Heidi Specker

Berlinische Galerie

2016:April // Andreas Prinzing

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04-2016

Risse und Kratzer an den Hüllen

Einige Jahre bevor ich, ohne es zu wissen, schräg gegenüber von Heidi Specker einzog, gelangte ich mehr oder weniger zufällig an eine ihrer Editionen. Das Close-up der in den 1960ern erbauten Kirche St. Bernadette du Banlay zeigt feine Abstufungen von Grau, strukturiert durch Spuren des Schalungsholzes, die in der erstarrten Betonoberfläche des bunkerhaften Baukörpers konserviert wurden. Hölzerne Fingerabdrücke. Seither kreuzen sich unsere Wege gelegentlich – sie macht mich auf Eichhörnchen auf dem Nachbarbalkon im Tiergarten aufmerksam, auf metallene Wandpaneele in der U-Bahn-Station oder ein Buch, zuletzt Jürgen Beckers „Eine Zeit ohne Worte“ (1971).
Nun also Studioporträts. „In Front Of“ bildet einen Ausschnitt von Heidi Speckers eigener Generation ab, geboren zur Erbauungszeit jener motivisch von ihr präferierten Architekturen. Waren nicht bereits Serien wie „Concrete“ (2002), das „Landhaus Lemke“ (2008) oder „St. Anna“ (2012) Porträts, wenn auch architektonische Körper umkreist und mit feinem Gespür für Texturen in wechselnden Perspektiven abgetastet wurden? Dem Nebeneinander von gebauter Umwelt und urbaner Flora, das wir aus „Im Garten“ (2003/04) kennen, fügt die Künstlerin nun ein weiteres Kapitel hinzu – Personen aus ihrem Atelierumfeld, welche diese Szenerie im übertragenen Sinne beleben. Inhaltlich betritt sie damit ungewohntes Terrain, doch eines, das viele Fäden mit ihrer früheren Arbeit verbindet; weshalb es auch weniger als radikaler Schnitt denn als konsequente Erweiterung ihrer künstlerischen Praxis verstanden werden sollte. Unter dem Titel der neuen, in den vergangenen zweieinhalb Jahren entstandenen Serie bringt die Ausstellung in der Berlinischen Galerie beides in einer produktiven Konstellation zusammen. Zwei Räume, die dem Klassiker „Im Garten“ gewidmet sind, dienen als seitliche Rahmung für eine Präsentation der kleinformartigeren Porträts im dazwischen liegenden, großzügig dimensionierten Hauptraum. Das funktioniert gut. Die neueren Arbeiten sind meist in Bildpaaren oder kleinen Gruppen zusammengefasst, die spannungsvoll miteinander korrespondieren. Zusätzlich auch eine endlos erscheinende Längswand im treppendurchkreuzten Zentralsaal davor mit einzubeziehen, mag der Menge an Material geschuldet sein, lässt die wunderbaren Arbeiten an dieser Stelle allerdings auch ein wenig verloren wirken. Die Versuchsanordnung, die den Porträts der Künstler, Kuratoren und Kritiker in der Serie „In Front Of“ zugrunde liegt, ist schlicht und für alle gleich. Bloß keine Mythologisierungen. Zwei Atelierwände, schwarz und weiß, ein grauer, etwas verdreckter Boden. Mal eine Tischkante, mal ein angeschnittener Spiegel, so wenig Requisiten wie nötig. Nichts läge ferner, als diese Arbeiten als eine eitle Selbstbespiegelung des Kunstbetriebs zu verstehen. Das ein oder andere Gesicht kommt einem bekannt vor, doch die auf Initialen reduzierten Bildtitel helfen nur dann weiter, wenn ohnehin bereits eine Vermutung existiert, um wen es sich denn handeln könne. Wie den metallisch glänzenden Becher auf einem der rätselhaften Bilder fängt die Fotografin in Haltungen, Blicken und isolierten Gesten ihr künstlerisches Umfeld ein, reflektiert es mit objektivierendem Blick in reduziertem Setting. Ernsthaft, konzentriert, stellenweise aber mit spielerischem Witz. Ähnlich wie die vereinzelten, aus kargem Astwerk bestehenden Bäume, die sie über zehn Jahre zuvor vor formatfüllenden Häuserfassaden erfasste, lichtet sie ihre ungeschönten Modelle isoliert vor der Atelierwand ab. Deren Blicke gehen meist an der Kamera vorbei, nachdenkliche Gesichtsausdrücke dominieren, und auch das sonst bei Porträtaufnahmen obligatorische Lächeln (einmal abgesehen von der Tatsache, dass dieses zwischenzeitlich „biometrietauglichen Gesichtzügen“ weichen musste) sucht man vergebens. Eine melancholische Stimmung grundiert die Serie, in der es wenig gibt, woran sich die Protagonisten festhalten könnten. Und doch ist bei dieser fotografischen Annäherung Empathie spürbar, eine zärtliche Distanz.
Heidi Speckers formal präzise, überwiegend schwarzweiß abgezogenen Arbeiten konterkarieren die repräsentative Funktion der Gattung Porträt. Ebenso, wie die brutalistischen Bauten stets ihre Konstruktion offenlegen, kündet auch die Reihe der Porträts von ihren eigenen Herstellungsbedingungen. Auf Traditionslinien neusachlicher Fotografie Bezug nehmend, fügt sich hier nichts zum gültigen Bild einer Person, alles bleibt mehr oder weniger Fragment. Die teils nur punktuell, teils komplett eingesetzte Farbigkeit verstärkt den konstruktiven Charakter dieser Arbeiten, die immer wieder auf falsche Fährten führen. Auf einer der Wand zugewandten Rückenfigur meint man die Fotografin selbst zu erkennen – doch ist sie es wirklich, die hier eine winzige Fliege unter dem Vergrößerungsglas studiert? Und die Person mit farbiger Perücke und kitschigem Katzenmotiv auf dem Oberteil, handelt es sich um Mann oder Frau? Attribute, die in privaten Interieurs Aufschluss über Tätigkeit und Vorlieben der abgebildeten Personen geben könnten, fehlen. Es ist nicht viel mehr als ein Kratzen an Hüllen und Oberflächen.
Ein zentrales Motiv bilden Hände. In einer Aufnahme sind es die eines Mannes, welche der Porträtierten durchs Haar streichen, ihren Kopf jedoch zugleich – ähnlich wie die in der Frühzeit der Fotografie verwendeten Apparaturen – zu fixieren scheinen. Die Ambivalenz jener Gestik zwischen liebevoller Berührung, schützendem Halt und einengendem Zugriff findet sich auch im Bild einer gesichtslosen Frau in flirrend gemustertem Kleid, die sich zu ihrem Hund herabbeugt, als wolle sie einen davonfliehenden Schatten festhalten. Oder ­jener schrundigen Hand, die sich um das Federkleid einer vermutlich ausgestopften Taube legt. Auf anderen Bildern halten Hände Kunstpostkarten und andere Reproduktionen, nehmen durch Berührung Verbindung zur Tradition der Gattung auf. Einmal hängen die Finger zweier Hände, schutzlos über die Kante eines Holzsockels gelegt, nahezu leblos herab – eine passive Haltung, in der das menschliche Greif- und Tastorgan eine seltsam animalische Gestalt annimmt.
Fast siebzig Porträts sind es, Menschen und Tiere, die Heidi Specker mir beim Studiobesuch zeigt. Dazwischen ein Blick aus dem Fenster. Die Konturen des Atelierhauses zeichnen sich auf der sonnenbeschienenen Brandmauer gegenüber ab, die aus tausenden geschichteter Backsteine besteht. Differenz und Wiederholung. Was sich hinter der Fassade befindet, bleibt unserem Blick verborgen, und auch der Schatten verrät über das Gebäude nicht viel mehr als die Fotografien über die Abgebildeten. Wie heißt es zu Beginn von Jean-Luc Godards „Histoire(s) du cinéma“: „Ne va pas montrer tous les cotés des choses. Garde toi une marge d’indéfini.” (Zeige nicht alle Seiten der Dinge, bewahre dir einen Rest an Unbestimmbarem).

Eine kürzere Version dieses Textes erschien zuerst in Camera Austria International, No. 133 (Frühjahr 2016), S. 13.

Heidi Specker „In Front Of – Fotografien 2005/2015“,
Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, 10969 Berlin, 11.3.–11.7.2016