Peter Weiss „Ästhetik des Widerstands“

HAU2

2017:März // Christoph Bannat

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03-2017

Weiss reloaded

Es gibt Lebenszeit-Bücher. Bücher, die über die Lesezeit hinausgehen. Es gibt Bücher, die einem kurze heiße Momente bescheren, und Bücher, die bereits vom Umfang her von einem erwarten, dass man mit ihnen die nächsten Monate verbringt. „Keiner weiß mehr“, „Rom, Blicke“, das Alte Testament, „Ulysses“, „Fluß ohne Ufer“ waren meine Durchhaltebücher. Bei „Lucien Leuwen“ und später bei Proust wollte ich kein Durchhalten mehr. Doch beide ließen mich, nach ca. 200 Seiten, nicht mehr los und lasen sich wie von selbst.
Jetzt liegt Peter Weiss, „Ästhetik des Widerstands“, vor mir. Jahrzehnte bin ich um diese komplex anmutenden 1000 Seiten herumgeschlichen. So schrieb ich meine Geschichte des Umschleichens. Was das mit Kunst zu tun hat? Nina Kronjäger nahm uns mit ins HAU zu ihrer Lesung. Gemeinsam mit Robert Stadlober und Andreas Spechtl bestritten sie die achte von insgesamt 17 Lesungen von Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“. Und es „blitze Nähe und Ferne, Enge und Weite, Gegenwart und Zukunft durch meine Seele“, um es mit Anton Reiser zu sagen. Der Tod kann ohne Rückspiegel fahren, wir aber werden unseren vergrößern, beschwor ich mich. Vielleicht setzte das HAU in diesem Sinne Weiss’ Initialen spiegelverkehrt auf die Veranstaltungsplakate. Ach, für heutige Kunststudenten ist doch Beuys das gleiche wie Bellini, beide schon tot. Und ich traf auch keine Kunststudenten oder freie Künstler bei den folgenden 7 Lesungen, denen ich mit zunehmender Begeisterung folgte. Dabei versucht Peter Weiss in der „Ästhetik des Widerstands“, Kunstbetrachtung und Antifaschistischen Widerstand, z.B. den der „Roten Kapelle“ in der Nazizeit, anhand eines imaginären Protagonisten mit autobiografischen Zügen von 1937 bis Kriegsende zu schreiben.
Die Lesung war nicht gut im ästhetischen Sinne, sie geschah ohne Probe und Korrektur. Doch gerade dadurch kamen die akustischen Masken der Schauspieler um so besser zum Vorschein. Manchmal war es, als lese einer von „uns“, was eine besondere Nähe herstellte. Und am Ende der „Plötzensee“-Lesung vergaßen die Zuhörer zu klatschen – ein ergreifendes Erlebnis. Sekunden blickte das Publikum dem Tod ins Auge, um dann, auf sich zurückgeworfen, draußen, vor der Tür, die Ergriffenheit wieder auf Normal Null zu bringen. Die Älteren erzählten von Friedensgruppen und Leseerlebnissen in der deutschen Provinz, in den 80ern. Ich stieg also bei den Exil-Geschichten ein und dachte sofort an unsere Flüchtlinge. Warum die „Ästhetik des Widerstands“, geschrieben 1971–1981, nie auf englisch oder französisch erschien, bleibt ein verfluchtes Rätsel. Es war aber eines der wenigen Bücher, die auch 1981 als Gesamtausgabe in der DDR erschienen. Zum 100. Geburtstag von Peter Weiss (1916–82) erscheint erstmals die DDR-BRD-Gesamtausgabe, beide leicht vom Autor selbst korrigierte Versionen. Der Pergamon-Fries, Adolph ­Menzel, Robert Köhler, Picassos „Guernica“, das Cabaret Voltaire, Dürers „Melancholia“, Gericault, Delacroix und die Tempel­anlagen von Angkor Wat spielen in diesem Monument eine tragende Rolle. Ein Monument für die (mehrheitlich kommunistischen) Widerstandskämpfer, auf dass sie nicht in Vergessenheit geraten, denn dazu neigt die offizielle Geschichtsschreibung. Wie wichtig diese waren, wurde durch die Gründung der DDR manifestiert. Wie bedeutend aber auch der Stalin-Hitler-Pakt war und welche Folgen er für Leib und Seele der Verfolgten hatte, wird hier auch deutlich. Monument, hier im Sinne von Jacques Rancière: „Ist Kunst widerständig?“ Ein Merve-Heftchen, in dem er das Werk-Monument setzt, in dem die Regime des Sinnlichen sich ästhetisieren gegen eben diese Sinne, heißt: im Monument muss sich eine gewisse Liquidität bewahren, um beispielsweise die Lebenszeit eines Künstlers zu überstehen. Wenn Rancière von den Regimen des Sinnlichen spricht, sind dies jene, die sich auf eine Wirklichkeit einigen und praktisch in einem Monument manifestieren, kurzfristig unter einem bestimmten Licht. Peter Weiss setzt so ein Licht, wie Walter Kempowski mit „Echolot“ und Victor Klemperer mit „LTI“, das in der DDR Schullektüre war (wow!). Was zur Zeit festgestellt werden kann, ist, dass Karl Marx jetzt hoffentlich endgültig entmystifiziert und als Wissenschaftler anerkannt wird (vgl. u.a. die Ausstellung „Das Kapital“ im Hamburger Bahnhof, 2016), dass man sich langsam wieder öffentlich als LINKER bezeichnen kann, und dass jetzt hoffentlich der Kommunismus (mit Trump) rehabilitiert wird. Vielleicht ist es ein erstes Zeichen, wenn Frau Carolin Emcke in der Schaubühne bei einem Didier-Eribon-Gespräch von ihrer bildungsfernen (Vater ohne Schulabschluss) Herkunft spricht. Na ja, Emcke ist Patentochter von Alfred Herrhausen, Deutschlands Vorzeigeproletarier. Fazit: es hilft vielleicht wieder, in Klassenverhältnissen und Erbschaften zu denken, jetzt, wo die geburtenstarken Jahrgänge auf die 50 zugehen und es klar wird, dass sie es nicht aus eigener Kraft – also mehr anzuschaffen als ihre Eltern – schaffen werden.
Jetzt sitze ich vor dem Weiss-Block und drücke mich wieder drum rum. Wer’s einfacher haben wollte, konnte sich bis vor kurzem noch das vorzügliche Hörspiel vom BR kostenlos anhören, von der Mediathek runterziehen und für Freunde kopieren. Leider ist das jetzt nicht mehr möglich.
Dafür darf man sich auf einen Suhrkamp-Band freuen, der sich nur mit den Kunstwerken in „Die Ästhetik des Widerstands“ beschäftigt. Christoph Bannat


Lesung im HAU von Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“, Mira Partecke, Valery Tscheplanowa etc. Foto: Dorothea Tuch