Boris Lurie

Jüdisches Museum

2016:September // Anna-Lena Wenzel

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09-2016

Der kleine pieksige Unbekannte

Eine Ausstellung im Jüdischen Museum und zwei Filme mit und über Boris Lurie, die im Rahmenproramm gezeigt wurden, bringen mir einen Künstler näher, von dem ich zuvor noch nie gehört hatte, dessen Werke mich aber auf verschiedenen Ebene bewegten: weil sie so kompromisslos und radikal sind; weil sie anders sind, sich aber zugleich mühelos kontextualisieren und mit anderen Künstlerpositionen in Bezug setzen lassen, und: weil sie die Dringlichkeit der Erfahrungen des Holocaust anschaulich machen und zeigen, was passiert, wenn diese traumatischen Erfahrungen auf das gesättigte oberflächliche Amerika treffen.
Boris Lurie wurde 1924 als Sohn einer jüdischen Familie in Leningrad geboren. Er wuchs in Riga auf und überlebte gemeinsam mit seinem Vater den erzwungenen Aufenthalt in mehreren Ghettos und Konzentrationslager. 1946 wanderte er in die USA aus, wo er als Künstler lebte und 2008 verstarb. Das Thema Shoa zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk: In vielen Arbeiten taucht der Judenstern auf und Schriftzüge wie „A Jew Is Dead“. Aber das ist nicht alles. Seine Kunst war experimentierfreudig, entstand aus einer (persönlichen) Dringlichkeit und besaß ein (politisches) Anliegen. Lurie war ein Künstler, der ständig Neues ausprobierte, der malte, collagierte und Installationen entwarf. Er war Dada-, Fluxus- und vor allem No!art-Künstler. Ein politischer Künstler, der sich dezidiert gegen die Kommerzialisierung der Kunst zur Wehr setzte und den Kunstmarkt ebenso mied wie etablierte Institutionen. Die NO!art-Bewegung, die ein nicht-kommerzielles, kritisches Kunstverständnis vertrat, gründete er Ende der 1950er-Jahre mit seinen Freunden Sam Goodman und Stanley Fisher. Das kleine Kollektiv verstand sein künstlerisches Schaffen als prinzipiellen Gegenentwurf zum gängigen Kunstbetrieb und zog gemeinsam in einen „militärischen Feldzug gegen die Pop Art“, wie Lurie selber es formulierte.1
Die Ausstellung beginnt jedoch zunächst mit malerischen Werken aus den 1950er- und 1960er-Jahren, auf denen der Holocaust in mal mehr, mal weniger expliziter Form greifbar ist: Eine Werkreihe von Frauenporträts bildet deformierte Körper ab, die an Francis Bacon erinnern; die „Saturation Paintings“ zeigen bedrückende Szenen, auf denen sich Menschen zusammendrängen oder von Stacheldraht umzäunt werden. Und dann werden hier die ersten Collagen gezeigt, auf denen Lurie dokumentarische Fotos des Holocaust mit Bildern von Pin-up-Girls kombiniert, die er amerikanischen Zeitschriften entnommen hat. Für diese Kombinationen ist Lurie verständlicherweise heftig kritisiert worden. Doch genau das wollte er: mit seiner Kunst provozieren und mit dem Finger dahin zeigen, wo es wehtat: auf die Oberflächigkeit und Doppelmoral der US-Amerikaner im Allgemeinen – und ihrer Politiker im Besonderen. Statt den Holocaust in Europa zu belassen, machte er das Trauma auch zu einem amerikanischen Thema und kritisierte darüber hinaus kolonialistische, imperialistische und sexistische Tendenzen in der ganzen Welt.
Ergänzt werden die künstlerischen Arbeiten durch einen Raum mit Dokumentarfilmen über Lurie. In mehreren Filmen sind Atelierbesuche in New York kurz vor Luries Tod festgehalten. Hier, in seinem ungeordneten, vollgestopften Atelier, wird die Person Lurie greifbar und zeigt sich als eigenwilliger Charakter, herzlich und unnahbar, geprägt durch die Erfahrungen des Holocaust. Ein zentrales Motiv: das Bemühen, kein Opfer, sondern Akteur zu sein.
Die Ausstellung wirft erneut die Frage nach dem Kunst-Kanon auf. Warum haben es diese Arbeiten nicht in den Kanon (also in die Sammlungen und Kunstgeschichtsbücher) geschafft? Weil sie zu provokant waren? Weil sie den Schmerz des Holocaust erlebbar machten, den man in der Nation des Fortschrittglaubens lieber schnell vergessen wollte? Oder weil der Künstler es nicht wollte? Lurie hat den Kunstmarkt stets verabscheut und kaufte am Ende seines Lebens, durch das Erbe seines Vaters und geschickte Geschäfte an der Börse ein vermögender Mann geworden, Werke zurück, weil er seinen Nachlass zusammenhalten wollte, das berichtete Matthias Reichelt, der Boris Lurie mehrmals in seinem Atelier besuchte und dessen Film „Shoah & Pin-ups: Der NO!-Artist Boris Lurie“ im Rahmenprogramm lief. Heute kümmert sich eine Stiftung um die fachgerechte Aufbewahrung und Vermittlung seines Nachlasses. Ein Glück, denn so ist es möglich, dass man in der umfassenden Präsentation seines Œevres einen Einblick in ein noch weiter zu entdeckendes Lebenswerk bekommt. Schade allein, dass man nicht noch mehr von Luries Textproduktion mitbekommen hat, aus der einzelne, prägnante Sätze an den Ausstellungswänden angebracht waren und in einem befremdlichen Baltendeutsch neugierig machten auf mehr.

„Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie“,
Jüdisches Museum, 26.2.–31.7.2016


1  Vgl. Stefanie Endlich über: „Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie“, Jüdisches Museum Berlin, in: H-Soz-Kult, 21.05.2016, www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-238