht nicht mehr darum sie vorherzusagen, sondern sich die Gegenwart genau vorzustellen. Am Morgen bist du verliebt, am nachmittag liest du ein Buch, dazwischen FB, danach isst du einen Apfel und mit Glück verschwimmt all das zu Kontext, dann wird in deinem Stream aus Data Meaning und es ergibt sich die Möglichkeit eines ruhigen schönen Abends alter Schule.“ Der Refrain des Songs wäre: „Dann wird in deinem Stream aus Data Meaning“ und das immer weiter …

14. April, Büro
Jetzt landet auch das große Round-Table-Gespräch mit DIS, Hito Steyerl und Susanne von Falckenhausen aus der letzten Spike-Ausgabe im neuen Netz-Layout (immer aber noch versteckt hinter der Prelaunch, ich glaube sie warten das Gallery-Weekend ab). Spike setzt sich also vorne auf die Speerspitze der Post-Internet-Bewegung, natürlich auch kritisch. Hoffen wir nur, dass sie sich nicht selbst erschießen und in den ewigen Jagdgründen der weiten virtuellen Welt verloren gehen.

24. April, am Frühstückstisch bei der Zeitungslektüre
Lese und wundere mich: Mit der Neubesetzung der Volksbühne mit Chris Dercon ab 2017 soll der Etat der Volksbühne (lt. Meldung in diversen Zeitungen) um 5 Mio. auf 22 Mio. erhöht werden. Woher kommt das Geld? Wer muss dafür sparen? Was passiert weiterhin mit der „Freien Szene“? Und mit dem bisherigen Ensemble der Volksbühne?
Die Entscheidung für Dercon und die Weiterentwicklung der Volksbühne fiel allein durch die Politik, wurde vorher nicht öffentlich diskutiert; nur durch Peymanns Aufschrei haben wir schon vor ein paar Wochen davon gehört, damals aber wurde die Personalie nicht bestätigt …, nun ist es plötzlich Fakt …

24. April, wenig später im Büro
Andererseits, wer, wenn nicht Dercon, kann etwas vom Riesenkuchen Theater für die bildende Kunst abknappsen, die vom 440 Millionen Kulturetat Berlins nur 4 Millionen bekommt?
Warum irgendeinen weiteren Stadttheaterintendanten hinsetzen, der ein wie auch immer geartetes Theater macht? Lieber einen „Eventschuppen“, der das enge Theaterkleid verlässt. So wie die Volksbühne das schon immer gemacht hat, und da fällt mir außer Matthias Lilienthal eben auch nur jemand wie Dercon ein, der zudem den Riesenvorteil hat, nicht direkt aus der Theaterwelt zu kommen.

24. April, Büro
Oh, Spike ist online (http://www.spikeartmagazine.com). Wohl schon seit ein paar Tagen. Toll finde ich, dass wichtige alte Archivtexte wieder hochgeholt werden, und auf einer Ebene mit den neuen gezeigt werden. Meine ich im Ernst. Die meisten kenne ich nämlich nicht. Blöd ist, dass das Komplettarchiv nicht erreichbar ist. Egal, kommt erst mal in die Lesezeichenleiste, dafür schmeiße ich Bpigs raus…
www.spikeart.at (Anfang April 2015) Screenshot