Onkomoderne

Schmetterlinge

2022:Mai // Christina Zück

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05-2022

Ein verlassenes indisches Krankenhaus bildet das Setting für die filmischen Szenen der Videoinstallation Jole Dobe Na (Those Who Do Not Drown) des Künstlers und Filmemachers Naeem Mohaiemen. Kurz vor der Pandemie beendete er die Dreharbeiten in Kolkata. Ursprünglich für die Yokohama Triennale und das Bildmuseet in Umea produziert, wurde der Film diesen Februar in der Berlinale Forum Expanded Ausstellung Closer to the Ground präsentiert. Eine lange Rampe führt in die Ausstellung hinab. In der Betonhalle, der ehemaligen Leichenhalle unter dem Krematorium Wedding, das in den Neunzigern saniert und in das Silent-Green-Kulturquartier umgewandelt wurde, verteilen sich 13 Videoinstallationen. Ihre Audiospuren überlagern sich in der Dunkelheit.
Die Handlung in Mohaiemens Arbeit ist vage und bruchstückhaft, im Zentrum stehen die sepiafarbenen filmischen Bilder, die eine beeindruckende Intensität entwickeln. Ein Mann und eine Frau wandern durch die Räume des Krankenhauses, sie warten, sie reden miteinander, er schiebt ihren Rollstuhl durch den Innenhof, gelegentlich werden mikroskopische Bilder von Geweben oder Blutzellen eingeblendet. Sie spricht mit einem unsichtbaren Verwaltungsangestellten, der ihren muslimischen Namen Sufiya zu Sophia verwestlicht. Die Werkbeschreibung erläutert, dass der Mann wie in einer Traumsequenz die letzten Tage seiner verstorbenen Frau wiedererlebt, nachdem beide sich gegen ihre medizinische Weiterbehandlung entschieden haben. Sehr langsam entfaltet der 64-minütige Film einen speziellen Sog. Die Protagonisten betreten einen Raum, in dem sich ausrangierte Gestelle von ­Krankenhausbetten stapeln, Nahaufnahmen von rostigen Operationsbestecken tauchen auf, in einem Operationssaal voller alter Geräte schaltet der Mann eine OP-Leuchte an und richtet sie auf die Frau. Immer wieder wird ein Close-up ihres Gesichts mit einem Beatmungsgerät eingeblendet. Tränen laufen ihr herunter, das Signallicht eines Rettungswagens überlagert das Bild. Naeem Mohaiemen zitiert im Filmtitel einen bekannten bengalischen Song, Premer Mora Jole Dobe Na, „Ein Leichnam voller Liebe versinkt nicht im Wasser“. Die Liebe ist hier eine Kraft, die alles durchdringt und überdauert. Die Protagonisten bleiben über den Tod, über muslimische und hinduistische Glaubensysteme und unterschiedliche Bestattungsriten hinweg verbunden.

Es ist die erste künstlerische Arbeit, die mir begegnet, die auf poetische und indirekte Weise die Pandemie und das überwältigende Gefühl der Trauer thematisiert. ­Mohaiemen hatte den Dreh kurz vor dem Ausbruch des Sars-Cov-2 Virus abgeschlossen und während des Lockdowns mit seinem Team in verschiedenen Ländern über Videokonferenzen am Schnitt gearbeitet. Obwohl der Bezug zur Coronakrise nicht beabsichtigt war, fließen die traumatischen Ereignisse und die kollektiven Bilder in den Film mit ein. Ich erinnere mich an journalistische Fotos aus Indien, auf denen Menschen Sauerstoffmasken trugen und im Taxi vor Krankenhäusern darauf warteten, dass Beatmungsgeräte frei wurden.
Das zerfallene, prunkvolle Gebäude aus Mohaiemens Film, die ehemalige Geburtsklinik Lohia Matri Seva Sadan in Kolkata, wurde im 19. Jahrhundert von einem bengalischen Goldhändler erbaut. Er war durch Geschäfte mit der East India Company reich geworden. In Internetforen findet sich die Legende, dass er das Eingangstor mit Löwenskulptur als Kopie des Raj Bhavan, des damaligen Regierungssitzes des Britischen Generalgouverneurs und Vizekönigs, entwarf, woraufhin er verklagt wurde. Wegen hoher Gerichtskosten musste der Bauherr die Stadtvilla veräußern. Die Luxusimmobilie wurde immer wieder unter den Superreichen Kolkatas weiterverkauft – wie ein Journalist in der Times of India berichtet, „Everyone who had once bought this house finally became bankrupt.“

Vor etwa 10 Jahren schrieb ein Ehemann einer Klinikpatientin in einem Internetforum eine Bewertung über die Geburtsklinik: „This organization is the worse of all now a days. The ugliest experience I have gathered from this hospital. Nasty bath rooms, cats, dogs moving around here and there, though the mother & child are the patients & different type of mosquito may attack there is no mosquito net. The medicines doctor advised to buy must have to buy from the shop which is in front of the hospital called Mallick Drug House. Really a bitter experience it was and I won’t advice anyone to go there. I neither saw nor heard the nurses are begging, quarreling for money with the patient.“
Wenn man den eigenen und den kollektiven Ängsten mehr Raum gibt, wird dies vielleicht die Zukunft eines Gesundheitssystems sein, das in eine Wirtschaft eingebettet ist, die verzweifelt zu wachsen versucht und in eine nichtlineare Drift gerät: Streunende Katzen zwischen den Krankenbetten, Fledermäuse in den OP-Schleusen, ein Pangolinkadaver im Wäschecontainer, unterbezahlte Pfleger, die die Angehörigen um Geld anbetteln. Lieferketten zerreißen, irgendwoher kommt ein Embargo auf Eisenerz, Brennstoffe werden knapp, die Hochöfen stehen still, Hohlnadeln können nicht mehr produziert werden, wichtige Medikamente gehen aus. Schwarzmarkthändler können ganz selten noch eine Containerladung Kanülen aus China organisieren. Ein Schmetterlingsflügel – man weiß nicht genau, ob es diesmal ein Fledermausflügel war – kann einen fortschreitenden Kollaps auslösen.

Zweimal in dieser Woche hatte ich eine Schmetterlingskanüle in der Armbeuge stecken, einmal wurde mir Blut abgenommen, an einem anderen Tag ein intravenöser Zugang gelegt. Eine Routineuntersuchung, diese Venenpunktionskanülen sind Alltagsgegenstände in Arztpraxen. Die Hohlnadeln haben einen mikrosilikonierten Präzisionsschliff, damit sie so schmerzfrei wie möglich in die Vene eindringen können. Die bunten Plastikflügel der verschiedenen Nadeltypen unterliegen einer Farbcodierung, die den genauen Durchmesser und die Länge anzeigt. Blut fließt. Es fließt geordnet und wohldosiert durch das High-Tech-Röhrchen aus dem Körper heraus in die Monovetten. Blut gehört zum Bereich des Lebendigen, es ist Teil eines Organismus, der sich aus sich selbst heraus bewegt, weiterentwickelt und reguliert. Außerhalb des Körpers verliert es seine wissenschaftlich nachgewiesene Wunderkraft und verwandelt sich in Geronnenes. In den Entnahmeröhrchen hingegen wird es luftdicht konserviert und in ein Labor transportiert, um Zahlen und Grafiken daraus zu gewinnen. Die Anzahl der Elemente, Enzyme, Zellen, Mineralien wird mit den festgelegten Normbereichen verglichen. Abweichungen sind ein Anlass, weitere Maßnahmen im Körperinneren einzuleiten. Chemisch veränderte Substanzen werden eingesetzt. Die Nadel durchsticht die Haut, transportiert den artfremden Stoff ins Fettgewebe, den Muskel oder die Vene. Die Kanüle ist die unmittelbarste Schnittstelle unserer Verbundenheit mit der technisch veränderten Materie.

Kurz nach meiner Geburt wurden mir veränderte Tuber­kulosebakterien gespritzt. Über die Jahre landete jeder Impfstoff, der auf dem Markt war, in meinen Zellen. ­Cholerabakterien trank ich in Wasser verdünnt. Mit Moderna, dessen erster, von einer Agentur erfundener Name die Moderne oder die Modifizierung mit der Ribonukleinsäure verknüpft, kam die Anordnung an die Zellkerne, Spike-Proteine des Sars-CoV2-Virus nachzubauen. Sie verklumpen den Zellinnenraum und räumen sich dann selbst wieder auf. Die neuen Impfstoffe werden an die Mutationen des Virus angepasst, ihre Namen werden gleich mit verbessert. Moderna heißt jetzt SpikeVax und klingt nach Pieks. Das Virus vermehrt sich und drängt kontinuierlich weiter, auch wenn es auf einen Wirtsorganismus angewiesen ist. Die Kraft des Lebendigen treibt es an – es sei denn, Forscher hätten es in Gain-of-Function-Experimenten beschleunigen können. Einmal eingeatmet, wandern seine Spike-Proteine in den Blutbahnen herum und beschädigen im schlimmsten Fall beliebige Organe. Wie eine Stachelbeere mit Haarausfall – in der Strömung verkleben sich die Härchen und schweben wie Weltraumschrott durch meine Venen. Das ist purer Zellstress, sagt die Ärztin, der Schrott wird genauso vom Vakzin erzeugt und sollte schleunigst mit Detox-Mitteln ausgeleitet werden. Schon wieder steckt eine Butterfly in meiner Armbeuge, der Stauschlauch ist zugezogen, meine Hand zur Faust geballt, der dünne Plastikschlauch färbt sich dunkelrot. Die Sprechstundenhilfe dockt ein buntes Röhrchen an, lockert den Stauschlauch, drückt einen sterilen Tupfer auf das kleine Loch in meiner Haut.

Zu einem autonom lebendigen Zustand wird es kein Zurück geben. Alle menschlichen Lebewesen sind von Technik durchdrungen, wie auch ein Großteil der Tiere und Pflanzen. Donna Haraway sieht in der Möglichkeit, Lebewesen als Cyborgs zu denken und Allianzen zwischen den Spezies zu knüpfen, bekannterweise ein emanzipatorisches Potenzial, um hierarchische und essentialistische Systeme zu unterwandern. In Metamorphosen entwirft Emanuele Coccia eine Philosophie der Verwandlung, indem er sich auf das Lebendige, die Kraft, die alle Organismen durchwirkt und verbindet, konzentriert und beschränkt. „Alle Lebewesen sind in gewisser Weise ein einziger Körper, ein einziges Leben und ein einziges Ich, das endlos von Gestalt zu Gestalt, von Subjekt zu Subjekt, von Existenz zu Existenz wechselt. Dieses eine Leben belebt den Planeten und ist selbst aus einem existierenden Körper – der Sonne – geboren worden, ihr entwichen, vor 4,5 Milliarden Jahren durch Metamorphose ihrer Materie entstanden. Wir alle sind ein Quäntchen davon, ein Lichtsplitter.“
Dieses evolutionäre Prinzip entfaltet sich jenseits der Eingriffe und Übergriffe des Menschen.
„Bei einer Metamorphose gründet die Kraft, die uns durchdringt und verändert, nicht auf einem bewussten und persönlichen Willensakt. Sie kommt anderswoher, ist älter als der Körper, den sie formt, und wirkt jenseits aller Entscheidung.“ Das Leben besitzt keine feststehende, spezifische Eigenschaft, es wandert durch die Körper hindurch und zirkuliert zwischen den unterschiedlichen Systemen. Ein paradigmatisches Beispiel erkennt Coccia in der Verwandlung der Raupe zum Schmetterling. „Ein und dasselbe Leben wird von zwei Körpern geteilt, die aus anatomischer, ethologischer und ökologischer Sicht nichts gemein haben: Ihre Gestalt und ihr Leben sind vollkommen unterschiedlich. Ein Insekt ist ein schizophrenes, auf zwei Körper verteiltes Leben. Die Metamorphose ist nur der Mechanismus, der es diesen beiden unvereinbaren Körpern ermöglicht, zum selben Individuum zu gehören.“ Auch bei Emanuele Coccia scheint das geisteswissenschaftlich systemimmanente Bestreben durch, hierarchische, vertikale Strukturen und Wertesysteme aufzulösen und die Welt auf eine post-humane und nicht-anthropozentrische Weise zu denken. Vielleicht kann eine andere Perspektive dazu beitragen, die Eigenständigkeit der Tier- und Pflanzenwelt zu konservieren. „Die Verbindung zwischen den vielfältigen Gestalten nicht in Begriffen von Evolution, Fortschritt oder deren Gegenteil zu denken, sondern als Metamorphose, bedeutet nicht nur, sich von jedweder Teleologie zu befreien. Es bedeutet auch und vor allem, dass jede dieser Gestalten dasselbe Gewicht, dieselbe Bedeutung, denselben Wert hat: Die Metamorphose ist das Prinzip der Gleichwertigkeit zwischen allen Naturen und der Vorgang, durch den diese Gleichwertigkeit hergestellt werden kann. Alle Gestalt, alle Natur kommt vom anderen und ist dort gleichwertig. Jede von ihnen existiert auf derselben Ebene. Jede hat, was die anderen gemeinsam haben, aber auf unterschiedliche Weise. Die Variation ist horizontal.“

Seit dem Aufkommen der Menschen wird das autonom Lebendige manipuliert, beschleunigt, extrahiert und optimiert. Ist das alles Gewalt, was die Menschen da tun? Nur ein kleiner Pieks? In einem traumwandlerischen, oder eher traumatisch dekompensierten Zustand wandeln wir durch die zerbröselnden Welten um uns herum, die Ruinen unserer guten Absichten. Der Moment scheint erreicht zu sein, wo die Krise außer Kontrolle gerät, wo das Eingreifen keine regulierende Wirkung mehr hat. Ich höre hier lieber auf, weiterzuschreiben und Begriffe und Theorien auseinanderzuklamüsern – Unterschiede denken zwischen Lebendigem, Organischem, Hybridem, Technologischem, Giftigem, Heilendem, zwischen halblebendigen Viren, die ein transformatorisches Potential haben, zwischen nicht-hegemonialen und Phyto-Subjektivitäten – und sie wieder im Nondualen aufzulösen. Die Sprache der akademischen Macht macht mich müde. Ich gebe mich lieber dem Stoffwechsel und der Drift des Lebendigen hin. Obwohl Coccia vorschlägt, dass wir krank werden müssen, um die radikale Metamorphose durch uns durchlaufen zu lassen, mit der uns das Virus in die Zukunft schleudert, möchte mein träger hegemonialer Organismus, der vermutlich aus einer genetischen Linie von Faultieren hervorgegangen ist, gesund werden, gut essen und schlafen, es schön warm, ruhig und trocken haben, manchmal heulen und gemeinsam mit anderen Lebewesen in Frieden herumschlonzen. Doch ich muss fit werden für den Übergang, den wir uns gewaltvoll und entbehrungsreich vorstellen, und die reptiloiden Anteile in meinem Hirnstamm fangen schon wieder an, sich dem allen entgegenzustellen.
Alle Fotos: Christina Zück