Kunst aus dem Holocaust

Deutsches Historisches Museum

2016:April // Andreas Schlaegel

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04-2016

Kunst in der Katastrophe

Eigentlich wollte ich gegen das Format Ausstellung anschreiben. Nicht, weil ich Ausstellungen nicht mag, sondern weil ich es liebe, mir Kunst anzusehen – die besondere Erzählform, die visuelle Kunst darstellt, mit ihren vielfach gestaffelten Narrativen, stellt für mich immer noch die Droge der Wahl dar. In anderen Worten finde ich da einen Ort, an dem sich meine Vorstellung immer wieder neu entfaltet. Wenn ich sehe, dass es der Künstlerin oder dem Künstler um alles geht, auch wenn es mir zumindest, zunächst, um nichts geht. Wo auch an den abstraktesten Symbolen und Markierungen meine unmittelbar erlebte Realität wieder neu verhandelt wird und ich deren Grenzen neu erkennen kann, wodurch sich mein Leben wieder anders vermessen lässt. In der Ausstellung erst artikuliert das Kunstwerk eine echte These, als Zeichnung, als Modell, aber auch fertig im Atelier ist das Werk nur Behauptung.
Daran denke ich, wenn ich versuche mich daran zu erinnern, was für mich Kultur bedeutet, was ich ohne Zynismus als eine Errungenschaft von Zivilisation betrachten kann.
Genau deswegen wollte ich gegen die Ausstellung anschreiben. Gegen die Galerie-Ausstellungen, von denen ich zu viele sehe, die zunehmend an Boutiquen erinnern, und gegen deren Strategien – die in ihrem Bemühen nobel zu wirken, dann doch so erstaunlich schäbig daherkommen. Also da wollte ich mit diesem Text eigentlich hin, und es fällt mir leicht Beispiele anzuführen. Aber dann war es ein Zusammentreffen glücklicher Umstände, die dazu geführt haben, dass ich mich doch zur Ausstellung bekennen möchte. Dass es Sinn macht, sich den Werken direkt auszusetzen, auch an erstmal ungewöhnlichen Orten.
Zuerst war da ein Buch von Helga Pollak-Kinsky, das ich mit meiner Tochter gelesen habe. Zusammengestellt aus den Tagebuchaufzeichnung eines zwölfjährigen Mädchens, das nach Theresienstadt deportiert wurde. Mit anderen Kindern besuchte sie dort einen Kunstkurs und die da entstandenen Gemälde sind erhalten geblieben. Im Buch sind sie mit dem Zusatz abgedruckt, dass sie sich in der Sammlung des Yad Vashem befinden. Auf der Suche nach diesen Gemälden besuchte ich die Ausstellung „Kunst aus dem Holocaust“ im DHM.
Ich will an dieser Stelle überhaupt nicht auf die symbolische Qualität der Ausstellung eingehen, auch nicht darauf, dass sie ausgerechnet zu einem Zeitpunkt stattfindet, an dem Rechtspopulisten mal wieder auf erschreckend verantwortungslose Weise mit dem Feuer der öffentlichen Meinung spielen, und sich gleichzeitig die Bundesregierung mit Europa aufs Erbärmlichste durch verbrecherische Deals mit dem türkischen Machthaber kompromittiert. Da suche ich nichts, ich suche einfach nur nach den Gemälden von ein paar Mädchen, die ihre Umgebung festgehalten haben, trotz Verboten und der konkreten Furcht, zu jedem Zeitpunkt ins Vernichtungslager deportiert werden zu können. Zeigen diese Bilder jugendliche Zuversicht, sogar Hoffnung oder lassen sie bereits eine existentielle Verzweiflung ahnen? Lässt sich Widerstand, Träumerei oder Apathie darin erkennen? Im Buch sind sie erstmal nur erstaunlich klar und nüchtern.
Also war ich da und habe die Bilder nicht gefunden. Im historischen Museum war ich überrascht vom Andrang der Besucher, an einem Wochentag war die Ausstellung voll, vor keinem der hundert Werke steht man allein. Alle Arbeiten sind in Verstecken entstanden, ob in Konzentrationslagern oder außerhalb. Daher sind sie alle relativ klein, sie wirken oftmals beinahe privat, oder wie Studien, als ob die Künstler selbst noch damit hadern, was sich vor ihren Augen und in ihrem Leben abspielt. Ja, man kann so etwas Unglauben erkennen.
Auch deswegen, weil dies keine Ausstellung von Arbeiten von Dilettanten ist, sondern von teilweise heute noch hochverehrten Künstlern. Vom Dada-Protagonisten Marcel Janco gibt es beispielsweise zwei besonders energische Zeichnungen, die die alltägliche Gewalt im Nationalsozialismus zeigen. Janco blieb das Lagerschicksal erspart, da es ihm 1941 gelang aus Rumänien nach Israel zu emigrieren, wo er die Künstlerkolonie „Ein Hod“ gründete. Knapp die Hälfte der Künstler, deren Arbeiten hier gezeigt werden, hat den Holocaust überlebt, auch das darf als symbolisches Statement der Organisatoren betrachtet werden, schließlich fand sie im Zusammenhang mit dem 50-jährigen Jubiläum der deutsch-israelischen Beziehungen statt. Und das ist doch als positives Ereignis zu bewerten.
Aber darum sollte es an dieser Stelle nicht gehen. Was mich beeindruckt hat, war, dass die Bilder immer noch als Kunstwerke Relevanz besitzen, und zwar als Einzelwerke und nicht nur Teil einer Sammlung von großer und tragischer Symbolik, und auch nicht nur als historische Dokumente. Woran liegt das?
Wer sich die Zeichnungen und Gemälde ansieht, kommt nicht umhin zu erkennen, dass sie meistens einfach einen alltäglichen Augenblick festhalten. Die Art, wie dieser Augenblick eingefangen wird, lässt nicht nur die (Aus-)Bildung des Künstlers erkennen, sondern auch die Erwartung einer entsprechenden Vorbildung der Betrachter. Darin kann man letztlich auch eine politische Haltung der Künstler ablesen, die sich in dem wahrnehmbaren Bemühen ausdrückt, den Augenblick einzufangen und für sich selbst sprechen zu lassen. Es verwundert nicht, dass die meisten Künstler sich dem Stil der neuen Sachlichkeit oder einem moderaten Expressionismus verpflichteten, Stilrichtungen, die von den Nationalsozialisten besonders diffamiert und verfolgt wurden. Wenn man die Betrachtung der in jedem Fall tragischen Geschichte der Künstler, also deren Leiden und Tod, oder meist nur knappes Überleben des Nazi-Terrors, zurückstellt, ebenso wie die oft irrwitzigen Geschichten, wie beispielsweise die Arbeiten von Jacob Lipschitz im Friedhof des Arbeitslager Kaunas versteckt und von einem Bekannten gerettet wurden, dann bleibt nur das Motiv zur Betrachtung übrig. Wenn ich die Künstler als Künstler ernst nehmen und nicht in erster Linie als Opfer betrachten will, dann muss ich mich seiner oder ihrer Arbeit stellen, das war mir klar, das bin ich jedem Künstler schuldig.
Was mich überrascht hat, ist, dass es mir leicht fiel. Nicht nur bei den bekannten Namen, Ludwig Meidner, Felix Nussbaum, Charlotte Salomon, um nur ein paar zu nennen. Natürlich ist die Biographie kaum vom Werk zu trennen, aber es ist spannend zu sehen, dass es sich teilweise um großartige Arbeiten handelt. Dass die Unmittelbarkeit der Zeichnung, des Aquarells, und etwas weniger der wenigen Ölgemälde, heute noch spürbar ist. Das beginnt oft beim Sujet: ein Aquarell der Schlafgelegenheiten erinnert nicht nur sofort an die kargen Doppelbetten in den Turnhallen, die in Notunterkünften für Flüchtlinge umgewandelt wurden. Es ist auch erstmal ein Interieur, voller Details, die auf die Personen verweisen, die dort schlafen, und macht so deutlich, dass auch im Lager ein Individuum ein Individuum bleibt.
Bei der abgebildeten Enge ist es auch erstaunlich, dass diese Bilder damals überhaupt entstanden sind – und nun hier zu sehen sind. Neben den Bestandsaufnahmen, zu denen auch die Karikaturen diabolisch sadistischer und fetter Lageraufseher zu zählen sind, gibt es Darstellungen von Träumereien, aus denen die Hoffnung spricht, dem ungewissen Schicksal doch noch auf die eine oder andere Weise zu entfliehen. Naturdarstellungen weisen oft in diese Richtung, Berge in der Ferne, Lagerbaracken und ein kleiner Zitronenfalter, der auf dem Stacheldraht sitzt („Ein Frühling“, von Karl Bodek und Kurt Löw, 1941). Letzterer ist auch das Plakatmotiv der Ausstellung, und wirkt da zu symbolisch, das Originalaquarell ist winzig, gerade postkartengroß, kaum größer als ein Schmetterling, und gerade deswegen so unfassbar und endlos traurig.
Oder die beiden Mädchen, in Blumenkleidern, die auf einer grünen Wiese vor dem Wald spazieren gehen, mit Sonnenschirm und Picknickkoffer. Gemalt von der kleinen Nelly Toll, die von Nachbarn versteckt wurde und die als eine von ganz wenigen Juden Lembergs (heute Lviv in der Ukraine) den Holocaust überlebte. Um nicht entdeckt zu werden, musste sie hinter einer falschen Wand immer ganz still sein, und träumte sich in ihren Bildern in eine Welt, in der sie tun konnte, was sie wollte. Es sind vielleicht die einzigen Kinderbilder in der Ausstellung.
Auch wenn die Bilder scheinbar das Alltäglichste festhalten, lässt sich doch das so wenig Alltägliche der Situation erkennen, in denen sie entstanden, seien es die unmenschlichen Lebensbedingungen der Lager oder die furchtbare Angst im Versteck. Die wenigen dicken Striche auf einem grob gezeichneten Rücken stellen da die Spuren der eingesteckten Prügel dar und dokumentieren trotz ihrer Einfachheit das Erlebte. Über den Charakter der Aufzeichnung hinaus, sind dies überzeugende Arbeiten, gerade weil sie so klar sind und so selten eine symbolische Überhöhung benötigen. Selbst im Angesicht des Todes versuchten die Künstler, sich Klarheit zu verschaffen. Am Eindringlichsten lässt sich dies in den Porträts ablesen, die die Lagerinsassen zeigen, nicht als anonyme Opfer, sondern als oft junge Menschen, Individuen, alle mit einem eigenen Leben.
Auch darin zeigt sich nicht nur ein politischer und rebellischer Impuls, der im künstlerischen Stil schon angelegt erscheint, wenn es darum geht, das Unrecht aufzuzeichnen, es festzuhalten, und es aber auch um jeden Preis zu überliefern. Diese Dringlichkeit blitzt immer wieder auf, an unterschiedlichen Stellen, wie in der Hitler-Karikatur des Prager Arztes Pavel Fantl, der den Diktator als betrunkenen Clown darstellt, der sich die Hände blutig gespielt hat, und mit Gummibeinen an eine Straßenlaterne gelehnt, gerade noch steht. „Das Lied ist aus“ heißt es. Kurz bevor der Künstler ermordet wurde, gelang es ihm, dieses und weitere Blätter einem tschechischen Bahnarbeiter zu übergeben, der sie aus Theresienstadt herausschmuggelte und bis Kriegsende in seiner Wohnung verbarg.
Vielleicht sind die Bilder doch nicht von ihrer Geschichte zu trennen. Groß sind sie dennoch. Dass Kunstmachen etwas mit Überlebenswillen zu tun hat, und damit, sich ein klares Bild der eigenen Welt zu machen, daran hat mich diese Ausstellung nachhaltig erinnert. Auch daran, dass es immer darum geht, der Nachwelt etwas von der eigenen Erfahrung zu hinterlassen, so furchtbar diese auch gewesen sein mag. Und dass es eben doch um etwas geht, wenn man anscheinend nur ein paar Porträts, Interieurs oder Stadtansichten malt. Denn genau an ihnen wurden die Grenzen der Realität von der bis dahin unvorstellbaren Unmenschlichkeit neu gezogen, und die Künstler haben dies festgehalten, während es ihnen selbst passierte, auch drüber staunend, und sicher darunter leidend. In ihren Bildern bemühen sich die Künstler auch um Würde und sind damit unvorstellbar weit entfernt von den grausamen Dokumenten, die das massenhafte Sterben in den Lagern nach dem Ende des Krieges festhalten und die Opfer für immer als kaum noch menschliche darstellen.
Das scheint alles lange vorbei. Aber man darf sich nicht in der Sicherheit wiegen, daß die Grenzen der Realität nicht dauernd weiter verhandelt werden, und dass wir lernen, uns andere, noch furchtbarere Dinge vorzustellen, von der sogenannten Flüchtlingskrise, die doch vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Krise der politischen Ethik ist, bis zur sogenannten Klimawende, aus der bereits eine völlig unkontrollierbare Katastrophe geworden ist, die bereits zahlreiche Todesopfer fordert hat und noch viel mehr fordern wird. Wir stecken doch alle bis zum Halse drin, in unserer katastrophalen Gegenwart. Warum sehe ich dann so selten eine Ausstellung, die sich selbstbewusst mit dieser auseinandersetzt? Warum sehe ich die ausgerechnet im Deutschen Historischen Museum?Andreas Schlaegel

„Kunst aus dem Holocaust – 100 Werke aus der Gedenkstätte
Yad Vashem“, Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, 10117 Berlin, 26.1.–3.4. 2016