Die Gesellschaft der Kunst

Die Zehnerjahre – vom München der Nullerjahre aus gesehen

2020:August // Joachim Bessing

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08-2020

Nach dem weltweit mit Spannung erwarteten Silvester 1999/2000 zog ich, aus Gründen, die kaum hierher gehören, von Hamburg nach München um. In Hamburg hatte ich neun Jahre lang gelebt. Von daher empfand ich die Umstellung auf den Lebensstil in der bayerischen Hauptstadt als Herausforderung. Vor allem fehlte mir der Austausch mit anderen. Dass München auch heute noch zur ehemaligen Diskursmetropole verklärt werden kann, hat nostalgische Gründe bei denjenigen Münchnern, die im Zuge der Hauptstadtverlegung nach Berlin eben dorthin umgesiedelt wurden. Der Kulturschock muss in der Tat extrem gewirkt haben. In Wahrheit aber gab es dieses geistig rege, kunstsinnige München auch vor Ort in München selbst schon längst nicht mehr, als ich dort eintraf. Es lag allenfalls in seinen letzten Zügen und wurde einzig noch am Leben erhalten von Claudius Seidl in seinem Redaktionsbüro der Süddeutschen Zeitung, sowie auf dessen Außenposten im Gastgarten der Wirtschaft Dachauer Hof – bei gutem Wetter, das es weitaus seltener gibt in München, als man sich das von Hamburg kommend vorstellt; oder halt abends im Schumann’s, das damals noch an der Maximilianstraße war. Bei warmem Wetter konnte man dort auf dem kleinen Vorplatz sitzen, mit Blick auf die veritable Terrasse des Café Roma vis à vis. Der Rest dieser Stadt, so kam es mir vor, war uninteressant. Zumal es keine Subkultur zu geben schien, wie ich sie von Hamburg gewohnt war. Damit ist nicht die sogenannte Halbwelt gemeint, also Fußballprofis oder Schauspieler und dergleichen – die gab es in München freilich schon. Aber kein vergleichbares Gewebe aus Kunststudenten und Künstlern, Musikern und DJs, Schriftstellern mit und ohne Werk und professionalisierten Fans einer oder auch mehrerer dieser Disziplinen aus diversen Kohorten. Was man vor den Kriegen auch in Deutschland als Bohème bezeichnet hatte, also Leute, nicht Kulturschaffende, sondern Amateure, über die in Hamburg Hubert Fichte geschrieben hatte und die es, als ich Anfang der Neunzigerjahre, aus Stuttgart kommend, in Hamburg tatsächlich noch gegeben hatte – in x-ter Generation! –, davon war in München nichts und niemand mehr zu finden. Was es in München aber im Überfluss gab, war Gesellschaft. Die allerdings hatte, so kam es mir jedenfalls vor, seit ihrer Phase der Selbstmusealisierung durch Helmut Dietl in Monaco Franze und Kir Royal etwas Staub angesetzt; beziehungsweise war ihr der Gegenstand ihrer Selbstbetrachtung aus dem Blickfeld geraten.

An lauwarmen Sommerabenden fuhr auf der Maximilianstraße ab und an ein Porsche vor, aus dem Ulf Poschardt stieg mit seinem Beifahrer Moritz von Uslar, um auf den eigens für sie gleich neben der Eingangstür zum Schumann’s aufgestellten Flechtsesseln sich hinzufläzen, um die daraufhin nach und nach heranschnürenden Frauen halblaut, dafür umso unmissverständlicher zu beurteilen.

„Ich langweile mich so“, gestand ich an einem anderen Abend Ingrid von Werz. „Ich glaube, ich ziehe bald wieder weg.“ Frau von Werz, eine unglaublich kultivierte Dame, zeigte sich verständnisvoll, versprach mir aber zugleich auch eine Verbesserung meiner Lage dergestalt, dass sie mich einer befreundeten Kunsthändlerin vorstellen könnte. Bei dieser, sowie bei deren Ehemann handelte es sich ihrer Ansicht nach um die einzigen noch verbliebenen Menschen in München, derentwegen es sich lohnen könnte, auszuharren. Ohnehin ginge doch im Leben auch sonst kaum etwas ohne Kunst. Ich willigte ein.

So kam ich an einem herrlichen Sommerabend – dass es donnerstags war, liegt in der Natur der Sache – zu einer Ausstellungseröffnung in die Schellingstraße 48. Die Schwabinger Galerie von Monika Sprüth und Philomene Magers befand sich in einem Hinterhof unweit von dem geschichtsträchtigen Schelling-Salon gelegen, aus dem man den jungen Hitler einst hinausgeworfen hatte, wie es hieß, weil die dort Billard spielenden Arbeiter (hieß es, wobei ich bezweifeln wollte, dass Arbeiter je Billard, beziehungsweise, wer Billard spielt, je …) seiner blöden Pöbeleien leid gewesen waren, woraufhin Hitler dann in die damals ebenfalls existente Osteria umgezogen war, die dann auch schon Osteria hieß. Die zwischen Osteria und Schelling-Salon gelegene Galerie Sprüth Magers war so gesehen ein Neuling in dieser Gegend.
Als Kustode stand dort neben der feuerrot lackierten Eisentüre zu den Räumlichkeiten der Galerie seiner Frau mein zukünftiger Freund fürs Leben mit einem Glas Bier in der Hand. Einander vorgestellt, blieben wir gleich im Gespräch. Ohnehin war es unmöglich, an jenem Abend tiefer noch ins Galeriegeschehen vorzudringen, dazu war drinnen zu viel los. Gesponsert von einer Modemarke war dort ein temporäres Porträtstudio in einer Kabine aufgestellt, in dem sich die eingeladenen Frauen der Sammler und die Sammlerinnen von Helmut Newton fotografieren lassen konnten. Die Schlange der Wartenden – teils mit Ehemännern, teils in Begleitung ihrer besten Freundin oder dergleichen – lugte bald schon aus der Toreinfahrt zum Hinterhof bis auf das Trottoir der Schellingstraße. Eventuell dort sogar noch weiter mit dem Verlauf der Straße entlang bis zum Schelling-Salon, oder, in entgegengesetzter Richtung, bis zur Osteria – ich habe nicht nachgeschaut. Für mich war es jedenfalls so, dass es irgendwann dunkel geworden war, wir uns aber noch immer derart gut unterhielten, dass wir beschlossen hatten, bei einem Nachtessen im kleinen Kreis weiterzureden. Ob das dann allerdings in der Osteria stattgefunden hat, oder, was ich im Nachhinein für wahrscheinlicher halte: im Schumann’s bei einem sogenannten Fernsehteller (einen TV-Apparat selbst gab es dort natürlich nicht!), weiß ich auch nicht mehr. Auf jeden Fall war die Kunstkritikerin Eva Karcher dabei, die einen Ganzkörperstrumpf von Fogal trug, der rote Karolinien auf anthrazitfarbenem Grund hatte (die neunziger Jahre vibrierten noch). An diesem Abend hat sie mir dann von Jonathan Meese erzählt, es wurde ein Schwärmen: Wie der es bei einer Performance fertiggebracht hatte, die Namen von Hitler und Stalin mit Pornografie zu verbinden. Man sprach jetzt also plötzlich über Bildende Künstler so wie in den Jahrzehnten zuvor über Stars aus der Showbranche. Eine ehemalige Geliebte von Andreas Baader saß auch mit am Tisch. Ihr Gesicht war von einer Halbmaske aus Verbandsmull bedeckt (ein Enzympeeling war schief gegangen). Meine Wegzugspläne hatte ich da schon auf Eis gelegt.

„Gallery openings are the night clubs of the 21st century“ sagte mir Malcolm McLaren am Rande eines Kongresses zum Status quo der Punkbewegung, der 2004 in Kassel abgehalten wurde. So betrachtet war die Vernissage bei Sprüth Magers die erste Veranstaltung im Sinne McLarens gewesen für mich. Es sollten im Verlauf des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends noch viele folgen, bis ich schließlich im Jahr 2011 das Interesse an diesem gesellschaftlichen Aspekt der Ausstellungseröffnungen zu verlieren meinte. Grund dafür war nicht ein Schwinden meines Interesses an Kunst, wohl aber an ihrer Gesellschaft. Die hatte sich innerhalb des ersten Jahrzehnts meiner Beobachtung von ihrer Zusammensetzung her kaum verändert, war immer bloß zahlreicher geworden, um dann an der Schwelle zum zweiten Jahrzehnt im Kollektiv abzustumpfen und als Avantgarde in der Masse des Phänomens „Kunstschauengehen“ an Bedeutung zu verlieren. Die Gesellschaft der Kunst bildete damit selbst den Verlauf einer Kunstrichtung ab; der tatsächlichen Vielgestalt ihrer kollektiven Identität aus Amateur, Afficionado, Nachwuchskünstler, Kollege, Gescheiterter, Berichterstatter, Wissenschaftler, Archivar, Händler und Sammler zum Trotz verkörperte sie doch selbst eine Bewegung mit dem zugrundeliegenden Verlauf von Avantgarde nach Establishment und wirkte in der Selbstbetrachtung schon allein dadurch wie auch durch die den Erscheinungsbildern der Künstler abgeschauten Attribute eines künstlerischen Lebensstiles – von deren lichten, atelierhaften Wohnungen bis hin zu künstlerhaften Kleidern, Künstler-Mobiliar et cetera – selbst wie eine Form von Kunst, eine Art von Natur aus etablierter Bohème, einer erfolgreichen Lebenskunst also, Sonderform der Akrobatik, für deren Musealisierung aber erst neuartige Formen geschaffen werden mussten. Im Herbst 2010 wurde die App Instagram eingeführt. Zunächst nur für das iPhone, für das Apple in jenem Jahr mit dem vierten Modell seiner Baureihe ein besonders schönes und vor allem auch leistungsfähiges Gerät aus der Hand gegeben hatte. Erinnerten Smartphones der ersten Generationen noch an flachgelutschte schwarze Bonbons, war das iPhone4 das erste seiner Art, das mit seinem unorganisch wirkenden Design und der umlaufend scharfen Aluminium­kante entschieden bloß Griff und vor allem für die ab jetzt Content genannten Zeichen und Bilder Rahmen sein sollte, der sein aus der Schwärze hell aufleuchtendes digital canvas zu zeigen willens war.

Jemanden anzurufen oder eine Nachricht zu schreiben, auch eine mit Beweisbild, das einen inmitten des Geschehens einer Ausstellungseröffnung, wahlweise auch in der intimen Situation mit dem Kunstwerk allein während einer Preview oder einer Privatführung durch eine exklusive Sammlung zeigt, war das eine. Facebook, einige Jahre vor Instagram gegründet, ermöglichte zwar die Veröffentlichung quasi journalistischer Berichte, war aber zur Zeit des Epochenübergangs vom ersten zum zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zu sehr popularisiert und dadurch bis zur Unberührbarkeit kontaminiert worden, um sich als Medium noch im Kanon der Gesellschaft der Kunst halten zu können. Einflussreiche Debütanten im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausend waren vor allem Kanye West, der sich vom Sprüth-Magers-Künstler George Condo das Cover seines Albums My Beautiful Dark Twisted Fantasy gestalten ließ, und sein Kollege Jay-Z, der wenig später die Ausstellungsräume der Pace Gallery in Manhattan zum Schauplatz seines Videoclips Picasso Baby (2013)machte, um sich in Gesellschaft von Bildenden Künstlern produzieren zu können. Marina Abramovic war anwesend, aber halt auch George Condo und Gesellschaftsgrößen der amerikanischen Kunstsphäre, die über den Song mit dem Künstlernamen im Titel und das diesen Song illustrierende Video mit den dieses Video betrachtenden Sphären der restlichen Kunstwelt zusammengeschlossen wurden. Kunst an sich wurde über Smartphones und Instagram aus dem angestammten und vergleichsweise winzigen Diskurs der Kunstkritik herausgelöst und durch endlos vervielfältigte Abbilder integrativ verfügbar gemacht. Kritik an Instagram erscheint trotz seines ent-elitarisierenden Effektes zwiespältig aus Sicht der Kunst. Mit Warhol gesprochen selbstverständlich, aber halt auch mit Jörg Immendorff, der in Verteidigung seiner illegalen „Orientalismen“ im Jahr 2003 gestand, dass „er als Künstler stets die ganze Palette des Lebens vor Augen braucht“. Kraft Instagram schaut die Palette zurück.

Am Rande eines längeren Gespräches, das ich 2003 mit Gerhard Merz auf dessen Landsitz bei Arezzo führte, stellte er mir seine Theorie vor, derzufolge ein Künstler entweder in den Genuss des Atelierruhms gelangen könnte oder aber in den von ihm sogenannten Gesellschaftsruhm. Wie bei Merz nicht anders möglich, handelt es sich um ein antagonistisches Modell: Salvadore Dalí hatte demzufolge Gesellschaftsruhm, Duchamp (und Merz selbst freilich auch) Atelierruhm. Wie Gerhard Merz heute zu der Sache steht, konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen, nehme aber aufgrund meiner Erfahrung von damals an, er sieht es unverändert. Drumherum allerdings hat sich das Wertesystem der Kunstwelt nicht erst seit Picasso Baby in Richtung Gesellschaftsruhm modifiziert. Und jener Abend in München zu Beginn des ersten Jahrzehnts, den ich als ein Stegreif-Happening im Vorfeld der Premiere von Jay-Z betrachte, enthält wie ein Samenkorn schon sämtliche Bestandteile, aus dem die Gesellschaft der Kunst sich gebildet hat: Das Kunst-Event mit Kunstwerkscharakter (einmalig, elitär, produktiv); der Künstler mit Gesellschaftsruhm (Helmut Newton); der kommunikable Mehrwert für die Teilnehmer des Spektakels (Shares). Wie eine Kunsthändlerin im Verlauf des zweiten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends beklagte, bekam sie aus der Gesellschaft der Kunst nun häufig die Antwort zu hören, dass man ihre neueste Ausstellung nicht gesehen habe, weil man am Eröffnungsabend verhindert war. Nur konsequent, dass Kunsthändler wie Bill Powers vollends in die Selbstdarstellung auf Instagram diffundieren und dort, gemessen an Likes und Repostings, eine Existenz von hohem Gesellschaftsruhm fortführen, wenn sie – tja: in Wahrheit, oder in der Galerie oder in einer Welt aus brick and mortar? – schon ruiniert waren, sobald sie die Rechnungen ihrer Dienstleister bezahlen mussten. Eventuell hat aber die Gesellschaft der Kunst ihren eigenen Typus des Galeristen erst hervorgebracht, der vor allem sich selbst, dann die Kunst und seine Künstler sekundär im Blick hatte. Für diese Variante des Narzissmus’, der sich als Künstler des Gesellschaftlichen in den Bildern anderer spiegeln will, ward Instagram vielleicht erfunden. Zumindest fällt es auf, dass Galerien alten Schlages wie Max Hetzler aus Stuttgart oder Sprüth Magers aus München und Köln ihrer weltweiten Expansion in den vergangenen zwei Jahrzehnten zum Trotz selbst während der wochenlangen Schließung in der sogenannten Corona-Krise nichts Spektakuläres eingefallen war, um durch ihre wie pflichtschuldig betriebenen Instagram-Accounts und Websites auf das aktuelle Angebot an Kunstwerken aufmerksam zu machen. Was daran liegen könnte, dass selbst großformatige Malereien an ihrer Imposanz verlieren, wenn man nicht leibhaftig vor ihnen steht und dazu noch die eindrucksvollen Räumlichkeiten einer Galerie auf das auratische Kapital mit einzuzahlen helfen. Auch das haben alternative Ausstellungstechniken während des Shutdowns in der „Corona-Krise“ klargemacht: Im Amalgam des Streamings wirkt zuvorderst der Reiz der neuen Beobachtungsperspektive. Dass ich mich – halb Stubenfliege, halb allwissender Erzähler – unbeobachtet durch die virtuell dargestellten Ausstellungsräume bewegen kann, wie von Google Street View gewohnt, schafft mein Vergnügen; dass da auch Bilder hängen, Installationen im Raum umrundet werden könnten, wirkt wie Dekoration, die mein Ausstellungserlebnis ausstaffieren soll. Auch interessant wirkt dann zum Beispiel aber der realistisch dargestellte Thermostat an der Wand der Galerie, ein mir vom letzten Baumarktbesuch vertrautes Scharnier an einer Tür, der Blick aus dem Fenster dieser Galerie in den vom Sonnenlicht beschienenen Hinterhof – wann wurde das wohl aufgenommen? Schon bin ich mit meinen Gedanken ganz weit weg und woanders. Vermutlich war ich noch nicht einmal angekommen bei den Kunstwerken, weil ich mir zunächst einen Überblick verschaffen wollte. Zerstreuung statt Immersion.

Aber auch Entzauberung der nackten Erscheinung eines Ateliers ohne Gesellschaft. Die von der Schließung betroffenen Nightclubs von Berlin unternahmen in der Anfangszeit der Pandemie den anrührenden Versuch, ihre DJs mitsamt einem regulären Musikprogramm aus einer menschenleeren Location zu streamen. Nur ein Drohnenflug durch einen stillgelegten White Cube wäre vermutlich freudloser geraten. Johann König hingegen, mit Leib und Seele ein Produkt des vergangenen Jahrzehnts, der mit instagramablen Räumlichkeiten und einer veritablen Range von Merchandising, zu dem unter anderem eine Autobiografie und Porträts by Jürgen Teller zu zählen sind, auch in Friedenszeiten nichts auslässt, um seinen Gesellschaftsruhm zu mehren, „bespielte die Plattform“ selbst in der Krise souverän.

Fragt sich, ob die Künstler selbst, die Produzenten jener Musik, zu der im globalen Nightclub in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrtausends gefeiert wurde, von der historisch einmaligen Beliebtheit of all things art profitieren konnten. Fragt sich natürlich „nicht wirklich“.

Klar, man saß, so man denn noch hingegangen war zu einem der pflichtschuldig veranstalteten Galerieabend­essen, „im kleinen Kreis“, am Tisch mit einem Künstler von zunehmendem Gesellschaftsruhm, der, wie alle, wie jedermann, nahbar geworden von seinen Sorgen und Nöten berichten konnte – privater, nicht ästhetischer Natur. Aber das, erklärte mir der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich am Rande eines Gespräches im Spätsommer 2018, war schon immer so gewesen. Eine Zeit, in der Künstler sich der Gesellschaft gegenüber mit Problemen des Ateliers offenbart hätten, gab es seiner Ansicht nach nur ganz kurz, vielleicht am Hofe Rudolf II. Was sich aber definitiv als neu beschreiben ließe innerhalb unserer Lebenszeit, fand Ullrich, war eine neue Geisteshaltung unter den Studierenden der Künste. Bei den sogenannten Atelier-Rundgängen der Akademien traf Ullrich mittlerweile vermehrt auf einen Typus des jungen Menschen, der sich selbst schon als angehender Künstler betrachten wollte. Diese von den Ausbildungsberufen abgeschaute Bestandsgarantie war neu. Erstens. Und dann vor allem der oftmals dazu geäußerte Beweggrund für diese Berufswahl: „Um Geld zu verdienen.“ Insgesamt weist die Entscheidung, Künstler werden zu wollen, also zu Beginn des dritten Jahrzehnts nicht länger zwangsläufig einen Weg aus der Gesellschaft ins Atelier „nebendraußen“ (Hermann Lenz), sondern mitten hinein in die Gesellschaft der Kunst. Vom Atelierruhm allein kann man schließlich nicht leben. Nicht in, noch außerhalb der Gesellschaft. Es gibt keine Subkultur mehr.