Zehn Jahre Sichtbarkeit

2017:März // Andreas Schlaegel

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03-2017

Zehn Jahre. Die zu rekonstruieren ist relativ einfach. Dachte ich zumindest. Denn vor zehn Jahren hatte ich das letzte Mal einen Festplattencrash der Sorte, bei der einem alle Daten verloren gehen. Seitdem mache ich sklavisch Backups. Ich komme mir zwar etwas anal-renitent vor dabei, aber ich tue es. Denn oft bin einfach nur froh, wenn ich etwas fertiggestellt habe. Danach möchte ich meist nicht mehr daran erinnert werden. Mein vielleicht etwas übertriebenes Unbehagen vor dem Zurückzublicken hat mich bisher auch daran gehindert, selbst retrospektive Publikationen über die eigene Arbeit zu initiieren. Wie das aussehen würde, das würde mich schon interessieren, aber ich kann mich nicht dazu überwinden. Oder konnte es bisher nicht. Vielleicht ändert sich das ja.

Wenn man mit älteren Leuten spricht, dann ist man manchmal überrascht, wie deutlich und plastisch Kindheitserinnerungen geschildert werden. Das steht dann häufig in deutlichem Kontrast dazu, wie aktuelle Dinge vergessen werden. Kurzzeitgedächtnis, Langzeitgedächtnis. Die Frage drängt sich dann auf, ob das so stimmt, kommt die Erinnerung an die Kindheit zurück, weil man sich im Alter so verändert, weil man zunehmend auf die Hilfe anderer angewiesen ist? Und sich vielleicht in diesem Moment erlebter Machtlosigkeit plötzlich mit ähnlichen Momenten in der Kindheit emphatisch verbunden fühlt? Oder ist es so, dass man ein ganzes Leben in die eigene Mythenbildung investiert hat, und sich nun ganz sicher ist, wie es war, wie es wirklich und wahrhaftig war. Oder gewesen sein muss. Wahrheit, quasi.

Meine eigene Mythenbildung will ich mal hintanstellen, diesen Altersabschnitt habe ich (noch) nicht erreicht. Und ich frage mich, ob ich ihn jemals erreichen werde. Nicht wegen meiner Gesundheit (danke der Nachfrage), da geht es alles ungefähr so, wie es zu erwarten wäre, sondern weil ich Mühe habe, mich zu erinnern. Um genau zu sein, ich versuche es gar nicht erst, sondern öffne einfach das Emailprogramm auf dem Computer, und weil ich seit zehn Jahren regelmäßig Backups mache, umfasst das hier etwa 40.000 Emails, die erste aus dem Januar 2007. Ich habe lange nicht alle Mails behalten. Das meiste, was ich bekomme, ist nach wie vor Spam, Werbung, Ausstellungseinladungen und Nachrichten über Veranstaltungen, die mich nicht interessieren.

Das ist zwangsläufig so: wenn die Verteilung von Werbung fast nichts mehr kostet, dann ist es nur sinnvoll, dass dann jeder, den man nur irgendwie erreichen kann, eben die Werbung bekommt, nach dem Motto, man weiss ja nie ... Und deswegen plane ich auch immer ein paar Minuten täglich dafür ein, die Werbung zu löschen und den Spamordner abzusuchen, ob versehentlich dort wichtige Nachrichten abgelegt wurden. Was immer wieder der Fall ist, und was ich längst nicht mehr nachvollziehen kann. Wie es sein kann, daß ich immer noch Anzeigen für Penisverlängerungen bekomme (wie lang soll das dämliche Ding denn noch werden, ich trete ja jetzt schon immer wieder drauf ...), während die Nachrichten meiner nun doch schon betagten Mutter (sie macht sich Gedanken: ich/meine Tochter/Frau/Bruder/Schwester esse/schlafe, trinke/arbeite zu wenig/zu viel) im Spam landen. Also sehe ich nach, wie ein guter Sohn das macht. Und dann bringe ich den virtuellen Müll raus.

Dabei ist unübersehbar, wie viel effektiver die Werbung geworden ist in den letzten zehn Jahren. Auch wenn mir immer noch suggeriert wird, bestimmte Qualitäten meiner reproduktiven Geschlechtsorgane würden zu wünschen übrig lassen, muss ich doch bemerken, dass gleichzeitig die Werbung, die ich im Netz sehe, genau meine Interessen abdeckt. Wenn ich also nach einem Wintermantel suche (de rigeur diese Saison: der Monsterparka von Wooldings zu knapp unter einem Tausi hält schön warm, weil gefüllt mit echten Entendaunen. Aber was passiert eigentlich mit den Enten, nachdem sie gerupft wurden, kommen sie in den Chinarestaurants auf die Teller? Oder ist das wie bei Schafen? Immer wieder denke ich, da stimmt etwas nicht, oder bin ich schon paranoid?), dann Nachrichten lese, dann taucht selbstverständlich Werbung für besagtes Produkt auf.

Der Werbung in der Mail geht es genauso wie den Broschüren in der realen Post, für die neben den Briefkästen ein eigener Mülleimer aufgestellt ist. Der Werbung in den Nachrichten kann ich kaum entfliehen, ebenso wenig, wie der in den Fernsehnachrichten. Doch im Unterschied zur breiten Streuung der Fernsehwerbung ist die Werbung in den netzbasierten Nachrichten genau auf den Benutzer abgestimmt. Tatsächlich funktioniert das wie bei einer Mini-Auktion, wenn man eine Website aufruft: während deren Inhalte laden, läuft hinter den Kulissen eine automatisierte Auktion für die für Werbung bereit stehenden Freiflächen ab, wer das höchste Gebot abgibt, gewinnt. Und das ist meist derjenige, bei dem man vor kurzem besagten Wintermantel angesehen hat. Über die individuelle IP-Adresse des Geräts mit dem man sich im Netz umsieht. ist man sehr gut identifizierbar.
Vor zehn Jahren war eine der Fragen, die mich beschäftigten, die, wie eine Firma, die im Netz gratis Leistungen bereitstellt, jemals Gewinn erwirtschaften kann. Die Naivität meines Denkens erkenne ich jetzt ganz gut. Wie genau das Internet nicht nur die Welt der Anwender, sondern auch die der Firmen verbindet und deren Interessen miteinander verknüpft, wird schlagartig deutlich, wenn einem bewusst wird, wo man überall Cookies erlaubt. Mit diesen Cookies gibt man die eigenen Daten aus der Hand, und zwar an Maschinerien, wie Google oder Facebook, die sie auslesen und verwertbar machen. Wie lukrativ das ist, merkt man, wenn man die aktuelle Ausgabe der Fachzeitschrift der Werbewirtschaft ansieht, „Horizont“. Sonst geht es darin eher darum, wer gerade in welcher Firma zu welchem Werber gewechselt oder wer gerade wem den Kunden abgeluchst hat. Seit wir alle Staffeln „Mad­men“ gesehen haben, wissen wir ja, wie das funktioniert.
Aber in der aktuellen Ausgabe geht es vielmehr darum, welche Datenkraken wie Google imitiert werden können, und wie beispielsweise Metro, RTL, aber auch Vergleichsportale und weitere Einzelhändler und Wiederverkäufer versuchen, ihre bestehenden Datensätze gewinnbringend einzusetzen bzw. möglichst noch viel mehr Daten zu erheben und zu verwerten. Google war erst der Anfang, die NSA-Ausschnüfflung war die Fortsetzung und nun wird es Mainstream – alles wird Google, alles wird Daten, und alles wird transparent. Zumindest soweit, wie es im Netz wiedergegeben werden kann, also in Wort, Bild, Film usw. …

Da knüpfte ja auch die letzte „Berlin Biennale“ an, die an sich in erster Linie der Kunst so etwas wie gründliche Hausaufgaben in Sachen digitaler Wirklichkeit verordnete. Gleichzeitig hatte sie einen zutiefst melancholischen, deprimierenden, beinahe defätistischen Effekt – als sei alles bereits entschieden.

Das muss es nicht sein, auch nicht nach der irrationalistischen Wende, die besonders in den USA Auswirkungen zeigt, da hier ja stets einer ganz eigenen Ausformung der Romantik gefrönt wurde, dem amerikanischen Transzendentalismus. Von Autoren wie Ralph Waldo Emerson („American Scholar“) oder Henry Thoreau („Walden“) mal mehr national, mal weniger rational interpretiert, verkam diese Denkrichtung zunehmend zu einer esoterischen Gemengelage von Ideen, in deren Zentrum mehr und mehr der Glaube an die Reinheit des an sich guten Individuums rückte, die immer stärker als Bestandteil einer Ideologie wurde, die dazu herangezogen wird, die Sonderstellung der USA als „bester Nation der Welt“ zu begründen. Die Behauptung hatte kolonialhistorische Motivationen – warum nicht nach dem Höchsten streben?
Aber dieser Sprach- und Ideenkomplex von Reinheit, Güte und Unabhängigkeit, der sich in der Natur, ebenso wie im Einzelnen manifestiert, war zumindest bei Thoreaus „Walden“ noch anarchistisch und grundsätzlich gegen jedwegliche Autorität gerichtet.
Insgesamt sicherlich nicht frei von Ungereimtheiten hat sich diese Geisteströmung bis heute erhalten, aber auch von der Entwicklung „amerikanischer Themen“ (wie in Walt Whitman’s Dichtung „Leaves of Grass“, oder James Fenimore Cooper’s Roman „Lederstrumpf“) zu einer hoffnungslos vulgarisierten Version zurückentwickelt. Wobei sich die ohnehin nicht ganz kohärenten Ausgangselemente zu einer neuen, reaktionären Ideologie verschmolzen haben. Deren Kern liegt im Glauben, nach dem sowohl das Individuum als auch die Natur durch die Gesellschaft und ihre Regeln nicht nur eingeschränkt, sondern auch moralisch in ihrer Güte und Reinheit korrumpiert werden. Subjektive Wahrnehmung und Intuition stehen also nicht nur selbstverständlich gegen Empirie an sich, sondern der Glaube (an die eigene individuelle und nationale Größe, Reinheit, Güte etc.) versetzt Berge und verweist selbst die Wissenschaft und andere Kleingeistigkeit in ihre Schranken. Amerika ist die beste Nation der Welt. Punkt.

Soweit so gut. Kommen wir zurück zur Dekade. Vor einem Jahrzent kam das iPhone, das veränderte alles, wie Jarret Kobek in seiner Tirade „I Hate the Internet“ schreibt.
Die Kombination von Mobilität und Internet machte es möglich, einen Teil dessen, was man sonst im Kopf macht, auszulagern. Telefonnummern, Karten, Fotos, ein großer Teil der offiziellen und privaten Kommunikation und auch mehr konnte nun von unterwegs wahrgenommen werden. Gemeinsam mit Bewegungs- und Kommunikationsprofilen, möglicherweise auch durch heimliches Spähen und Lauschen an Mikrofonen und Kameras an den Smartphones, und insbesondere durch die individuelle Gerätekennung wird jeder identifizierbar, gläsern. Das ist bereits passiert und es ist zu spät, die Zeit zurückzudrehen. Die meisten Benutzer des Netzes sind bereits zu einem Teil Cyborgs, oder ansatzweise schizophren, Menschen mit einem Gehirn im Kopf und einem Elektrogehirn in der Hand, in das mehr und mehr Aktivität, aber auch Verantwortung ausgelagert wird.

In Kobeks Roman „I Hate the Internet“ (2016) geht es um die verklemmte, latent frauenfeindliche Techie-Kultur von Silicon Valley, in der der Autor eine ganz spezielle Spielart der Bigotterie findet. Auf der obersten Ebene ist alles politicaly correct, alles gut, grün, „don‘t be evil“ usw. Finanziert von Venture Capitalist Firmen, hinter denen Superreiche stecken, die ihr Spielgeld aus dubiosen Einkünften diskret und zukunftsorientiert anlegen und neue Modelle von Rendite erkunden wollen, aber nicht an „Inhalten“ interessiert sind. Der Autor zieht die Parallelen zum Erfolg von Marvel Comics, deren Superhelden-Unterhaltung heute Milliarden einspielt, in Kinofilmen und Videospielen, aber die Erfinder dieser Superhelden wie bspw. Spiderman-Vater Jack Kirby ausbeuteten und kaum an seinem geistigen Eigentum teilhaben ließen. Das System ist auf brutale und extremste Ausbeutung ausgerichtet. Natürlich.

Und mit den sozialen Medien ist es nicht anders. Ausgerechnet Julian Assange hat das in seinem Buch über Google „When Google Met Wikileaks“ (2014, 2016) auf den Punkt gebracht, er nannte die Firma eine „privatisierte NSA“. Google Chef Eric Schmidt („don‘t be evil“) antwortete 2014: „Julian ist bei einigen Dingen sehr paranoid. Google hat nie mit der NSA zusammengearbeitet. Tatsächlich haben wir hart gegen das, was sie getan hat, gekämpft. Wir haben alle unsere Daten genommen und sie vollständig verschlüsselt, damit niemand an sie herankommt, besonders nicht die Regierung.“ Aber heute kommt die Meldung, daß amerikanische Gerichte Google zur Mitarbeit zwingen können. Tja. There goes the neighbourhood.

Wie Facebook lässt Google sich nicht auf die Finger sehen. Im Zentrum tickt bei beiden Konzernen eine geheime Technik, die durch Patente geschützt ist. Durch ausgeklügelte Desinformation – das Zauberwort ist „Algorithmus“ (iih, Mathe) – konnten sie die wahrscheinliche Illegalität besagter Technologien verschleiern und sich in großem Maßstab über bestehende Persönlichkeitsrechte und Datenschutzgesetze hinwegsetzen. Und schließlich durch die widerrechtliche Verknüpfung von Datensätzen Informationen gewinnen und verkaufen, natürlich an Werbekunden.

Aufgrund ihrer hohen Effektivität sind funktionierende, möglichst intensiv genutzte soziale Netzwerke interessanter für den Staatsschutz, als es anscheinend für Gerichte oder Rechtsanwälte interessant gewesen wäre, deren Geschäftsmodelle genauer anzusehen. Das Geschäftsmodell ist, Daten günstig zu erwerben, sie inhaltlich miteinander in Bezug zu setzen und diese Informationen teuer zu verkaufen. Das Erfolgsrezept dafür besteht in einer großzügigen Täuschung der Nutzer, die glauben, sie seien Kunden, wenn ihre Aufmerksamkeit doch das Produkt darstellt, das zum Verkauf steht.

Wenn ich annehme, dass es vielen geht wie mir, die die Instandhaltung zumindest eines Teils ihrer Erinnerungen quasi an einen Konzern mit höchst undurchsichtigen Geschäftspraktiken abgegeben haben, würde ich sagen, die Globalisierung hat in mein Gehirn Einzug gehalten. Stichwort Outsourcing. Klingt doch vertraut. Besonders, wenn ich daran denke, dass die Infrastruktur, auf der der Internet-Boom beruht, eben das iPhone wie auch so gut wie alle anderen Produkte, von meinem Apple-Laptop bis zum Aldi-PC, von flinken Fingern, von aufgrund ihres Arbeitsstresses und der Belastung mit schwer toxischen Stoffen früh sterbenden chinesischen Akkordarbeiter/innen hergestellt werden. Ähnlich wie die Klamotten vom schwedischen, spanischen oder amerikanischen Textilhersteller, die vermutlich alle in den gleichen Sweatshops in Bangladesh, China, Vietnam und einer Handvoll weiterer Länder hergestellt werden. Und die auch nicht auf Umweltschäden achten, ebensowenig wie die deutschen Autobauer, die ihre Arbeiter/innen aber zumindest etwas gerechter entlohnen.

Ok, ok, das System ist abgefuckt, ein gordischer Knoten, und überall treten die Möchtegern-Alexanders in Erscheinung, diesen zu erschlagen, das Erklärungsmuster, ewig das Gleiche – gefährlicher, assozialer und debiler sozialdarwinistischer Kitsch vom Schicksal der besseren Nation, Rasse, Herkunft. Erstaunlich – plötzlich ergibt alles einen Sinn und man muss kein schlechtes Gewissen mehr haben, man braucht nicht mehr hinzuschauen.
Und stattdessen kann man sich auf Facebook mit Gleichgesinnten gemeinsam empören – die einen darüber, die anderen darüber. Jedes „like“ bringt Facebook mehr Daten, und mehr Werbeeinnahmen, mehr Geld.

Wo war ich? Ach ja, die letzte Dekade. Das Problem ist einfach. Im Grunde geht es darum, die systemische Gewalt, die hier zugrunde liegt, zum Ausdruck zu bringen. Faszinierend ist, dass es in den letzten zehn Jahren eine ganze Generation gegeben hat, die sich das auf die Banner geschrieben hat. Die Aufgabe des Publikums ist es nun, sie daran zu erinnern.

Bisher ist Sichtbarkeit Werbung. Und Kunst schmückt. Nun die Frage für das nächste Jahrzehnt: Kann die Kunst Sichtbarkeit zurückerobern? Wir müssen über neue Formen der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, der Transparenz und der Verschleierung nachdenken. Wem nützt was? Wie kann man das Wirken des Systems offenlegen, die inhärente Ungerechtigkeit, die Gewalt, den Zynismus innerhalb der Strukturen des Systems? Und wie schafft man Bilder, die dagegenstehen können? Heute erscheinen diese Aufgaben noch größer als vor zehn Jahren. Dafür sind sie klarer zu erkennen. Viel Zeit bleibt nicht.



Hans Martin Sewcz „Fernsehturm als Fußball mit Helikopter“, 2006