Jia

im Gespräch mit Wayra Schübel

2015:November // Wayra Schübel

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11-2015

LET’SDer Schwerpunkt im Werk „The Chinese Version“ der chinesischen Künstlerin Jia liegt, simpel ausgedrückt, im Phänomen der vereinfachten chinesischen Schriftzeichen. Ihrer Auffassung nach ist die Verkürzung der chinesischen Schriftzeichen, vom komplexen Langzeichen zum Kurzzeichen, durch die Kommunistische Partei Chinas in den 1950er-Jahren, die größte, der chinesischen Sprache widerfahrenene Zerstörung überhaupt: Darin eingeschlossen ist die Beseitigung von zwei Dritteln der Begriffe aus dem offiziellen Lexikon, als ein Versuch, die Verständigung zwischen Menschen verschiedener Klassen und Bildungsniveaus in ganz China zu erleichtern. Dabei sind heute weniger als 10% der ursprünglichen Zeichen und Begriffe in der Volksrepublik China noch in Benutzung.
Der Einladung in ihr Atelier folgend, war ich vor Ort stark berührt von den Werken, die ich bislang lediglich aus ihrer kürzlich erfolgten Veröffentlichung kannte (JIA. Drew Hammond (Hrsg.), im Verlag der Buchhandlung Walther König, 2015). Die großen Leinwände sind kein klassisches Format für Kalligraphie, und strahlen trotz der konzeptionellen, formalen Strenge eine intensive Sinnlichkeit aus.
Jia erläuterte mir zwei ihrer Gemälde, „100 Birds“ und „100 Fish“: Ebensowenig wie es die dort jeweils abgebildeten hundert Schriftzeichen noch gibt, existieren die von ihnen bezeichneten Vogel- und Fischarten nicht mehr. Ein starkes Sinnbild von sowohl kultureller als auch ökologischer Bedrohung, durch einen zu schnell voranschreitenden, industriellen Fortschritt.

Wayra Schübel  /  Vielen Dank für die Einladung in Dein Atelier, Jia! Warum verwendest Du eigentlich einen Namen mit nur einem Zeichen – ist das Dein Vor- oder Nachname? Phonetisch erinnerte es mich an das Wort für „Familie“.
Jia  /  Du hast offenbar Dein Chinesisch nicht ganz vergessen, weil „jia“ (家) tatsächlich das Wort für Familie im Pinyin ist, der im Westen meistverwendeten Transkription, um die chinesische Aussprache an das lateinische Alphabet anzupassen. Mein Name klingt zwar gleich, aber mein Vorname wird mit einem anderen Zeichen geschrieben: 嘉. Das bedeutet so etwas wie „glorreich“ oder „schön“, bestehend aus zwei einzelnen Zeichen, die zusammen in etwa „mehr Glück“ bedeuten, und ich denke, das ist, was Chinesen oft wirklich meinen, wenn sie glorreich oder schön sagen.
Es sind zwei Gründe, weshalb ich meine Arbeit mit einem einzelnen Zeichen unterzeichne. Einerseits gibt ein einzelner Vorname ausreichend Auskunft darüber, dass dieselbe Person verschiedene Werke geschaffen hat, ohne den ausdrücklichen Identitätsgrad zu haben, den Vor- und Nachname zusammen besitzen. Dies spiegelt meinen, vielleicht naiven, Wunsch, meinen Werken selbst eine eigene, größere Identität zu geben als nur die ihres Autors. Andererseits kam ich später auf einen zweiten, fast belanglosen Grund: Das kurze Jia ist leichter zu merken.
Schübel  /  Du wurdest in einer Zeit geboren, als die ersten Sonderwirtschaftszonen in Shenzhen und Xiamen entstanden. Wie siehst Du die Rolle Deiner Generation, positioniert zwischen traditioneller und sozialistischer Kultur, im Zusammenhang mit dem Übergang hin zu einer globalisierten Kultur?
Jia  /  Die Einführung von Sonderwirtschaftszonen beendete Chinas Isolation, die nach der katastrophalen Kulturrevolution einsetzte, und erlaubte somit das Wachstum von Unternehmen, welches Hunderte von Millionen Menschen aus der Armut holen konnte. Meine Generation war die erste, die von diesen Reformen profitierte. Im Gegensatz zu den meisten aus unserer elterlichen Generation haben wir keine Hungersnöte erlebt und wagten uns beruflich, trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten, besonders oft in Kulturbereiche. Obwohl die Regierung unsere Bemühungen oft behindert, denke ich, was uns maßgeblich unterscheidet, ist, dass viele von uns an alten, sozialistischen Ideen festhalten, wie zum Beispiel der, Kultur als gesellschaftliches Engagement zu fördern und damit zur Entwicklung von humanitären Werten beizutragen. Wenn China seine Kultur weltweit zugänglich machen will, dann ist diese Idee der konstruktivste Weg, den es zu verfolgen gilt.
Schübel  /  Du erwähntest, dass 90% der traditionellen chinesischen Zeichen ausgestorben sind. Wie sieht es in Regionen aus, in denen die langen Versionen der Zeichen heute noch verwendet werden?
Jia  /  Die traditionellen Langzeichen werden in Taiwan und Hongkong weiter gepflegt, da hatte die Kommunistische Partei keine Entscheidungsgewalt. Diese weiter fortgeführte Schriftverwendung macht die Heuchelei noch deutlicher, dass die Einführung von vereinfachten Schriftzeichen einen Nutzen bezüglich der Erhöhung von Alphabetisierungsraten gehabt habe. Obgleich es ein Akt kultureller Zerstörung ist, der es schier unmöglich macht, vorrevolutionäre Texte zu lesen. In Taiwan übersteigt die Alphabetisierungsrate 99%, sie ist in etwa so hoch wie in der Schweiz. Der Verlust der traditionellen Schriftzeichen im Kernland – wo seit dem zehnten Jahrhundert v. Chr. eine hochentwickelte Lyrik entstand, in der piktographische Elemente mit semantischem Inhalt kombiniert wurden – ist weltweit, nicht nur für China, ein Verlust.
Es macht mich traurig, daran zu denken, dass kulturelle Zerstörung überall gegenwärtig ist, nicht nur in extremen Fällen, wie der jüngsten Vernichtung von Palmyra in Syrien. Gräueltaten, die nicht nur mit Morden und physischer Gewalt gekoppelt sind, sondern darüber hinaus Auskunft über einen Allgemeinzustand des globalen Konsumwahns geben. Der Drang zum sinnlosen Anhäufen von Gütern als Mittel, um den eigenen Selbstwert zu erhöhen, geht auf Kosten nicht zuletzt von Kultur.
Schübel  /  Könntest Du eines der verschwundenen Zeichen als ein Beispiel nennen, um zu veranschaulichen, was daran für Dich speziell wichtig war und verloren gegangen ist?
Jia  /  Du bittest mich, nur ein einziges verschwundenes Zeichen zu nennen, aber eines meiner Werke enthält hundert solcher Zeichen, die die Namen von einst in China heimischen Fischarten enthält. So wie die Zeichen für diese Fische alle ausgestorben sind, so sind es auch die Fische.
Schübel  /  Mir steigen gerade Erinnerungen an Zugreisen in den 1990ern auf, in denen mir erstmals die enorme territoriale Ausdehnung Chinas bewusst wurde, die mit keiner europäischen Dimension vergleichbar ist. Da in der chinesischen Sprache verschiedene Dialekte vorkommen, war das einfache Zeichnen von Schriftzeichen auf der Handfläche ein gängiges Hilfsmittel für Menschen aus verschiedenen Teilen des Landes, um zu kommunizieren. Was ist Deine Vision eines nächsten Schrittes, der in der VR China im Hinblick auf Sprache getroffen werden könnte?
Jia  /  Menschen, die sich, um Dialektunterschiede zu überwinden, mittels Zeichnen von Schriftzeichen auf den Handflächen verständigten, gab es lange vor den Schriftreformen und das ist heute noch üblich. Chinesische Schriftzeichen waren schon immer eine einigende Kraft in China, trotz immer wieder eintretenden, gegenteiligen Impulsen. In China denken wir oft, dass Europa bis zur Gegenwart ein einziges Land hätte bleiben können, viele Jahrhunderte an Kriegen wären dann ungeschehen, wenn die Europäer nur an Latein als verbindender Sprache festgehalten hätten.
Im Fall von China, glaube ich, dass sogar die Regierung die Notwendigkeit erkennt, die verlorenen Elemente der chinesischen Kultur wiederzubeleben. Doch ist dieses Ziel aufgrund der stattgefundenen Zerstörung von Schriften schwerlich erreichbar. Wie kann China das Wagnis, Teil der Weltengemeinschaft zu werden, eingehen, solange es ihr nur die Nachahmung einer westlichen Konsumkultur entgegenhalten kann? Ich hoffe, dass China den Reichtum der eigenen Sprache erkennt, die Grundvoraussetzung für eine eigene kulturelle Identität ist. Dies beinhaltet auch, den Willen und den Mut zu einer weiteren Sprachreform zu haben, die traditionelle Zeichen und Texte zulässt. Es kann mehrere Generationen dauern, um dahin zu kommen, aber Technologien ermöglichen dies heute mehr denn je.
Beschränkung der Sprache ist eine Beschränkung des Geistes, und gerade heute ist es notwendig, neue Fenster für alte Weisheit zu öffnen, um unsere Menschlichkeit nicht zu verlieren. Hier passt der berühmte Satz von Wittgenstein: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“

Laufende Ausstellungen von Jia:
Infosphere, kuratiert von Peter Weibel, ZKM Karlsruhe, 5.9.2015–31.1. 2016
The Chinese Version, Galerie Arratia Beer, Potsdamer Straße 87, 10785 Berlin, 16.10.–21.11. 2015

Die Künstlerin Jia in ihrem Atelier 2015, Courtesy Jia
Jia „The Chinese Version N°8 (One Hundred Birds)“, 2015, Courtesy Jia