The Mulberry Forest Becoming Ocean

Esther Schipper

2017:März // Julia Gwendolyn Schneider

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03-2017

Wandel im Zen-Minimalismus

Mit dem poetischen Titel „The Mulberry Forest Becoming Ocean“ gibt Shi-ne Oh (Direktorin bei Esther Schipper) kein festes Motto oder Thema vor, sie eröffnet eher einen Raum, der Verbindungen zwischen den heterogenen Arbeitsweisen der fünf ausgewählten KünstlerInnen schafft. Gängiger Weise wird das chinesische Sprichwort mit „the blue sea turned into mulberry fields“ (Mulberry ist eine Maulbeere), aber auch genau umgekehrt mit „blue seas where once was mulberry fields“ übersetzt. Die jeweils einander diametral entgegengesetzten Transformationen entsprechen einer zyklischen, nicht-linearen Vorstellung von Zeitlichkeit, wie sie dem Buddhismus eigen ist. In vielen asiatischen Ländern wird diese Redensart als Ausdruck für Wandel und große Veränderungen benutzt. Für die Ausstellung bei Esther Schipper kündigt sich so auch an, dass ausschließlich asiatische KünstlerInnen im Fokus stehen.
Am deutlichsten tritt die Frage nach der Wahrnehmung von Zeit in den Werken von Minjung Kim und Prabhavathi Meppayil zum Vorschein. Zeit ist in diesem Fall nicht nur in das verwendete Material und den künstlerischen Umgang damit eingeschrieben, Zeit wird auch benötigt, um den Arbeiten überhaupt gerecht zu werden. Eine Begegnung findet nur statt, wenn man sich Zeit nimmt und die Werke aus verschiedenen Perspektiven, aus der Ferne und von Nahem, auf sich wirken lässt. Nicht Geschwindigkeit und schnelles Auffassungsvermögen zählen, wie so oft in Zeiten digitaler Kommunikation, vielmehr sind Innehalten und genaues Hinsehen unbedingt erforderlich. Die Arbeiten fordern eine physische Begegnung ein, denn in der Reproduktion lassen sich insbesondere Meppayils weiße Gemälde kaum wahrnehmen.
Erst wenn man ganz nah an die Arbeit „Ninteen Sixteen“ (2016) herantritt, wird in der weißen Oberfläche eine zarte Linienformation erkennbar, die sich horizontal über das Bild erstreckt. Was als zarte Streifen erscheint, sind Kupferdrähte, die Meppayil in einem zeitaufwendigen Prozess mit weißen Gessoschichten umhüllt hat und schließlich solange abgeschmirgelt und poliert hat, bis unter der dicken Farbschicht die feinen Konturen der Drähte wieder zum Vorschein kamen. Die parallelen Linien erzeugen eine minimale, abstrakte Komposition, bei der niemals gänzlich vorhersehbar ist, wie deutlich sich die Linien abzeichnen werden, zugleich verändern sie mit der Zeit durch Oxidationsprozesse des Kupfers ihre Farbigkeit.
In einer anderen monochromen Malerei bearbeitet die Künstlerin die dicken Gessoschichten mit traditionellem Goldschmiede-Werkzeug und stanzt gitterförmige Oberflächentexturen in die weiße Farbschicht. Es fasziniert wie Meppayil die handwerklichen Bräuche ihrer indischen Familie benutzt, um eine zeitgenössische Sprache zu entwickeln, die sich auf eine höchst individuelle Art in einen Dialog auf Augenhöhe mit den immer noch vom Westen beanspruchten Traditionen der modernen Kunst begibt.
Eine ähnlich von Minimalismus und Abstraktion geprägte Sprache haben die filigranen Arbeiten aus Papier von Minjung Kim, die in der Tradition der Tintenkalligraphie und der monochromen Kunst der 1970er-Jahre in Südkorea (der so genannten Dansaekhwa) gelesen werden können. In ihren Collagen aus sehr dünnem, halbtransparentem Maulbeerbaumpapier, das auch als „hanji“ (koreanisches Papier) bezeichnet wird, treten Zerbrechlichkeit und Stärke, Chaos und Ordnung nebeneinander in Erscheinung. In das Papier, das über zweitausend Jahre alt werden kann, brennt die Künstlerin mit Räucherstäbchen abstrakte Muster mit äußerster Präzision ein. Und doch verweisen die ausgefransten braunen Ränder der abstrakten Formen auf die Unberechenbarkeit des Feuers, das nie vollständig kontrollierbar ist. Mit diesem Verfahren entstehen zarte Spuren, deren Ästhetik gleichzeitig vom zerstörerischen Element des Feuers wie von dem repetitiven, meditativen Entstehungsprozess geprägt ist.
In der aktuellen Serie „Phasing“ (2016) arbeitet Kim nicht nur mit Feuer, sondern auch mit Tusche und synchronisiert, worauf der Titel hinweist, beide Prozesse miteinander. Der Moment der Überlagerung des mit Tuschepunkten und des mit Feuer gestalteten Papiers ist aber nie vollständig möglich. Vielmehr überlagern sich die beiden auf unterschiedliche Weise erzeugten Kreisformen nur ansatzweise und erzeugen durch die leichte Verschiebung rätselhafte Op-Art-Effekte, bei denen immer eine Art Halo in Erscheinung tritt.
Dass Abstraktion und konzeptuelle Kunst durchaus als Reaktionen auf die Welt, in der wir leben, verstanden werden können, wird in den Arbeiten von Pak Sheung Chuen deutlich. Pak schafft Kunstwerke, die sehr persönlich sein können, die ihr Anliegen aber auf eine leise und subtile Art zum Vorschein bringen und stets in konkreten Begebenheiten verankert sind.
In der Galerie lehnen zahlreiche Kanthölzer in unterschiedlichen Winkeln an der Wand. Die Hölzer für „12 Vertical Tree Trunks And A Slanted Forest“ (2017) wurden allesamt diagonal aus einzelnen Baumstämmen ausgesägt und nicht horizontal, wie normalerweise üblich. Sie lehnen entsprechend des Winkels, in dem sie aus dem jeweiligen Baumstamm ausgesägt wurden an der Wand, sodass sie eigentlich gerade dastehen, wenn man sich den weggenommen Anteil Holz hinzudenkt. Das Verfahren erscheint weder praktisch noch sonderlich ökonomisch, aber dem Künstler geht es darum, ein Bild zu erzeugen für das Dilemma einer konformistischen Gesellschaft, mit dem er in seiner Heimatstadt Hong Kong konfrontiert ist. Und er stellt die Frage danach, was objektives Wissen ist, wenn das, was man zu sehen glaubt, nicht das ist, was man tatsächlich sieht, oder wenn das, was einem als richtig verkauft wird, eigentlich falsch ist.
Shi-ne Oh bezeichnet Paks aktuelle Werke sehr treffend als einen stillen Aufstand. Deutlicher wird die politische Dimension der Hölzer im Zusammenspiel mit einer weiteren aktuellen Arbeit von Pak, der erst vor kurzem wieder angefangen hat, aktiv Kunst zu produzieren. Tatsächlich war für die Kuratorin nicht absehbar, ob Pak überhaupt Interesse an einer Ausstellungsteilnahme haben würde. Sie hatte gehört, dass er 2014 während der Demokratiebewegung in Hong Kong seine künstlerische Praxis stark in Frage gestellt hatte und nach dem Scheitern der „Regenschirm-Bewegung“ in eine Depression verfallen sei, die ihm das Arbeiten unmöglich gemacht hatte.
Sein neuer Werkzyklus „Nightmare Wallpapers“ (2016) knüpft direkt an das aktuelle Leben in Hong Kong an. Mit einem Gefühl der Hilflosigkeit begab sich Pak jeden Tag in das Gericht, um zuzusehen, wie die Regierung ihre Bevölkerung kriminalisiert. Seine Arbeit nimmt Bezug auf diese Fälle und hebt sie im Einzelnen hervor. Je ein kurzer Beschreibungstext und ein Foto der angeklagten Person gehören zu einer spezifisch gemusterten Tapete, die sich aus einem Motiv zusammensetzt, das der Künstler beiläufig während der Gerichtsverhandlung in sein Notizbuch gezeichnet hat. Bei der Installation in Berlin geht es um einen Mann mit drei Universitätsabschlüssen, der einen Regierungsvertreter mit Eiern beschmissen hat und dafür verurteilt wurde. Pak fragt sich, wann die Idee des Eierwerfens bei diesem Menschen entstanden ist, der ansonsten bereits seit Jahren ehrenamtliche Telefonberatung für Lebensgefährdete anbietet?
Die Filme von Tao Hui und IM Heung-soon setzen sich kritisch mit sozialen Realitäten in China und Korea auseinander. Auch ihre Ästhetik ist von einer persönlichen und konzeptuell durchdachten Herangehensweise geprägt, wobei die Narration im Vordergrund steht. „Excessive“ (2015) von Tao Hui ist ein stilisiertes Familiendrama über ein Mädchen mit einem zusätzlichen Finger an einer Hand. Das Mädchen stört ihr Anderssein nicht, die Eltern fühlen sich jedoch beim Anblick ihrer Tochter unwohl und streiten darüber, was mit dem unnormalen Finger geschehen soll. Als die Auseinandersetzung in eine Ehekrise mündet, hackt das Mädchen kurz entschlossen ihren zusätzlichen Finger mit dem Küchenmesser ab.
Auch in Tao Huis „Talk About Body“ (2013) geht es um Identitätsfragen und Normierungen durch die Gesellschaft. Der Künstler sitzt mit einem muslimischen Gewand bekleidet in einem Schlafzimmer und analysiert wie ein Anthropologe seine einzelnen Körperteile – spricht über körperliche und genetische Merkmale und deren regionale Typologie – vor einer versammelten Gruppe von ZuhörerInnen. Dabei ist der Prozess der Han-Normativität im modernen China als ein kritischer Unterton der Arbeit wahrzunehmen.
Wandel prägt in IM Heung-soons Film „Bukhansan/Bukhangang“ (2016) das Leben der Protagonistin, die von Nordkorea nach Südkorea kam, aber die große Veränderung auf die sie eigentlich gehofft hatte, die Wiedervereinigung der beiden Koreas, blieb aus. In einem traditionellen Kleid, das sie als Sängerin trägt, besteigt sie einen Berg in der Nähe von Seoul und erzählt währenddessen ihre Lebensgeschichte. Auf einem zweiten Bildschirm ist parallel ein Mädchen in einem Boot zu sehen, das mit einer nordkoreanischen Schuluniform bekleidet ist. Trotz der Anspielung auf das Heimatland der Hauptdarstellerin bleibt offen, ob es sich bei dem Mädchen um die Frau in ihrer Kindheit oder um ihre Tochter handelt. Auf dem Gipfel des Berges angekommen verpackt die Sängerin ihr Heimweh in ein Lied, das sie von dort oben in die unerreichbare Ferne singt.
Die Ausstellung vereint fünf sehr sehenswerte Positionen, doch am Ende bleibt die Frage, warum Shi-ne Oh sie gerade jetzt bei Esther Schipper kuratiert hat. Zum einen war die Zeit reif, denn schon seit mehreren Jahren streckt die Galerie ihre Fühler intensiv in Richtung Asien aus. Nach dieser Ausstellung findet aber auch der Umzug in die neuen Räume statt. Etwas Neues beginnt und genau in jenem Moment der Transformation eine besondere Ausstellung zu zeigen, macht Sinn.

„The Mulberry Forest Becoming Ocean“, Esther Schipper, Schöneberger Ufer 65, 10785 Berlin, 20.1.–25. 2. 2017

Pak Sheung Cheun „12 Vertical Tree Trunks And A Slanted Forest“, 2017, Foto: Andrea Rossetti, Courtesy Esther Schipper