Onkomoderne

Sterilium

2020:August // Christina Zück

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08-2020

Sterilium

Ein Feuerwehrwagen überholt mich mit Blaulicht auf der Luisenstraße, kurz hinter der Charité. Ich bin auf dem Weg in den Park, wo ich nun öfters hinfahre, um Freunde zu treffen und um von der Sonne und der Heilkraft der Bäume zu profitieren, die wohl die schädlichen biochemischen Prozesse im Körper wieder rückgängig machen, die die dauer­hafte Computerarbeit mit sich bringt. Die Bußgelder wurden vor Kurzem erhöht, deshalb fahre ich mit exakt 30 km/h durch die Feinstaubsperrzone, deren Abgasnorm mein Auto nicht erfüllt, doch die Einrichtung eines Videoüberwachungssystems steht noch aus. Die Stadt ist so leer, als hätte das Universum die heimlichen Sehnsüchte der gestressten und überforderten Großstadtmenschen manifestiert. Vor der Erfüllung der größten Wünsche haben psychoanalytische Theoretiker immer besonders eindrücklich gewarnt. Der Einsatzwagen hat nun mitten auf der Marschallbrücke angehalten, eine schlimme Ahnung kommt hoch … die Spree. Dahinter blockiert eine dunkle ­Limousine den Weg und versucht schrittweise den Rettungsdienst zu umfahren. Ich muss kurz anhalten und warten – und hinsehen. Drei Feuerwehrmänner in sandfarben-reflektorgelben Uniformen umschlingen einen Mann, den sie vom Geländer heruntergezerrt haben. Er lächelt, als wäre er in diesem Moment erleuchtet, vielleicht ist er betrunken. Er lebt. Ein paar Spaziergänger mit Kindern und Fahrradhelmen stehen in weitem Abstand um die Szene herum. Die ineinander verknoteten Körper erinnern mich an eine Kreuzabnahme von Caravaggio. Schon wieder ästhetisiert das Hirn vor sich hin, anstatt ganz im Moment zu sein. Der Stau löst sich auf. Ich biege unter Tränen in die Dorotheenstraße ein, muss irgendwo anhalten und bleibe lange Zeit schluchzend im Auto sitzen. Alles ist ja gut, er hat überlebt. Sie werden ihn in irgendeine Geschlossene bringen. Dort bekommt er Tavor und ein paar Injektionen. Dann ist er da in Sicherheit, völlig alleingelassen mit den anderen verstörten und verängstigten Menschen. Ich denke an Thomas, den ich vor ein paar Monaten auf einer geschlossenen Station besuchte. Es war schrecklich für ihn, dass dort kein Mensch mit ihm redete, Ärzte im Kostenminimierungsdruck, Patienten eingeschlossen in ihrem eigenen Leid. Es gab kein Therapieprogramm, um die ins Unendliche entgrenzte Zeit zu überstehen. Er ließ sich wieder entlassen, niemand kann dort zum Glück ohne Einverständnis festgehalten werden. Wieder in seiner Wohnung schluckte er den Rest seines Tablettenvorrats und starb. Um uns vor dem eigenen Potenzial der Selbsttötung zu schützen, werden Leitlinien für die Presse­berichterstattung herausgegeben, die davor warnen, detailliert darüber zu berichten, da es zu Nachahmungs­taten kommen kann. Suizid kann anstecken.

Am liebsten würde ich hier gar nichts schreiben. Um nicht in Lähmung zu verfallen, lese ich tagelang die widersprüchlichen Informationen im Netz, ordne sie zu Mustern, versuche, sie einzudämmen und mich auf die Erwerbsarbeit am Computer zu konzentrieren. Es klappt nicht gut. Es dauert wohl länger als ein paar Wochen, vom jahrzehntelang eingeübten Produktionsszwang runterzukommen. Zustände ändern sich wie eine Rotationskartei, eine überraschend auftauchende, selbstgenügsame Glückseligkeit wandelt sich schnell in große Angst. Die Gesellschaft spaltet sich wie überaktive Zellen und erhält unmittelbar neue Framings in Coronaleugner und Shutdownbefürworter, Risikogrup­pen und Immune, Systemrelevante und Homeoffice-Arbeiter:innen, Homeoffice-Angestellte in Kurzarbeit und Homeoffice-Freiberufler:innen, glückliche Homeoffice-Asketen und eingesperrte Familien mit Kindern, Kinder mit Garten und Laptop und Kinder mit gewalttätigen Eltern und Mangelernährung, insolvente ehemalige Spitzenverdiener und Krisenprofiteure, die Trennlinien der Dichotomien wachsen mit den Kurven der Infektionszahlen. Privilegien, die man sich unter großen Anstrengungen im Einklang mit den wirtschaftskonformen Idealen aus der Prä-Coronazeit erworben hat, sind nun wertlos. Geldmengen zirkulieren dorthin, wo sie nicht hin sollen und von wo man sie nie wieder zurückbekommt. Börsenkurse brechen ein und lassen das angehäufte Kapital einfach verschwinden. War Geld nur eine Verschwörungstheorie? Kulturtheoretiker und Soziologen schreiben aus dem Homeoffice Analysen, entwickeln Zukunftsprognosen und geben Video­interviews vor ihrer heimatlichen Bücherwand. Das Epidemie-Management schwankt zwischen althergebrachten Foucaultschen Gefängnis-Strategien, bei denen die Bevölkerung zu Hause eingesperrt wird, und neumodischer biotechnologischer Überwachung, bei der die digital übermittelten Blutwerte über Immunität oder Risiko entscheiden. Bill Gates will 8 Milliarden Menschen durchimpfen. Dem Klima geht es besser. Fast 325.000 Menschen sind bis heute weltweit am Virus gestorben. Das tatsächliche Leid bleibt bei der alltäglichen Berichterstattung weit auf Abstand. Die algorithmischen und statistischen Berechnungen werden permanent hinterfragt und angezweifelt, ebenso die medizinischen Testverfahren. Eine statistisch noch nicht erfasste, hohe Anzahl von Menschen erhält die medizinisch notwendige Behandlung nicht. Körperbeziehungen finden nur noch im Privatleben und unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, vorläufig lassen sich ihre Erschütterungen noch mit Verschwiegenheit kleinhalten. Jeder Schritt zur Eindämmung der Pandemie zerstört an anderen Stellen Lebensgrundlagen und schutzgebende Strukturen. Das Virus, fremdartig und seltsam irreal, kann alle Organe sowie das Nervensystem befallen und auch nach überstandener Krankheit schreckliche Spätfolgen auslösen.

„So realisieren Kommunikation und Information eine Utopie der Transparenz und des universalen Austausches. Gerade weil das eine operationalisierte Utopie ist, stellt sich bald Dysfunktionalität ein, insofern die Materialisierung der Utopie gleichsam der Tod ist. Die Promiskuität aller Dinge, aller Zeichen und aller Menschen erzeugt einen Zustand, dass man Viren, wenn sie noch nicht existieren würden, erfinden müsste, um das Spiel wieder von neuem anfangen zu lassen“, lese ich in einem zerfledderten Suhrkamp-Band von 1991, der heute mit der Post angekommen ist. Ich wische ihn mit Sterilium Virugard ab, nachdem ich Schlüssel und EC-Karte ins Waschbecken geworfen habe. Wie ist das Milieu für SARS-CoV-2 in der Hosentasche? Hat jemand dazu eine Studie gemacht? Das Virus, das durch die alles mit allem verbindenden Netzwerke flutscht, war die Leitmetapher der Postmoderne. Baudrillard hatte schon ziemlich früh düstere Zukunftsvisionen. Die Abschottungs- und Grenzziehungsbewegungen gegenüber der permanenten Mutation konnte er nicht voraussehen.

Nun haben sich in kurzer Zeit neue Metaphern in den Vordergrund gedrängt. Die Vernetzung erweist sich als instabiles und anfälliges Konstrukt. Um uns vor der unausweichlichen Triage in der Zukunft zu schützen, galt es in der präcoronaren Epoche, eine Karriere, Wohneigentum mit Garten, eine Familie, körperliche Fitness und gesundheitsfördernde Bionahrung zu erwerben. Wir mussten uns beeilen, die Arbeitsleistung erhöhen und spirituell wachsen. Als Nebeneffekt hielten wir die Wirtschaft am Laufen. Für uns Hamsternde im Laufrad drohten Quälerei, Armut und sozialer Tod beim Eintreten von disruptiven Ereignissen wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alter. Die Zukunft für prekär lebende Künstler:innen wurde als Horrorfilm mit minimaler Rente plus Lagerhaft im Pflegeheim plus Pflegenotstand entworfen. Ich zeichne die Triage-Metapher hier falsch herum – im Gesundheitswesen werden die Fälle priorisiert, die am dringendsten Hilfe brauchen, zum Beispiel kommt ein Herzinfarkt vor einer Radiusfraktur ins Behandlungszimmer hinein. Künstlerische Praxis, die sich nicht an den Preisspekulationen des Kunstmarkts beteiligte, versuchte sich mit Wissenschaft und Forschung, Interdisziplinarität, Pädagogik, politischem Aktivismus, positiver Selbstdarstellung und Instagram abzusichern. Sie konnte ihre Systemrelevanz nur geringfügig steigern und begann allmählich wie ein kreativ gestaltetes Kellerregal voller Dosenravioli und Klopapier auszusehen. Nein – Zwinkeremoji – das ist nur blöde Übertreibungslogik, reine Effekthascherei. Nun ist die von uns Prepper:innen und Neoliberalismuskritiker:innen ersehnte Zäsur da. Vom Bett aus beobachten wir die Ereignisse live auf dem Laptopbildschirm, wie ein Fahrzeug, das in Zeitlupe an die Wand knallt, so beschrieb es gestern ein Freund. Langsam werden die Maßnahmen gelockert. Man fragt sich, ob man die 5000 Euro vom Berliner Senat wirklich behalten darf oder ob das Finanzamt gleich wieder das Konto pfändet. Führt die Regierung, die uns bisher in Notlagen, Zwickmühlen und in die Krankheit hineingepresst hat, etwas im Schilde, weil sie sich plözlich so fürsorglich gibt? Der anhaltende Stress der Vergangenheit hat sich als Trauma im Nervensystem verhärtet. Ein Zeitfenster öffnet sich. Alles kann anders sein: Einen kurzen Moment lang ist ein Schritt ins Offene möglich. Ein schrecklicher Abgrund. Das Grauen, dass alles so bleibt, wie es vorher war, schießt eiskalt in unsere cortisolverseuchten Blutbahnen hinein. Wir können ja ein paar Atemübungung machen, damit sich das wieder reguliert.

Berlin, April 2020 während des Lockdowns