Thomas Bayrle

Christoph Bannat im Gespräch mit Albrecht Kastein

2016:April // Christoph Bannat

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04-2016

„Es ist ein Riesenglück, morgens die lachenden Kühe von Thomas Bayrle zu begrüßen“

Es ist Dienstag, 19 Uhr. Ich sitze beim Urologen im Wartezimmer. Die Sprechstunde ist vorbei und ich warte auf Dr. Albrecht Kastein. Hinter mir an der Wand hängen Bel-Käseschachteln. Nein, kein Albtraum.

Albrecht Kastein /    Als Du mich wegen des Interviews angefragt hast, dachte ich zunächst, dass Du eigentlich fünf Jahre zu früh kommst. Die Ausstellungsreihe hat ja erst begonnen. Da kommen hoffentlich noch viele Jahre Praxis und viele Ausstellungen. Bis jetzt gab es Ausstellungen von Arturo Herrera, Marcus Weber und aktuell Thomas Bayrle. Die Idee, Ausstellungen in der Praxis zu veranstalten, kommt auch gar nicht von mir. Wir hatten die Praxisräume renoviert und ich fragte Arturo Herrera, ob er uns Arbeiten, vielleicht Graphiken, leihen könne. Er gab uns die phantastische Collagenserie ‚KFA‘, die im Wartezimmer als Fries gehängt wurde. Die Leihgabe der 28 Blätter war mit der Auflage verbunden, dass ich vier Monate später Werke des nächsten Künstlers zeigen sollte. Von Marcus Weber hing dann anschließend eine über drei Meter lange horizontale Leinwand, auf der in Büchern vertieft Lesende vor einer imaginären Mondlandschaft zu sehen waren. Die Lesenden schwebten über den Köpfen der wartenden Patienten. Diese konnten im Gegenzug in den abgebildeten Büchern lesen, u. a. Romane von Alfred Kubin, Evgenij Samjatin und Tom Wolfe, die als Alternative zu den sonst üblichen Illustrierten auf den Tischen im Wartezimmer auslagen.
Christoph Bannat /    Wie geht es weiter?
Kastein /    Sunah Choi wird nach Thomas Bayrle die nächste Ausstellung machen.
Bannat /   Hast Du zuvor schon Ausstellungen organisiert?
Kastein /    Vor vielen Jahren haben mich Yvonne Quirmbach und Jörn Bötnagel eingeladen, in Köln in ihrem Projektraum eine kleine Philip-Guston-Ausstellung, nur mit Plakaten, ­Lesestoff und dem großartigen Dokumentarfilm über Guston von Michael Blackwood zu veranstalten. Dazu ist dann auch eine Publikation erschienen. Giti Nourbakhsch gab mir eine Carte blanche für eine Hans-Jörg Mayer Ausstellung. Einen Tag vor der Eröffnung erfuhren wir, dass es vor der Schließung der Galerie die letzte Ausstellung sein würde. Im vergangenen Jahr habe ich im Estate von Michel Majerus eine Ausstellung kuratiert, zu der ich Thomas Bayrle eingeladen habe.
Bannat /   Wie wählst Du die Künstler aus?
Kastein /    Mit vielen Künstlern bin ich befreundet. Das ist dann einfach eine Herzenssache.
Bannat /   Gibt es etwas, was Du erreichen möchtest? Eine Idee?
Kastein /    Bisher hatten mein Beruf und meine Leidenschaft für die Kunst eigentlich nichts miteinander zu tun. Oder nur in dem Sinn, dass ich halt hin und wieder durch die Arbeit etwas kaufen konnte. Doch der Kunstmarkt hat in den letzten zehn, fünfzehn Jahren eine Dominanz bekommen, dass mir der Spaß daran vergangen ist. Die Ausstellungen in der Praxis finden außerhalb des Kunstbetriebs statt, weder in kommerziellen noch in privaten Räumen. Sie sind jedermann zugänglich und die Begegnung mit der Kunst kommt für viele unerwartet. Das Ausloten der Möglichkeiten dieses Formats interessiert mich und natürlich die Zusammenarbeit mit den Künstlern und der berufliche Alltag mit den Werken. Es ist einfach ein Riesenglück, morgens in die Praxis zu kommen, unser Team und dann die lachenden Kühe von Thomas Bayrle zu begrüßen. Mit großer Freude habe ich auch festgestellt, dass inzwischen unsere Mitarbeiterinnen, die bislang mit Kunst nichts am Hut hatten, den Patienten kleine Führungen geben. Mit ihnen passiert also auch etwas.
Bannat /    Würdest Du Dich als Sammler bezeichnen?
Kastein /    Nein, ich habe Arbeiten von Freunden kaufen dürfen. Nennen wir es so.
Bannat /   Verkaufst Du auch?
Kastein /    Ja, ich habe für meinen Forschungsaufenthalt in Amerika Arbeiten verkauft. Da war einfach die Finanzierung noch nicht gesichert. Es waren Graphiken von Blinky Palermo. Die würde man mit Geduld irgendwie immer wieder bekommen.
Bannat /   Kannst Du Dich an Dein erstes gekauftes Bild erinnern?
Kastein /    Ja, das war von dem Graubner-Schüler Martin Conrad. Dann 1984 eine Walter-Dahn-Zeichnung.
Bannat /   Wie alt warst Du da?
Kastein /    Ich bin 1966 geboren, in Hamburg. Das muss als Schüler gewesen sein. Ich habe in Hamburg-Norderstedt in den Sommerferien mit einem Freund in einer Fabrik für Rasierschaum gearbeitet und rund 800 DM bekommen. Für 400 DM habe ich dann zwei Zeichnungen gekauft. Später kamen dann Holzschnitte von Gustav Kluge und Felix Droese dazu. Die Produzentengalerie und Ascan Crone waren für mich damals wichtige Anlaufpunkte.
Bannat /   Erinnerst Du Dich an Dein erstes Bild, das Du bewusst, vielleicht nicht als Kunst, aber wahrgenommen hast?
Kastein /    Ich kann mich ziemlich genau an einen Besuch mit meinen Eltern in der Hamburger Kunsthalle erinnern. Da hing ein Porträt, das Otto Dix von seinem Sohn als Kleinkind gemalt hatte. Dix’ Sohn, im ähnlichen Alter wie ich damals, schaute mich direkt an. Das hat mich schon sehr irritiert.
Bannat /    Kleinkind heißt mit vier oder fünf Jahren?
Kastein /    Ja.
Bannat /   Das heißt, Deine Eltern sind kunstinteressiert?
Kastein /    Ja, aber nicht überdurchschnittlich. Später wollte ich Kunst studieren. Ich saß öfter bei Michael Hauptmann in den Hamburger Colonnaden auf dem Sofa. Dort habe ich auch Heino Jaeger kennengelernt – eine unvergessliche Begegnung. Anschließend habe ich meine Eltern überredet, eine Zeichnung von Jaeger zu erwerben. Die hängt noch heute bei ihnen über dem Telefon.
Bannat /   Also Deine Eltern haben Dich schon unterstützt?
Kastein /    Auf jeden Fall! Sie haben mir auch einen Aufenthalt in der Sommerakademie in Salzburg bei Wolf Vostell finanziert. Ich glaub, das war 1984. Eigentlich war ich bei Werner Tübke eingetragen. Der saß da; schwarzer Anzug, weißes Oberhemd mit schwarzer Krawatte, und die Studenten mussten den ganzen Tag Faltenwürfe zeichnen. Das hab ich nur einen halben Tag mitgemacht und bin dann zu Vostell.
Bannat /   Was arbeitet Dein Vater?
Kastein /    Er ist Kinderarzt.
Bannat /   Deine Mutter?
Kastein /    Sie hat Zahnmedizin studiert, hat aber nicht praktiziert.
Bannat /   Geschwister?
Kastein /    Ja, ich habe zwei Schwestern. Die ältere ist Gynäkologin, die jüngere arbeitet bei der deutschen Ausgabe der ‚Le Monde diplomatique‘.
Bannat /   Warum bist Du Arzt geworden?
Kastein /    Nach dem Abi habe ich im OP des Elim-Krankenhauses in Hamburg Zivildienst gemacht. Das war sicher eine sehr prägende Zeit. Es gab einen ungarischen Chefarzt der Anästhesie, zu dem ich einen Draht hatte. Es stellte sich heraus, dass er Kunst sammelte. Ich wusste recht früh, dass ich kein Künstler bin, auch wenn ich heute noch gerne zeichne. Galerist wäre für mich auch nichts gewesen. Dazu bin ich zu wenig Geschäftsmann. Und Kunstgeschichte, über Kunst zu schreiben, habe ich mir einfach nicht zugetraut, auch wenn mich bis heute die Fußnoten am meisten interessieren.
Bannat /   Aber wieso konntest Du als Zivildienstleistender in den OP-Saal?
Kastein /    Also, ich war derjenige, der die Patienten in den OP-Trakt eingeschleust, d.h. vom Bett auf die OP-Liege transportiert hat. Später haben sie jemanden gesucht, der die Haken am OP-Tisch hält.
Bannat /   Haken sagen mir nichts.
Kastein /    Es sind Instrumente zur Darstellung des Operationsfeldes.
Bannat /   Warum bist Du Urologe geworden?
Kastein /    Ich wusste im Studium schon, dass ich gerne operieren würde. Eigentlich wollte ich Kinderchirurg werden, hatte schon eine Arzt-im-Praktikum-Stelle hier in Berlin, per Handschlag versprochen. Als es dann soweit war, konnte sich der Chefarzt an die Abmachung nicht mehr erinnern. Da stand ich dann ohne Job da. Mitte der 90er-Jahre war die Situation für junge Ärzte nicht einfach. Ich bin dann bundesweit durch die Lande getingelt und habe mich in etlichen kinderchirurgischen Abteilungen beworben. Ich dachte, dann fängst Du halt mit der Urologie an, weil dieses Fachgebiet in der Kinderchirurgie eine wichtige Rolle einnimmt. Die Nieren werden in der siebten Embryonalwoche angelegt und sind sehr anfällig für Fehlbildungen. Heute bin ich glücklich, dass ich die Urologie gefunden habe. Es ist ein enorm breites Feld. Du behandelst alle Altersklassen, beide Geschlechter, es ist ein operatives Fach und Du führst natürlich auch interessante Gespräche. Einige Patienten reden mit dem Urologen über Dinge, über die sie nicht mit ihrer Ehefrau reden würden.
Bannat /   Verändert es das eigene Verhältnis zur Sexualität?
Kastein /    Ich vermute, es bereichert eher.
Bannat /   Ist man anfällig für Philosophie als Arzt?
Kastein /    Es ist sicher eine Altersfrage, unabhängig ob Du Arzt bist oder nicht. Aber als Arzt bist Du natürlich zwangsläufig mehr mit Krankheiten und auch traurigen Lebensläufen konfrontiert.
Bannat /   Zurück zu Thomas Bayrle. Wie sah der Aufbau aus?
Kastein /    Thomas Bayrle hat vorab die Praxisräume besucht, hat Maß genommen und mit Hilfe von Harald Pridgar eine Wandarbeit entworfen, die auf einem Siebdruck von 1967 basiert. Auf den tapezierten Siebdrucken wurde eine zweite Schicht Siebdrucke, die Arbeiten ‚Kuhmädchen‘ und ‚Kuhfrau‘, sowie die Käseverpackungen für ‚La vache qui rit‘, die Thomas für den französischen Käsehersteller entwarf, fixiert. Auf einer Palette kam dazu der Käse über Paris und Frankfurt nach Berlin. Begleitet von einer beeindruckenden Menge an Rotwein wurde er zur Eröffnung der Ausstellung verspeist.
Bannat /   Wie werden die Arbeiten wahrgenommen?
Kastein /    Das ist sehr unterschiedlich. Neue Patienten nehmen die Arbeiten oft überhaupt nicht wahr. Ich habe aber festgestellt, dass sich inzwischen viele geradezu begeistert zeigen. Einige kündigen sogar ihren Besuch der Ausstellungen an, ohne die ärztliche Konsultation in Anspruch nehmen zu wollen. Für jede Ausstellung erscheint eine Karte, die von Yvonne Quirmbach entworfen wird. Diese Karten sind mir als Einladungs- und Postkartenliebhaber sehr wichtig. Ich ermuntere immer die Patienten, sie mitzunehmen. Sie sollen wie Panini-Sammelbilder funktionieren. Wenn es ein Ziel gibt, dann würde ich mir wünschen, dass die Patienten irgendwann im Wartezimmer sitzen und die Karten miteinander tauschen.

Thomas Bayrle, Urologisches Zentrum Berlin-Steglitz,
Leonorenstraße 95, 12247 Berlin
Thomas Bayrle „Kühe“ (Ausschnitt), 1967/2015