Kultur und Gespenster

Über die aktuelle Ausgabe „SOS Fantômes“ – mit drei Fragen an Gustav Mechlenburg, Co-Herausgeber

2016:April // Alice Goudsmit

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04-2016

Unheimlich schön – Zur gespenstischen Wiederkehr der Dinge

„Kultur & Gespenster“. Was ist das? Ein hochwertiges Druckerzeugnis. Schwer. Fast schon ein Buch. Auf jeden Fall irgendwie solide, aber nicht glossy, kein Hipster-Heft. Was dann? Der klangvolle, aber auch etwas kindische Titel der etwa ein- bis zweimal jährlich im Hamburger Textem Verlag erscheinenden Publikation macht eine Zuordnung schwer, das Objekt allerdings umso begehrenswerter. Schließlich will man lernen – und am liebsten etwas Neues. Und gern auch selbst mal wieder eine Entdeckung machen. Das kommt ja nur noch selten vor, wo alles schon zerlegt und analysiert wurde, und nurmehr Müdigkeit sich vor der Auslage der aktuellen Kunst- und Kulturmagazine breit macht. In „Kultur & Gespenster“ allerdings gibt es noch einiges zu entdecken.
Eine innere Ordnung der Dinge scheint gegeben – ein derart durchgestaltetes Druckerzeugnis muss schließlich durchdacht sein. Es ist eine intelligente Publikation und amüsant noch dazu. Man könnte es im Geiste der Zeit ein „Hybrid“ nennen, als Verschmelzungsversuch von Kultur- und Geschichtswissenschaften, Philosophie, Literatur und Kunst verstehen. Eigentlich aber spricht das große Et-Zeichen als Paarformel zwischen der Kultur & den Gespenstern gerade gegen eine Hybridisierung und stattdessen deutlich für das sich gegenseitige Ergänzen der Disziplinen. Misch-Ehen dieser Art werden fast automatisch den Kulturwissenschaften zugeordnet, einer dankbaren Wissenschaft, der nichts zu fremd, aber alles zueigen ist. Im Falle dieser Zeitschrift – oder ist es ein Magazin? – die ja schon die Kultur im Titel trägt, ist das nicht vollkommen verfehlt. Allerdings auch nicht sonderlich hilfreich, denn wem hilft es zu wissen, dass in dem Heft theoretisch alles Mögliche erscheinen könnte? Stellt sich also vielmehr die Frage nach dem Wie und Warum.
Bemerkenswert, aber nicht verwunderlich und keineswegs uninteressant, selbst jenseits von Elbe und Alster, ist der Hamburg-Schwerpunkt der Publikation. „Kultur & Gespenster“ hat eine loyale Redaktion und ein treues Publikum, und bleibt – wie ein Vergleich mehrerer Hefte nahelegt – seinen Beitragenden, FreundInnen, Bekannten und dem Geschehen in der näheren Umgebung verbunden. Eine kleine Umfrage unter Freunden zeigt die Tendenz: wer einmal „Kultur & Gespenster“ gelesen und gemocht hat, wird es immer wieder tun.
Ein weiteres Merkmal ist, dass entgegen dem Trend zur Internationalisierung der Kunsttheorie „Kultur & Gespenster“ ohne englische Übersetzung erscheint. Eine rein deutschsprachige Zeitschrift muss auf ein internationales Publikum verzichten und kann auch bestimmte Vertriebswege nicht nutzen. Was aber eine oftmals teure, wenn gute, Übersetzung aus dem Budget ziehen würde, kann stattdessen in längere Artikel und gute Gestaltung investiert werden. Auf jeden Fall wird hier alles gegeben. So gelungen und leicht kommt es daher, dass keiner merkt, dass die Bedingungen, unter denen solche Spezialpublikationen entstehen – auch in Hamburg – prekär sind. Das ist schon ein Akt; einer, der nur mit Durchhaltevermögen, guten Kontakten und einiges an Idealismus zu leisten ist.
„Kultur & Gespenster“ ist, könnte man sagen, eine große Zeitschrift unter den schmalen und kleinen: Großzügig wird mit dem Platz umgegangen, sowohl die Länge der Textbeiträge als auch die mehrseitigen Bildstrecken zeugen davon, dass Inhalte über äußeren, formalen Begrenzungen oder Vorgaben stehen. Groß ist auch die Liebe, die im Layout den Details zuteil wird, und groß sind nicht zuletzt die Themen, an die sich Autoren, Künstler und Redaktion heranwagen. In früheren Ausgaben ging es u. a. um Wahrheit, um Märchen und, ­unter dem Titel „Stabile Seitenlage“, um den aktuellen Zustand des Kulturbetriebes. In zwei Ausgaben handelte es von Drogen und mehrere Hefte widmeten sich den mutmaßlichen „Hochstaplern“ – oder Helden – der Kultur. Es geht also um nichts weniger als die Kultur. Eigentlich auch schon ein Gespenst. Und vor allem ein absolut unzeitgemäß großes Wort, das sich niemand mehr so recht zu verwenden traut. Doch bei „Kultur & Gespenster“ traut man sich – und die Erweiterung des Titels um die Gespenster erweist sich als glücklicher Kunstgriff.

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Alice Goudsmit  Ist das „Gespenster“ in „Kultur & Gespenster“ als Anerkennung der Bedeutung von Geschichte zu verstehen?
Gustav Mechlenburg  Ja, auch, wir graben ja gern auch immer wieder mal nicht mehr so bekannte Autoren oder Geschichten aus der Vergangenheit wieder aus. Aber es gibt natürlich auch aktuelle Gespenster und gespenstische Begebenheiten. Außerdem war uns das Wort „Kultur“ allein im Titel doch allzu ehrwürdig ;-)

Der Titel „Kultur & Gespenster“, vielleicht einst als kleiner Jux entstanden, gibt tatsächlich Aufschluss über den Inhalt und seine Formen. Es ist eine Zeitschrift mit dem Schwerpunkt Kultur, aber zugleich auch eine Zeitschrift über Gespenster, im weitesten Sinne. Ehemals zur Auflockerung und als Gegengewicht zum übermächtigen K-Wort entstanden, sind die Gespenster in den vergangenen 10 Jahren und 16 Ausgaben immer wieder Thema oder Stichwortgeber geworden. Dabei wird das gesamte spielerische, ironische und obskurantistische Potenzial dieser Wortkombination ausgeschöpft, aber eben auch Aufklärungsarbeit geleistet.
Der schelmische Titel ermöglicht vieles, was unter einem anderen Namen einer härteren Prüfung unterzogen werden könnte. So hat die Redaktion beispielsweise keine Hemmungen, querbeet und trend-unabhängig alte Geschichten neu aufzulegen oder ausgewählte Ausschnitte aus bestehenden Publikationen erneut zu veröffentlichen, wodurch Theoretiker, Autoren und Künstler unterschiedlichsten Alters und verschiedenster Schulen zusammengebracht werden. Dieses „Mehrgenerationenprojekt“ gelingt auch darum so gut, weil es die gewachsenen Verbindungen zu den Institutionen und Strukturen der Hansestadt und des geografischen Nordens nutzt.
Das Wiederkehren – oder Für-immer-Dableiben – ist ein besonderes Merkmal des Gespenstischen. Dieses Merkmal trägt auch die Struktur dieser Publikation. Zum Beispiel durch die durchgehend gleichbleibenden Titel der Rubriken. So schön und verheißungsvoll verdienen sie es, hier genannt zu werden, die Überschriften der Rubriken des aktuellen 16. Bandes:

DIE LUST UND DIE NOTWENDIGKEIT / DIE SINNLICHE GEWISSHEIT / DER SICH ENTFREMDETE GEIST. DIE BILDUNG / DIE VERSTELLUNG / DAS GESETZ DES HERZENS UND DER WAHNSINN DES EIGENDÜNKELS / DAS GEWISSEN, DIE SCHÖNE SEELE, DAS BÖSE UND SEINE VERZEIHUNG / DIE TUGEND UND DER WELTLAUF.
Seit dem ersten Erscheinen von „Kultur & Gespenster“ im Jahre 2006, einem Heft, das dem Hamburger Schriftsteller und Ethnografen Hubert Fichte (1935–86) gewidmet war, entwickelt sich die Reihe von innen, scheinbar einer eigenen, sich fortwährend entfaltenden Logik folgend. Für Systematiker gleichermaßen wie für Ästheten ist es beim Durchblättern der früheren Ausgaben eine Freude zu entdecken, dass die Titel der Rubriken, Dossiers und Bildstrecken in jedem Heft, ungeachtet des übergeordneten Themas und der untergeordneten Titel einzelner Beiträge, mit kleinen Modifikationen, wie oben bereits geschildert, die Gleichen geblieben sind. Der ästhetische Anspruch, der so vieles zu entscheiden scheint, ist auch in den literarischen Vorlieben der Redakteure zu finden. Nicht nur in den Titeln. Viele der Textbeiträge weisen sprachliche Besonderheit auf und bilden in ihrem uneinheitlichen Zusammenspiel kleine anthologische Kompositionen innerhalb einzelner Ausgaben. Zugleich aber ist „Kultur & Gespenster“ auch ein klassisches Magazin für Kunst und Kultur – mit normkonformen Rezensionen, ausführlichen Bildstrecken und Werbung. Der Redaktion und ihrem trefflichen Gestalter Christoph Steinegger/Interkool (auch Co-Herausgeber) gelingt es dabei auch ohne Hochglanz, dem Heft eine durchgehende Ästhetik zu verleihen. Es sind wirklich alle Seiten sehenswert, selbst das Impressum.

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Goudsmit Leben Gespenster davon, dass man an sie glaubt?
Mechlenburg  Schon, aber sie haben wohl auch ein Eigenleben und man wird sie selbst dann nicht so schnell los, wenn man sich alles rational erklären wollte.

Um diesem Eigenleben der Gespenster, das sich auch innerhalb der Publikationsreihe manifestiert, gerecht zu werden, sind nun in Folge zwei Ausgaben ganz den Geistern gewidmet. Ging es im Heft Nr. 15 mit dem Titel „Ghostbusters“ um die heimatlosen Seelen der Amerikaner, so geht es im vorliegenden Heft 16, „SOS Fantômes“, erschienen im Herbst 2015, um ihre europäischen Kollegen.
Ausgesprochen gespenstisch sind die im einleitenden Text „Urbane Kriegsführung: Durch Wände gehen“ beschriebenen Kriegsszenarien. In diesem Auszug aus dem Buch „Sperrzonen, Israels Architektur der Besatzung“ von Eyal Weizman, erschienen 2009 bei Edition Nautilus in Hamburg, wird geschildert, wie postmoderne Denkmodelle in militärischer Strategie wirksam werden. Der Textauszug ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie ehemals gut gedachte, umstürzlerische Theorien uns in ihrer ideologischen Umkehrung heimsuchen können. Ebenso exemplarisch zeigt er, wie die Gespenster der Geschichte aus zeitgenössischer Kulturtheorie und Praxis kaum wegzudenken sind.
Eben dieses Zeit-Raum-Kombinat wird in besonderer Weise von „Kultur & Gespenster“ thematisch erschlossen. Geschichte wird revitalisiert, mal in Auszügen und Zitaten, mal thematisch und mal andeutungsweise, aber immer ist sie da. Fast schon gespenstisch.
Ein schönes Beispiel offenkundiger Geschichtsbegeisterung und Geisterbeschwörung ist ein Gespräch zwischen Jan-Frederik Bandel und Ulrich Raulff über die Theorielektüre der 70er-Jahre. Ebenso geschichtsträchtig erscheint mir Ralf Schultes Besprechung des Buches „Philosophie des Jazz“ von Daniel Martin Feige.
Man lernt tatsächlich beim Lesen. Vor allem Dinge, von denen man nie geahnt hätte, dass sie einen interessieren könnten. Ich zum Beispiel wusste bis eben nicht, dass mich Theorien der Kriegsführung interessieren können, oder Männer mit Plüschhasenohren. Auch war mir nicht klar, dass ich mich über die Machenschaften des Hochschulsenats der HFBK aufregen könnte, aber die wunderbar zornige Schimpfe Nora Sduns über die geistesschwache Verramschung der Bestände der Kunstbibliothek ist auch als allgemeinpolitische Lektüre empfehlenswert. Wer sucht, der findet. Und wer nicht sucht, sondern nur blättert, findet auch. Und obwohl nicht alles gefällt, so doch auf jeden Fall, dass „Kultur & Gespenster“ keineswegs gefällig ist.
Zum Beispiel gefällt mir auch, dass der inzwischen verstorbene ehemalige Stadtrat Willi Müller aus Gelsenkirchen, dem maßgeblich zu verdanken ist, dass das Gelsenkirchener Musiktheater mit den Werken Yves Kleins geschmückt wurde, hier posthum zu Worte kommen darf. In einem monolog-ähnlichen Interview, aufgezeichnet von Michael Glasmeier im Jahr 1978, spricht eine Stimme aus einer fernen Vergangenheit zu uns. Wie Glasmeier es treffend in seiner Einführung schreibt, „macht der Monolog klar, dass richtige Entscheidungen zur Kunst unabhängig von Theorien getroffen werden können, dass sich die hauptberufliche Kunstszene, die mehr und mehr den Alltag weit hinter sich gelassen hat und sich als Geheimbund zelebriert, vielleicht doch zu wichtig nimmt.“ (S. 85). Humorvolle Entschärfung der Lage ist nicht nur für Glasmeier ein Thema, sondern auch als durchgehendes Anliegen der Reihe „Kultur & Gespenster“ anzusehen. Sich über Kunst zu amüsieren, ist ein seltenes Phänomen und meist mit Fremdschämen oder Unverständnis verbunden. Aber es gibt auch Blickwinkel, wo nicht Ulk betrieben wird, sondern die Strategie des Vergleiches angewandt wird, um über Lustiges aus der Kunst ohne Häme zu berichten. So ist auch der Bericht darüber, wie Künstler dazu kommen, Kunstfelsen für Zoos zu bauen, kein Sich-lustig-Machen, wohl aber ein amüsanter und aufschlussreicher Bericht aus einer ganz anderen Kunstwelt.

Die Bildstrecken dieses Bandes allerdings sind in der Hauptsache themenfern. Zwar sind die Abbildungen der recht historisierend daherkommenden Kleider aus dem Maßanfertigungsatelier „morgentau“ von Marzena Sochacka-Szczepanska im klassischen Sinne hübsch, sie verkommen aber in diesem Kontext zu eher blassem Füllmaterial. Ebenso ergeht es den Fotografien von Kerstin Cmelka und Martin Hoener, nur dass diese in Farbe und Glanz sich deutlich besser durchsetzen. Die Schriftzeichnungen Friederike Feldmanns bekommen berechtigt viel Raum, aber ebenfalls eher als grafische Raumteiler der Texte, was zwar dekorativ ist, aber den Bildern nicht wirklich gerecht wird. Katharina Kohls Dossier „Personalbefragung – Innere Sicherheit“ mit Porträts und Zitaten involvierter Personen aus dem NSU-Prozess gewährt Einblicke in eine weit entfernte und absonderlich erscheinende Parallelwelt. In Jonis Hartmanns illustriertem Reisebericht aus Nepal vor dem Erdbeben sind Bild und Text aus einer Hand und verbinden sich gut zu einer flirrenden Reportage aus einem „Gespensterland“. Am allerschönsten jedoch funktionieren, finde ich, die schweigsamen Bilder der Arbeiten „Ohne Titel“ von Jeanette Fabis, die in ihrer formalen Strenge Ruhe ins Blättern bringen.

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Goudsmit  Gilt es, Gespenster zu bändigen? Einzufangen? Ins Jenseits zu befördern? Oder ist eine bleibende Parallelwelt denkbar und wünschenswert?
Mechlenburg  Ersteres funktioniert wohl eher nicht so. Aufklärung hilft etwas, dann ist ein Parallelauskommen mit gegenseitigem Lernen vielleicht möglich. Es gibt auch nette Gespenster :-)

Mögen die netten Spukgestalten, die es immer gut gemeint haben mit „Kultur & Gespenster“, auch weiterhin in ihrem Wirken ungestört bleiben und Geistreiches wie Schönes aus dem Hause Textem unter dem Namen „Kultur & Gespenster“ entstehen lassen. Es ist zu hoffen, dass hier auch weiterhin Aufklärungsarbeit zum Wirken der Gespenster geleistet wird, dass diese uns nicht so bedrohlich erscheinen und wir mit ihnen als Verbündete unser kulturelles Lernprojekt fortführen können. Alice Goudsmit

„Kultur & Gespenster“ erscheint im Hamburger Textem Verlag, die 16. Ausgabe „SOS Fantômes“ wurde im Herbst 2015 veröffentlicht. Preis 16 Euro.
Doppelseite aus „Kultur & Gespenster“, Nr. 16 „SOS Fantômes“, Text von Nora Sdun
Titelseite „Kultur & Gespenster“, Nr. 16 „SOS Fantômes“