Einer von hundert

Corona-Tagebuch aus dem Berliner Frühling (und letzten Herbst)

2020:August // Einer von hundert

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08-2020


30. November, Lobeckstraße
Für heute habe ich mir, ohne zu fotografieren, gemerkt: Szenen in Afrika, eventuell sogar er in Afrika mit Kind, Palmen, vielleicht in Miami, Spuren, Spuren, Spuren von Autoreifen, überhaupt spielen Autos eine große Rolle, aber auch eine verletzte Hand und sexy Frauen und viel Farbe und Tulpen und überhaupt das pralle freie Leben. Ich stelle ihn mir als jemanden vor mit Humor, einem Humor, der schon mal in Zynismus abrutschen konnte. Und das alles dann präsentiert auf den zurückgenommen schlichten Flächen von Achim Kobe, die wie eine Extension seiner Motive sind, mit anderen Mitteln.
Kobe, für Formreduktion und interventionistische Aneignung von Wänden und Flächen bekannt, nimmt hier die Stukturen und Farben des gekachelten Bodens auf und setzt sie in der Vertikalen fort. Daraus entstehen vier beinah monochrome Bühnen, auf denen sich Mark Kubitzkes († 2011) städtische Szenerien lebendig entfalten können. Der Formalist erreicht technoide Präzision mit manueller Technik. Die sachlich nüchterne Monotonie paralleler Linien gerät je nach Abstand ins Flimmern oder beginnt zu vibrieren und sich an manchen Stellen in die Dreidimensionalität auszudehnen. Unregelmäßigkeiten in der Beschaffenheit des Untergrundes beim Herstellen dieser ca. 15 qm großen Flächen, die leicht unterschiedliche Überlagerung der Farbtöne und die Übergänge zwischen den Papierbahnen verursachen jeweils verschiedene optische Effekte. Minimale Abweichungen innerhalb der Monotonie potenzieren sich so zu unberechenbaren Täuschungen, die den ersten Eindruck, es könne sich um gedruckte Tapeten handeln, verwerfen.
Diese stoisch-ruhige Arbeitsweise ist dem Vorgehen Mark Kubitzkes diametral entgegengesetzt. Als Streetphotographer umherstreunend, rastlos auf der Suche nach Motiven und dem eigentlichen Leben, beutet er seine Eindrücke im Atelier aus und bringt sie in spontan lockerer oder auch mal verquast gebastelter Manier, gern noch ergänzt mit allerlei Assemblagen-Material, auf die Leinwand. Auf jeder der vier Kobe-Flächen hängt jeweils ein größerer Kubitzke, von links nach rechts aus einer 80er-Jahre-Abstraktion immer figürlicher werdend. Samstagnachmittags hat man Gelegenheit, sich zu günstigen Konditionen aus einem riesigen Fundus eine Fotografie oder Collage auszuwählen. Außerdem liegen die aufregenden Reiseabenteuer vor, die von Ulf Erdmann Ziegler in handlicher Reclam-Anmutung nach verqualmt-versoffenen Abenden dankenswerterweise auch dem Rest der Welt zugänglich gemacht worden sind.

7. März, Linienstraße 40
Klimawandel-Ausstellungseröffnung im L40. Raimar Stange hat wieder einige Künstler motiviert, Arbeiten zum Thema beizusteuern (die erste von ihm, an die ich mich erinnern kann, war 2008 unter dem Titel Tornado bei General Public). Am besten gefällt mir die Installation von Almut Linde. Ungefähr 10 Klimaanlagen saugen die Luft des Raumes ein, um sie zu kühlen, die Abwärme geben sie aber genauso ab wie die kühlere Luft, ein Nullsummenspiel auf Kosten eines enormen Stromverbrauchs. Das erinnert mich an die Leute, die im Winter wegen der Kälte und im Sommer wegen der Hitze den Motor ihres Autos laufen lassen, um im Auto auf das Handy zu starren, und das sehr lange …
Der Shut-Down passiert erst in 10 Tagen, die Ausstellungseröffnung findet also ohne Einschränkungen statt, obwohl Raimar schon mehr weiß als andere. Alles hätte viel früher runtergefahren werden müssen, so Stange zirka vier Wochen später, das hätte man wissen müssen …

9. März, Schönhauser Allee
Endlich mal wieder die 9.-Bar von Jo, die nur jeden neunten im Monat aufmacht, die letzten Male stand ich vergeblich vor der Tür. Jetzt mit Corona-Bier als Deko-Flasche in der Hand, mich mal wieder mit Stipe zum Tennis verabredet. Wird jetzt wahrscheinlich alles erst mal wieder dauern, Tennis und die 9.-Bar.

12. März, Kastanienallee
Letztmalig One-Hour-Disco, die wir alle zwei Wochen unter dem Lichtblick-Kino veranstalten. Ungefähr neun Leute (es waren nie mehr als ein gutes Dutzend) tanzen genau von 10–11 Uhr abends und es ist eine Mischung aus Sport und sehr großem Spaß. Alle spritzen ihre Aerosole durch die Luft, vor denen wir noch keine Angst haben.

13. März, Linienstraße 158
Letzte Ausstellungseröffnung für lange Zeit. Peter K. Koch arbeitete die letzten zwei Monate dran und es ist eine seiner typischen, sehr gelungenen Hand-Made-Minimal-Ausstellungen. Und genau an diesen handlackierten, handgeschnittenen, handgeknickten Rändern entsteht eben eine Differenz, die in den Objekten und Reliefen einen poetischen Klang erzeugt. Händeschütteln war mit den wenigen Gästen allerdings schon nicht mehr drin.

15. März, Kastanienallee
Aprikosenblütenfest wie jedes Jahr. Dieses Mal schon mit Anwesenheitslisten und einem etwas schlechten unsolidarischen Gefühl vor den Nachbarn. Vielleicht 30 Anwesende, Kaffee, Alkohol und Kuchen, zudem improvisiertes Zupfen an einem kaputten Klavier. Noch waren Veranstaltungen bis zu 50 Leuten erlaubt.

17. März, Brandenburg
Erster schulunterrichtsfreier Tag und gleichzeitig letzter Öffnungstag meines Brandenburger Golfclubs (Berliner Plätze sind schon zwei Tage länger dicht). Immerhin eine 77er-Runde und damit Gruppenplatzrekord, wahrscheinlich damit ich mich noch lange zurückerinnern kann.

26. März, im Büro
Jetzt doch noch One-Hour-Disco – per Mail als Track. Ich verdunkle mein Schaufensterbüro, dreh die Aktivboxen meines Computers voll auf und tanze die Stunde alleine durch. Bis auf ein paar Hunde-Spaziergänger läuft eh niemand vor dem Fenster vorbei.

27. März, Brandenburg
Erste von insgesamt drei illegalen Golfrunden. Ich sag nicht wo … Wir sind erst 30 Minuten durch den halben Wald gelaufen, um hinten relativ unsichtbar vier Löcher im Kreis zu spielen. Unnötige, noch unpräzise Gesetze gilt es, meines Erachtens, zu missachten. Und Golf und Corona passen so gut zusammen wie zum Beispiel Tischtennis und HIV, absolut keine Ansteckungsgefahr.

31. März, zu Hause
Habe jetzt angefangen, Die Pest von Albert Camus zu lesen. Komischerweise meine Mutter auch. Da haben wir mal wieder mehr Gemeinsamkeiten als gedacht. Wobei sie mir vorwarf, den IBB-Soforthilfe-Zuschuss nicht beantragt zu haben, und ich schwammig mit Solidarität gegenüber denen, die es wirklich bräuchten, argumentierte. Nein, das sähe sie anders, der Mensch schaue immer zuerst nach sich selbst und die, die es nicht machten, werden eben untergehen, und sie habe schließlich dreißig Jahre mehr Erfahrung.
Bin ich mal wieder in einem Dilemma, denn ich fühl mich jetzt sogar auch noch schlecht gegenüber denjenigen, die es beantragten und gleich bekamen, weil die sich jetzt wegen mir vielleicht schlecht fühlen, der Koch, unser pseudo-moralischer-Vorreiter, und morgen geht er wieder golfen. Da mein ich, genau deshalb … und ein paar Bücher werde ich dieses Jahr schon noch machen.

9. April, im Büro
Jetzt hab ich’s doch beantragt. Es nagte doch, irgendwie sieht die Zukunft doch nicht so rosig aus jetzt, auch für Buch-Produzenten wie mich. N. überredete mich als letzter, nimms doch auch. Ich zum Rechner und alles ging ganz flott. 6000 Euro, wir kommen …

20. Juni, immer noch im Büro
… kamen aber doch nicht. Wahrscheinlich war das Geld alle. Ist auch egal. Viele, vorallem die mit Steuerberatern, die strenger als das Finanzamt sind, zahlen schon wieder zurück. Ist eigentlich nur für Betriebskosten, nicht für den Eigenbedarf, obwohl jeder Künstler natürlich, mehr als alle anderen, auch als Betrieb zu sehen ist, also, ich mein der Körper, das Ich, aus dem alles herauskommen soll. Essen rein, Kunst raus, sonst gehts nicht. Aber ich hatte jetzt in der ersten Hälfte 2020 Normalumsatz, also alles gut.

20. Juni, Oderberger Straße
Leider wird wahrscheinlich das, was man an CO2-Ausstoß eingespart hat, hintenherum durch einen exponentiellen Anstieg im Daten- und Stromverbrauch während der Quarantäne den ökologischen Fußabdruck der Corona-Generation nicht schmälern. Das ist wirklich schade, auch, was die Entschleunigung des Sozialen betrifft.
Eine Video-Konferenz ist auf jeden Fall schneller als eine wirkliche Begegnung. Der Stress ist noch mal komprimiert und die Ausdehnung des Erlebten auf einen zurückgelegten Weg, auf dem die Eindrücke verarbeitet werden können, fällt weg.
Der brutale Umgang wird noch einfacher gemacht. Man drückt schnell die Stummschalttaste, wenn man jemandem nicht zuhören will, und der merkt es gar nicht. Aber die Bundesministerin für Digitalisierung Dorothee Bär (CSU) triumphiert. Schon lange sollte durch Deutschland ein RUCK gehen. Jetzt ist er endlich da.
Entschleunigung kann man nur genießen, wenn die Kiste aus bleibt.

28. Juni, Inselstraße
Ulrike und ich trafen uns jede Woche in der Inselstraße. Der Stoff kam in einem großen Ballen. Er musste zerteilt und gewaschen werden. Zuviel Chemie. Die Wäscherei hatte nur noch von Dienstag bis Donnerstag auf. Auf einer kleinen Heizplatte stand ein großer Topf. Farbe befand sich darin. Ulrike fand die richtige Mischung, ein schönes Grau, nicht zu grün und auch nicht zu kalt.
Wir tauchten die Bahnen in den Topf. Japanische Landschaften, wilde Fontänen entstanden auf dem hellen Stoff.
Zum Trocknen legten wir sie über eine Leiter. Wir gingen in die Metro und kauften ein Bügelbrett. Die wenigen Kunden hatten Masken auf. Die Fischhändler freuten sich. Wir kauften auch eine kleine Kiste Austern.
Wir bügelten die Bahnen, Löcher und Ösen wurden eingeschlagen. Ein großer Laster brachte die Metallstangen am Stück. Eines Samstags wurden sie angebohrt und aufgehängt. Niklas und Viktor kamen vorbei und wir feierten die Vorhänge in gebührendem Abstand zueinander.
Die Außenwelt war ausgeblendet ….

28. Juni, zu Hause, am Rechner
Gerade lese ich im Tagesspiegel in einem Artikel von Patrick Wildermann, „wie Künstler verzweifelt nach Perspektiven suchen“. Obwohl ich keine Künstlerin, aber dennoch Soloselbstständige bin, verfolge ich, so gut es geht, welche Möglichkeiten der Förderung /„Coronahilfen“ von Staats- bzw. Landesseite angeboten werden (oder auch nicht angeboten werden) und welche Petitionen es zu unterzeichnen gilt. Nachdem die erste große „Sause“ aus dem Landesprogramm über die IBB so schnell aufgebraucht war – „nein, es ist kein Windhundrennen“, wurde damals von Politikseite her gesagt, und gleichzeitig haben bis heute viele Angst, das Geld zu verbrauchen, weil sie nicht sicher sind, ob sie es vielleicht doch noch zurückzahlen müssen –, lese ich jetzt hier, dass von Seiten des Senats in „zwei Wellen … 1000 Stipendien à 9.000 Euro vergeben“ werden. Ich erzähle davon einem Freund: Das kann nicht sein, 18 Mio. wären das! Wow. Ist das realistisch? Leider gibt es noch keine Details. Und ich erinnere mich wieder an das Männchen am Ende dieser irren Warteschleife auf der IBB-Website, wie es langsame Schritte vorwärts macht … Hunderttausende vor einem … Was war das für ein Buzz damals … an diesem Freitag, dem 27.3.2020 und den folgenden paar Tagen.

3.Juli, zu Hause, am Rechner
Mal wieder schaue ich auf die bbk-Seite. Die ist ja neu gestaltet. Man kann sich da ganz gut informieren über den Stand der Corona-Hilfen für Künstler*innen. Und da finde ich wieder die Information, dass neben anderen Fördermaßnahmen „… insgesamt 18 Millionen Euro für zwei Wellen mit jeweils 1.000 Stipendien à 9.000 Euro für jeweils 6 Monate bereitgestellt“ werden. Stimmt es also? „Die Abwicklung erfolgt durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa.“ Da bin ich mal gespannt … Ob sich auch die bewerben können, die bereits die 5.000 Euro erhalten haben? Crazy. Ich lese, es soll um die Förderung von künstlerischer und kuratorischer Entwicklung und Praxis gehen …