Selbstliebe als Revolution

Neben Selbstausbeutung und Self-Care – Selbstliebe als Chance im Neoliberalismus

2016:September // Seraphine Meya

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09-2016


Die Aufforderung „Liebe dich selbst!“ hat sich verbreitet wie ein Lauffeuer. Seit den weisen Sprüchen auf dem Yogi-Tee hat sich viel getan und die Selbstliebe wurde losgelöst von ihrem eigentlichen Zusammenhang. Inzwischen rät nicht nur Tee, sondern eine ganze Reihe von Wellnessprodukten zur Selbstliebe bzw. zu Self-Care. Laurie Penny beschreibt in dem wunderbaren Artikel „Life-Hacks of the Poor and Aimless“ in The Baffler die gesellschaftlichen Untiefen, die der Aufruf zur Selbstliebe nach sich zieht und wie positives Denken in einer Zeit des frei herrschenden Marktes zum Ersatz für Sozial­versicherungen wird. Doch was ist diese Selbstliebe eigentlich und wieso reicht es nicht, sie als neoliberalen Feel-Good-Trend abzutun?
Die Selbstliebe, die ebenso wie viele andere philosophische Ideen dem neoliberalen Mechanismus der Vermarktung zum Opfer fiel, ist nicht nur eine Idee, die hilft, sich selbst im Namen der Liebe besser auszubeuten. Selbstliebe ist ein subversives Werkzeug, wenn sie als solches begriffen wird. Als ehrlichen Respekt dem eigenen Leben gegenüber und somit unausweichlich auch als Respekt vor anderem Leben. Selbstliebe also als Grundlage, als Lebewesen Teil dieser Welt zu sein. Als lebendiges Wesen, das für alles es Umgebende eine ebenso große Verantwortung trägt, wie für sich selbst. KünstlerInnen und PhilosophInnen setzten sich von Berufs wegen häufig mit dem notwendigen Wandel in einer Gesellschaft auseinander. In den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts gab es das Cabaret Voltaire in Zürich oder den Monte Veritá in Ascona als Orte der gesellschaftlichen Herausforderung, des Neudenkens und Experimentierens. Ein Jahrhundert später sind die KünstlerInnen, die DenkerInnen diejenigen, die als erstes mit der schönen neuen Welt der konstanten Selbstoptimierung konfrontiert sind. Boltanski und Chiapello stellten in ihrer Untersuchung „Le nouvel Ésprit du Capitalisme“ 1999 fest, dass die KünstlerInnen, die gängige Arbeitsbedingungen in den 1970er Jahren in Frage stellten, mit ihrer Kritik dem zukünftigen Modell der neoliberalen Ausbeutung Vorschub leisteten. Denn mehr Freiheit in der Zeit- und Arbeitsgestaltung bedeutet andersherum gesehen heute auch mehr Freiheit von sozialer Absicherung. Diesem Modell passen sich Scharen von kreativ Arbeitenden schon lange an. Eine sogenannte Sharing-Economy schafft auch in anderen Bereichen lauter selbstständig Tätige, die bei komplett eigenem Risiko Dienstleistungen anbieten. Viele befinden sich in einem kontinuierlichen Drang leisten zu müssen, um anerkannt bzw. bezahlt zu werden. Unabhängig von der eigenen Begeisterung für ein Thema steht für viele ein Leistungsdruck, dessen Erfüllung an dem eigentlichen Ziel der Innovation und kreativen Gestaltung vorbeigeht. Man wird so sehr beschäftigt damit, beschäftigt zu sein, dass die Innovation dabei auf der Strecke bleibt.
Doch wo findet man die Innovation und die Kreativität, wenn nicht in der eigenen Begeisterung? Hier ist also ein gewisser Egoismus von Nöten, der die eigenen Bedürfnisse ganz voranstellt. Wenn man gegessen und geschlafen hat, kann man auch denken und kreativ sein. Wenn man freundlich zu sich selbst ist, kann man auch freundlich zu anderen sein. Man kann sich mit anderen verbünden und Veränderungen innerhalb der Gesellschaft fordern und leben. Natürlich wird die Welt nicht besser, wenn wir bei völliger Erschöpfung einfach darauf achten, mehr Vollkornprodukte zu essen und mehr zu lächeln, wie Laurie Penny in ihrem Artikel sarkastisch bemerkt. Doch die Welt hat sich, man mag es kaum glauben, in den letzten Jahrhunderten gebessert. Der Psychologe Steven Pinker stellt fest: „Die Welt ist friedlicher geworden, weil sich Menschen in der Vergangenheit erfolgreich dafür eingesetzt haben. Und wir können die Welt noch friedlicher machen.“ (https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty/publikationen/magazin-amnesty/2015–4/friedensprophet-mit-taschenrechner)
Mit Optimismus lässt sich die Welt einfacher verändern als mit dystopischen Vorahnungen – man erinnere sich an das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung. Seit Jahren scheitert der Neoliberalismus grandios für einen großen Teil der Bevölkerung. Statt gänzlich zu scheitern und damit Raum zu geben für neue Möglichkeiten, wird der scheiternde Kapitalismus künstlich in einer ewigen Spirale der Krise wach gehalten. Einschränkungen, Armut, Angst, all das müssen wir durchstehen, um die wahren Wohltaten des Kapitalismus irgendwann zu spüren – so will man uns weißmachen. Doch die Frage ist: Was passiert, wenn wir uns weigern? Wenn wir nicht mehr die im Selbsthass erstickenden Wesen sind, die sich mit Yogi-Tee und Wellness-Salat trösten sollen? „Glückliche Menschen kaufen nichts, weil sie bereits glücklich sind“, erklärt der Neurobiologe Gerald Hüther und stellt damit den „geheimen“ Wirkmechanismus des Kapitalismus bloß. Ehrliche Selbstliebe hat nichts mit Perfektion zu tun. Sie ist ein Akt des Widerstands und des täglichen Bewusstseins, dass wir freie, denkende Wesen sind. Ein klares Ziel vor Augen zu haben ist wichtig, damit man vorwärts kommt. Kleine aber kontinuierliche Schritte sind ein Anfang, wenn man andere Vorstellungen von der Zukunft hat, als die, die momentan geboten werden. Sei es der faire Umgang mit Menschen, mit denen man lebt und arbeitet, oder das Verzichten auf unfaire Nahrungsmittel wie Fleisch oder bestimmte Markennamen.
Es ist ein schmaler Grat zwischen Selbstliebe als besser funktionierender Selbstausbeutung, Selbstliebe als Realitätsverleugnung und Selbstliebe als Werkzeug zur Veränderung der Realität. Was wir unser ganzes Leben gelernt haben, muss erschüttert werden. Selbstzweifel und Glaubenssätze, Vertrauen in den Staat und in das System, in das wir hineingeboren wurden – all das gilt es zu hinterfragen und umzudenken. Wenn wir wirklich anfangen, uns in diesem Leben täglich zu akzeptieren und andere zu unterstützen, dann braucht es auch keinen Glauben, der uns Nächstenliebe als Gebot verschreibt. Denn dann sind wir mitten in der Revolution und bauen eine neue Gesellschaft. 
Foto: Peter K. Koch