Exhibitism

Gedanken über das Ausstellen im zeitgenössischen Raum

2016:April // Marc Wellmann

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04-2016

Auf praktischer Ebene geht es bei Kunstausstellungen darum, Gegenstände in einen Raum zu stellen oder an den Wänden anzubringen (bzw. die entsprechende Technik dafür in Gang zu setzen), damit diese Objekte für eine bestimmte Dauer ihre Wirkung entfalten. Eigentlich hatte ich vor, bei diesem Beitrag über das Verhältnis von Ausstellungen und Öffentlichkeit ganz auf die Metapher des Exhibitionisten zu setzen, worauf auch der im Titel eingebaute Lapsus hinweist. Der Akt der Entblößung ist für sich genommen sinnlos, wenn es kein Publikum gibt, dessen Reaktion das eigentlich Stimulierende an dieser sexuellen Aberration darstellt. Der Vergleich ist sicher nicht neu, dachte ich mir, kann man aber ruhig mal wieder bringen. Das Problem ist jedoch, abgesehen von der sicher nicht zielführenden Konnotation mit einer Perversion, dass für eine erfolgreiche Signalübermittlung drei Dinge nötig sind: Sender, Medium und Empfänger. Was ist also das Medium des Exhibitionisten? Wahrscheinlich das Geschlecht oder allgemein die Nacktheit. Das hat man sich natürlich nicht nur phallisch vorzustellen, denn es gibt ja auch weibliche Formen der im kultischen Zusammenhang Anasyrma genannten Zur-Schau-Stellung des nackten Körpers, etwa aktuell bei den FEMEN-Aktivistinnen. Aber bei der Frage des Mediums hinkt der Vergleich zwischen dem Akt des Ausstellens und dem Exhibitionismus gewaltig. Wenn man im semiotischen Sinne den Sender als die Künstler begreift und den Empfänger als die Öffentlichkeit, so verschmelzen im Medium der Ausstellung die Werke der Künstler ortsspezifisch mit dem Raum, in dem sich diese befinden, also mit der Institution, der Galerie oder mit anderen temporären Situationen, zu denen ja auch der Stadtraum oder landschaftliche Settings gehören können. Der mit einer Ausstellung zusammenhängende Entscheidungs- und Arbeitsprozess ist so ziemlich das Gegenteil einer Entblößung. Sicher präsentieren sich Künstler (und auch Kuratoren) im Medium der Ausstellung einem Publikum und werden auf dieser Basis bemessen und beurteilt. Aber sie stehen ja nicht nackt da, sondern das Medium Ausstellung ist das Produkt weitreichender Verstellungen und Verhüllungen, an dem die Betrachtenden integral partizipieren. Dieser Vorgang ist eher an die Bekleidung des Körpers angelehnt, die als sichtbare Oberfläche auch Kontakt zu ihrem Träger besitzt. In Ausstellungen können auch menschliche Seiten der Künstler hervortreten, aber zunächst ist sie ein ziemliches Konstrukt, das dem Urteil der Öffentlichkeit überantwortet wird.
Also versuchen wir es mit einem anderen Vergleich. Nehmen wir an, der letzte Mensch auf Erden sei ein Künstler. Bringt er dann noch Kunst hervor? Jedenfalls nicht im Sinne des derzeit geltenden Kunstbegriffs. Was als Kunst wahrgenommen wird, ist das Ergebnis einer gesellschaftlichen Abmachung, also ein kollektiv geschaffenes Gebilde, das von einem politischen und rechtlichen Rahmen umfangen ist, der sich in unserem Gesellschaftssystem vor allem auf ein Konzept von Freiheit gründet. Innerhalb dieses Rahmens ist Kunst ein stark wirkendes soziales Kommunikationsmedium. Kunstausstellungen konkurrieren als Freizeitaktivität mit anderen Formen gehobener Zerstreuung (vulgo: „Kulturangebote“), gelten als Attraktoren für Touristen und stiften eine hybride Form von Gemeinschaft, deren professionelles Zentrum als Kunstbetrieb (früher „Kunstszene“) bezeichnet wird. Mit Kunstausstellungen gehen öffentliche Institutionen ihrem Bildungsauftrag nach. Dabei geht es immer um ein menschliches Erlebnis, wobei sich die damit zusammenhängende Erfahrung ästhetisch, sinnlich oder auch rein diskursiv erschließen kann.
Als Institution hat man aus dieser performativen Perspektive die Funktion einer „Spielstätte“. Als deren Leiter ist man weniger Ausstellungsmacher als Ausstellungsveranstalter, der sich an der Schnittstelle zwischen Kunst und ihrem Publikum um den Zustand der Toiletten genauso sorgen muss wie darum, dass die Aufbauhelfer bezahlt werden. Neben dem schieren Ermöglichen, dem Raumgeben und der institutionellen Stützung jener Plattform, auf der die Ausstellung steht, zählt aber zur Kernkompetenz der Körperschaft vor allem das Vermitteln der Ausstellung an das potenzielle und konkrete Publikum. Die damit verbundenen Rituale haben sich seit den frühen Formen höfischer Sammlungspräsentationen nicht geändert: Objekt- bzw. Raumbeschriftungen, das Kunstgespräch vor dem Original und die Herausgabe begleitender Drucksachen. Neu hinzugekommen ist im Zuge der bürgerlichen Aneignung des Kunstbegriffs neben der Besucherresonanz die Ausstellungsberichterstattung und Kunstkritik als wesentlicher Maßstab für die Frage nach der öffentlichen Relevanz eines Projektes. Die aktuelle Entgrenzung und Spiegelung von Ausstellungsinhalten in digitale Medien ist nur eine weitere Filiation dieser im späten 18. Jahrhundert einsetzenden Wandlung von Öffentlichkeit.
Künstler verfügen über unterschiedliche Pforten oder Membranen zur Öffentlichkeit. Die Einladungen ins Atelier, ihre Internet- oder Facebookseite oder auch noch das Buch als klassisches Medium der Werkzirkulation. Bislang unangefochten galt jedoch die Ausstellung als Königsdisziplin der Sichtbarmachung von künstlerischen Positionen. Im Zuge einer Übergewichtung von Kunst als Ware oder gar Spekulationsobjekt sind wir indes Zeuge eines tiefgreifenden Wandels und Bedeutungsverlustes dieses Formats und der ausrichtenden Institutionen. Wenn in kleineren Zirkeln, auch über den Einsatz bestimmter Algorithmen und weitgehend ohne Beteiligung der Öffentlichkeit über monetäre Werte von Kunstwerken entschieden wird, aus denen sich zunehmend ihre Bedeutung speist oder diese sogar ersetzt – ein Blick auf die Seite ­artrank.com reicht, um diese These zu belegen –, dann privatisiert sich in Form einer Abkopplung ein großer Teil dessen, was immer noch Kunst genannt wird ohne je in Ausstellungen greifbar zu werden; abgesehen vielleicht von Vorbesichtigungen in Auktionshäusern.