Onkomoderne

Ngst

2015:Mai // Christina Zück

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05-2015

Ngst

In der Stadt hatten schwerbewaffnete Terroristen Menschen erschossen. Meine Wohnung befand sich in einem zerfallenen Altbau, der gerade renoviert wurde. Stapel aus Betonziegeln, Bauzäune und Sichtschutzplanen verbarrikadierten den Hinterhof. Die Terroristen waren auf der Flucht und konnten jederzeit ins Haus eindringen, auf der Suche nach einem Versteck. Ich musste mit meinem Laptop zu einem Copyshop fahren – nur dort gab es Internet – um zu twittern, wie akut und spannend die Gefahr war. Mein Fahrrad stellte ich zwischen Hügeln aus Bausand neben dem Laden ab, und als ich aus dem Fenster sah, bemerkte ich, dass ich es nicht abgeschlossen hatte. Es gab gar kein Schloss. Sofort rannte ich raus, den Rechner unter dem Arm, und schob das Fahrrad nach Hause. Jemand hielt mich von hinten fest – ich stolperte, fiel hin, und mein Laptop flog in hohem Bogen in einen Haufen Hundescheiße. Ich wachte auf. Eine ganze Palette an bunt ausgemalten Angstmotiven war in meinem Traum aufgetaucht, es fehlten nur noch die riesige Welle und der freie Fall. Angst ist hilfreich, um konkrete Bedrohungen intuitiv zu erfassen und blitzartig eine Handlung, neurowissenschaftlich fight-or-flight response genannt, einzuleiten. Das Körpersignal kann sich auch entkoppeln, so dass es auf Bedrohungen reagiert, die erst in der Zukunft entstehen können. Die unablässig zwischen Absicherungs- und Untergangsphantasien schwankende Angst, im Englischen auch German Angst genannt, ist eine sekundäre Folge einer Reihe ganz unspezifischer, nicht mehr zu lokalisierender Auslöser. Diese Form der Angst hat sich zur affektiven Basis unserer zeitgenössischen Kultur entwickelt. Eine zur Überproduktion angeregte Amygdala – oder war es der Hippocampus? – wirft ein Schreckenszenario wie einen Schatten vor sich her, bis die achtlos abgesonderten Bilder die Kontrolle über den Rest der Hirnareale übernehmen. Als Stressor kommt das Außen unserer wirren Realität hinzu: Technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen haben sich auf eine Weise beschleunigt, dass ein längerer Zustand der Stabilität und Entspannung kaum mehr vorstellbar ist. Der nächste Sachzwang, der mich in eine Zwickmühle bringt, die nächste angedrohte katastrophale Konsequenz, die nächste bürokratische Maßnahme stehen schon vor der Tür. Jeder Fortschritt ein potenzieller Unfall. Der Zukunftsrausch der spätkapitalistischen Zwangsmotorik erfasst auch diejenigen, die müde oder glücklich sind, sich friedlich nicht weiterentwickeln wollen, und nötigt sie trotz aller Widerstände mit nach vorne zu rennen. Angst hinkt immer hinterher, auch wenn sie im Zieleinlauf des Marathons ganz vorne zu sehen ist. Etwas anderes gibt den Rhythmus, die Zeitspanne und den Handlungsablauf vor. Angst besteht aus unsichtbaren Strahlen, die auf die Gedanken der Mitmenschen übergehen. Sie bündelt Gruppen zu sogenannten Schwarmintelligenzen, gibt ihren Handlungsweisen eine Richtung, und wird wegen dieser Formbarkeit sehr gerne als Herrschaftstechnik verwertet.

Anfang Januar besuchte ich eine der Montagsdemos von Bärgida, wie sich der Berliner Ableger von Pegida, der „Patriotischen Euröpäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“, nannte, um für ein Ausstellungsprojekt in Dresden, das sich mit den Auswirkungen der Finanzkrise und den neuen rechten Bewegungen beschäftigte, Eindrücke und Ideen zu sammeln. Auf dem weitläufigen Washingtonplatz vor dem Hauptbahnhof hatte die Polizei aus Einsatzfahrzeugen, in Berlin Wannen genannt, einen Ring gebildet, innerhalb dessen die Demo stattfinden sollte. Ich musste durch einen Checkpoint gehen, um in das Gehege hineinzugelangen. Begleitet von Fernsehteams und Fotojournalisten standen ein paar Teilnehmer mit herunterhängenden Nationalfahnen – Schwarzrotgold, Brandenburg, Je suis Charlie, Preußen, Norwegen, Israel, Christusmonogramm – bei etwa 2°C im Regen und warteten. Auf einen Demonstranten kamen etwa eineinhalb Wannen. Mehr Leute stießen hinzu, ich konzentrierte mich auf den Autofokuspunkt im Sucher, der bei der Dunkelheit und den flirrenden Regentropfen keinen Halt fand und hin und her surrte. Zum Testen hielt ich die Kamera auf ein paar Köpfe, als ein junger Mann in Bomberjacke mit der Hand auf mein Objektiv griff: „Verpiss Dich!“ Ein etwa Dreißigjähriger, der mit seiner Schiebermütze eher wie ein Hipster aussah, nahm seinen Regenschirm und hielt ihn wie einen Schutzschild vor den Mann und gegen meine Kamera und sprach beruhigend auf ihn ein. Ich hatte mich absichtlich dunkel und unauffällig angezogen, doch meine Kamera ließ mich der Kategorie der Personen zuordnen, die weg müssen. Ich hatte Angst. Wären da keine gewaltfreie Kommunikation anstrebende Mitpegidisten gewesen, hätte ein Teil der Demonstranten mich verprügelt, verjagt, vernichtet, womöglich unter dem billigenden Blick der Polizeieinheiten in riot gear. Von einem Kleinwagen aus wurden über eine PA-Anlage Reden gehalten, Fahnen geschwenkt, und als die Menge „Lüh-genn-press-se-lüh-genn-press-se“ brüllte – es klang wie das Brabbeln von Kleinkindern – musste ich vor Lachen losprusten. Inzwischen war der Demonstrationszug der Pegida-Gegner näher an den Sperrkreis herangerückt und drängte sich in den Lücken zwischen den Polizeiwannen übereinander, die Gegner hielten ihre Banner hoch und skandierten die Gegenargumente. Eine Frau, die direkt neben mir stand, fing mit heftigster affektiver Ladung an zu brüllen: „Ihr nutzloses Pack! Ihr Parasiten! Geht mal arbeiten! Ihr hängt doch nur dem Staat auf der Tasche, und wir zahlen die Steuern!“ Ein überwältigendes Gefühl von Scham stieg in mir hoch. Scham, die in beide Richtungen ging. Ich hatte ja auch nie in dem Sinne gearbeitet und immer allen auf der Tasche gelegen und war im heimatlichen Dorf öfters derartigen Vorwürfen der bildungsfernen Mehrheiten ausgesetzt gewesen. Meine künstlerische Tätigkeit war immer schwer nachvollziehbar und schwer legitimierbar gewesen. Gleichzeitig war es beschämend, am modernsten Verkehrshub Mitteleuropas mit Gesichtserkennungssoftware videoüberwacht und umzingelt von bewaffneten Riot-Control-Polizisten herumzustehen und immateriell-kognitive Arbeit zu leisten, während diese rückständige Hetze hervorgebracht wurde, die die Realität völlig verkannte. Alles würde gut werden, wenn bestimmte Menschengruppen weg wären, glaubten sie. Was für ein tiefer, durch Hilflosigkeit und Unbildung beförderter Hass sich da manifestierte. Es war der Urschlamm aus den Nasennebenhöhlen des schizoiden, die anale Phase nicht überwindenden deutschen Körperpanzers. Waren sie nicht wenigstens ein bisschen Charlie, wie sie auf ihren Plakaten behaupteten? Wenn sie das Volk wären, würden sie uns verarmte Besserwisser-Bohemiens ins Arbeitslager einweisen? Es war doch ein gesellschaftliches No-Go, so eine abscheuliche, hässliche Emotion wie Hass direkt und ungefiltert auszudrücken, genauso wie Wut und Aggression – auch die Pegidisten hatten das im Alltag lernen müssen. Daher sprachen sie lieber von Besorgnis und Bedrohung, von Angst vor dem Verlust der Tradition und vor dem Eindringen von Fremdem. Aber können Gefühle eine identitäre Partei gründen, sich gegen Verwandlung und Umformung abschotten und auf sich selbst als Zustand beharren? Die Angst müsste sich immer wieder selbst aufladen. Die affektive Kraft der Beharrer, Grantler und Ressentimentler präsentierte sich zu meiner Überraschung nicht als Drohung vor der Gewalttat, sondern als bereits sich selbst reflektierender Leidenszustand, der darum bat, von der Politik gesehen und beendet zu werden. Das Volk war ein anderer. Sie forderten Minderheitenrechte für sich ein.

Es war eisig kalt und meine Kleidung war durchnässt, ich brauchte ja auch nicht weiterzuarbeiten und konnte einfach gehen. Im Bahnhof setzte ich mich mit einem warmen Latte Macchiato an einen Cafétisch, als ein Grölen und Johlen durch die riesige Halle dröhnte. Es war eine Gruppe in dunkle Sportsachen und Blousons gekleideter junger Männer, aus der Ferne konnte ich Frakturschrift-Logos auf Mützen und Jogginghosen erkennen und New-Balance-Turnschuhe. Flankiert von mehreren behelmten Einsatzkräften strömten sie von einer der oberen Ebenen auf die große Rolltreppe, sie waren auf dem Weg zum Bärgida-Demonstrationsgehege. Die Arme erhoben sie nicht in die Luft zum völkischen Gruß. Sie hatten sicher auch Angst, und ihre Körper – der Theoretiker Klaus Theweleit spricht in diesem Zusammenhang von der Struktur des soldatischen Männerkörpers, einem Begriff, den er seit „Männerfantasien“ (1977/78) auf die verschiedenen Erscheinungsformen des Faschismus anwendet – kannten wohl keine anderen Wege, Spannungszustände abzubauen, als wie ein Rudel heulend durch die Bahnhofs-Shoppingmall zu schreiten. Ihre Körper brauchten die aus der Tradition errichteten Identitäten, Hierarchien, Rassismen, sie mussten sich klar einordnen können in stark und schwach, oben und unten, drinnen und draußen, und gleichzeitig war es unvermeidbar, im Alltag funktionsfähig zu bleiben, in dem sich alle Eindeutigkeiten immer mehr auflösten, Ambivalenztoleranz notwendig wurde und in dem der Ausdruck von „schwierigen“ Gefühlszuständen geächtet war. Der negativen affektiven Ladung blieben nur noch das Vollidiotentum ideologisch organisierter, gewaltaffiner Männerbünde oder eben Zustände von Angst und Depression, in die sie sich zurückdrängte und sich in einer Ecke geduckt zusammenballte. Theweleit begründet in „Das Lachen der Täter: Breivik u.a.“ (2015) Gewalttätigkeit mit einer fragmentierten Körperlichkeit der Täter – eine Metapher für durch psychische und körperliche Verletzungen, Misshandlungen, Drill in der Kindheit hervorgerufene Schäden in ihrem Nervensystem. Gewalttäter leben in einem dauerhaften Erregungszustand, in dem sie sich von Auflösung, Ambivalenz und dem Eindringen von etwas Fremden bedroht fühlen, der sehr schwer auszuhalten ist. Nur durch Druck ablassen, also zwanghaftes körperliches Handeln können sie sich zeitweise beruhigen. Theweleit versucht mit etwas veraltet klingenden Begriffen aus der Psychoanalyse, einen neurophysiologischen Ansatz in die Kulturwissenschaft zu überführen, ein Wissen, das im medizinischen und psychotherapeutischen Bereich bereits zum Standard geworden ist. Auch Franco Bifo Berardi bezieht sich in seinen aktuellen Begriffen des Kognitariats und des Semiokapitalismus auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse aus der Traumaforschung. Im zeitgenössischen Semiokapitalismus werden weitgehend keine materiellen Güter mehr, sondern psychische Stimulation und affektive Environments durch Zeichen produziert. Informationsexplosion und digitale Dauererregung generieren eine Psychosphäre, die durch affektive Schwankungen, Depression und Angstzustände gekennzeichnet ist. Die technologische Entwicklung und die digitale Vernetzung überschreitet die Fähigkeit des Gehirns und des Nervensystems, sich zu erweitern und sich daran anzupassen. Die Zeit der Algorithmen ist nicht mehr die Zeit des Menschen. Wie bei einem Trauma kartografiert sich der Semiostress ins Nervensystem ein und produziert unkontrollierbare Symptome. Catherine Malabou, die sich mit dem Verhältnis von Philosophie und Neurowissenschaften beschäftigt, leitet vom Begriff der neuronalen Plastizität – die Fähigkeit der Hirn- und Nervenzellen, sich sich in ihren Eigenschaften zu verändern, weiterzuentwickeln oder zu reparieren – ein philosophisches Konzept ab, dass sie Plastizität nennt: das Vermögen, Form zu geben und geformt zu werden. Ebenso kann im Gehirn eine zerstörerische Plastizität wirksam werden, wie sie bei Opfern soziopolitischer Gewalt beobachtet wurde, die extrem apathisch, abgestumpft und ausdruckslos erscheinen und deren Symptome denen von Alzheimererkrankten oder Patienten mit Hirnschädigungen entsprechen. Ihnen ist die Empfindung von Freude, Begeisterung, Leidenschaft und somit auch die Handlungsfähigkeit abhanden gekommen. Malabou entdeckt darin eine charakteristische Musterbildung für die heutige Zeit. Viele der ehemals als psychische Krankheiten behandelten Veränderungen, von der Psychoanalyse auf Trieb, Begehren und Bindung zurückgeführt, sind dauerhafte Zerstörungen im Hirn- und Nervensystem. Die Auswirkungen einer Organveränderung und die eines soziopolitischen Traumas – durch Gewalt, Krieg oder Armut – werden ununterscheidbar. Politische Unterdrückung nimmt heutzutage die Gestalt eines traumatischen Schocks an, so dass Geschichte nach und nach in die Erscheinungsformen von Natur und Biologie übergeht. Je mehr sich die Angst ausbreitete, je mehr man ihr Raum gäbe, je mehr man sie auslebte, je diffuser sie würde, verstand ich, am Ende würde sich unsere Hirnstruktur verändern. Es machte mir Angst.

Für die Ausstellung in Dresden waren meine Fotos, die ich auf der Bärgida-Demonstration gemacht hatte, nicht zu gebrauchen. Ich wählte schließlich eine Serie von Fotos aus, die ich vor ein paar Jahren in der Berliner Innenstadt gemacht hatte: Muslime verteilten Exemplare des Koran als Geschenke an Passanten, ihnen gegenüber demonstrierten sogenannte Islam-Kritiker mit selbstgebastelten Warnschildern gegen den Koran. Ich hatte von allen Beteiligten dokumentarische Porträts gemacht, die ziemlich unspektakulär einen Konflikt im öffentlichen Raum zeigen, der in Dresden in einer abgewandelten Form seit Oktober letzten Jahres jede Woche vor aller Augen stattfindet und starke Emotionen erregt. Geplant war, dass mehrere Fotos als Plakate gedruckt auf einer Litfaßsäule in der Dresdener Innenstadt präsentiert werden, doch vor Ort ließ sich über den lokalen Anbieter keine freie Außenwerbefläche mieten, alles sei ausgebucht, hieß es. Die Anfrage, stattdessen eigene dreieckige Aufsteller in der Stadt zu platzieren, wurde von den städtischen Behörden in allerletzter Minute abgelehnt. Ein Theater, das uns für ein paar Tage eine Litfaßsäule zur Verfügung stellen wollte, zog, nachdem die Verantwortlichen die Fotos gesehen hatten, ebenfalls kurz vor der Ausstellungseröffnung sein Angebot zurück mit dem Argument, zufällig vorbeigehende Ausländer könnten dadurch irritiert werden. Am Ende hängten wir die Plakate in die Fensterfront des Ausstellungsortes. Eine lokale Fernsehjournalistin, die an einem Bericht über die Ausstellung arbeitete, hatte keine Zeit mehr, mit mir ein Interview zu machen, als sie die Fenster sah. Sie sagte mir, sie verstehe sehr gut, dass die Arbeit nicht im öffentlichen Raum gezeigt werde. Klar, dass Angst der Grund sei, man wolle so ein Risiko nicht eingehen, und ich brauche mir bloß nicht einzubilden, dass es sich um Zensur handele.