Günther K. / KW

2013:May // Naomie Gramlich

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05-2013














Vier Monate des Jahres 1970
/ Günther K. in den KW

„Dienstag, d. 15.9.70
Um 17 Uhr 10 vom Hildegardiskrankenhaus abgeholt und zur Eifelstr. gefahren. „Oben“ geraucht und Bolz-Pfefferminz getrunken und um 17 Uhr 45 ins Bett gelegt. Vorher 2 Aufnahmen, Lila Pullover. Mit Finger am Kitzler und sie bei mir sachte, alsdann Rückenlage und dann die schöne Speziallage. Es war herrlich. 18 Uhr 05 Ende.“
 
Kürzlich wurde bei einer Haushaltsauflösung in einem Aktenkoffer die minuziöse Dokumentation einer viermonatigen Affäre zwischen der 24-jährigen Margret S. und dem 39-jährigen Günther K. gefunden. Ihre Geschichte spielte sich 1970 in Köln ab. Er war Chef eines Baumaschinengeschäfts, sie seine Sekretärin. Beide anderweitig verheiratet. Sie trafen sich „oben“ in einer barock-bürgerlich eingerichteten Wohnung oberhalb der gemeinsamen Arbeitsstelle und unternahmen als Dienstreisen getarnte Ausflüge in umliegende Kurorte, um in mondänen Hotels abzusteigen. Günther entwickelte aus dieser Affäre eine Obsession. Er begann Rechnungen der Hotelzimmer, Speisekarten der besuchten Restaurants und abgerissene Kalenderblätter zu sammeln. Mit seiner Schreibmaschine hielt er auf Karteikarten akribisch den Ablauf der Treffen fest. Den Trivialitäten wie der genaue Beginn und das Ende der Verabredungen, das gemeinsame Essen („Rinderschmorbraten“), Getränke („Capi mit MM-Sekt“) folgen in den nächsten Sätzen detailgenaue Beschreibungen des Geschlechtsverkehrs („GV“) wie „Busen, rechts und Kitzler reichlich“ oder „kräftig abgespritzt, sie wollte noch weiter und bewegt sehr kräftig den Unterkörper, jedoch […] wurde er schlapp“. Günthers Protokollen zufolge verkompliziert sich die Beziehung nach und nach. Die sich langsam einschleichende Normalität und Monotonie werden durch eine ungewollte Schwangerschaft („Eine Ausschabung – Auskratzung ist unumgänglich“), Verdacht des Ehemanns sowie durch Eifersüchteleien von Seiten Margrets mit anschließenden Drohungen, den Beischlafs zu verweigern, zerstört.

Besonders dominant in der Sammlung sind die unzähligen Farbfotografien, die den Protokollen beigefügt sind. Nahezu alle zeigen ein und dasselbe Motiv: Margret. Sie wurde bei fast jedem Treffen festgehalten. Im grünen Wildlederkostüm posiert sie in einer Waldlichtung wie ein Model für Herbstmode. Kokett flirtet sie mit leicht geöffnetem Mund mit der Kamera, wenn sie auf der Schreibtischkante sitzt und der kurze Rock den Blick auf die nackten Schenkel frei gibt. Günthers Kameraauge erwischte sie jedoch auch ganz unvermittelt: aus der Dusche kommend, mit Schürze am Herd oder mit verwuschelten Haaren noch verschlafen auf dem Fensterbrett sitzend. Diese Schnappschüsse wirken so gewöhnlich, beinah alltäglich und haben wenig gemein mit einer aufregenden Liebschaft. Vergleichbar mit tausenden von Liebesaffären, ist diese nicht nur durch die Tatsache der Dokumentation und die zufällige Entdeckung, sondern auch durch den herrschenden Ton besonders. Günthers M-Sammlung ist eine obsessive Erzählung, bei der eine eventuelle Wärme der Intimität durch die fotografische Serialität einer Dokumentation mit der fast aufdringlichen Wiederholung Margrets in zahllosen Variationen und durch die Kühle der bürokratisch-sachlichen Berichte getilgt wird. Das Geheimnis ist die Banalität. Der Voyeurismus und die Imagination stecken – wie bei vielen Sex-Fantasien – in der Normalität. Und es macht Spaß, dahinter einen Abgrund zu vermuten. Die Fotos könnten Indizien einer späteren Frauenleiche sein. Die Geschichte des Psychopaten Günther K., der ein wenig die Obsessionen von Karlheinz Böhm in „Peeping Tom“ teilt. Was die Imagination nun mehr provoziert? Das was dutzendfach zu sehen ist, das scheinbar Anwesende, Margret, oder das was die Fotografien nicht preisgeben? Denn ein fragmentierter Blick auf Günther ist lediglich in ganz wenigen Bildern und nur als Geistererscheinung im Spiegel zu erhaschen. Zum Beispiel im knappen Feinripp, die Kamera im Anschlag, wobei das Gesicht vom Blitz verdeckt wird. Und ein anderes: Der Spiegel, vor dem sich Margret abschminkt, ohne von Günther Notiz zu nehmen, wirft den Blick zurück auf den Fotografen. Zu sehen ist der untere Teil eines gestreiften Hemds, unter dem Günthers Glied baumelt. Die Kamera ist Günthers verlängerter Penis. Der fleischgewordene Technik-Dildo wird der Eroberung überall reingesteckt.

Die Informationen über Günther sind rar. Sein Leben außerhalb der Margret-Sphäre, wie Arbeit oder Ehe, klammert er in den Protokollen weitgehend aus. Er schreibt noch weniger über seine eigenen Emotionen als über die von Margret. Die Subjektivität wird an den Rand gedrängt. Gefühle werden in Klammern konnotiert, persönliche Eindrücke mit Doppelpunkt eingeleitet. Die Sammlung, in der eine überalltägliche Welt kreiert wird, scheint als Kompensation für ein anderes, realeres Leben zu dienen. Fluchtsucht, Sublimation, Libidoprobleme hin oder her, die Fotografien dienten vermutlich nicht nur als Günthers Masturbationshilfe, sie waren für ihn und sind für uns heute der unabdingbare Beweis dafür, dass es diese Beziehung gab, dass es Margret gab. Die Fotografien scheinen als Identitäts-(Ver)Sicherung zu fungieren. Sammeln und fotografieren dienten nicht nur dazu, gegen den Verfall der Zeit zu wirken, sondern lassen sich auch als zwei starke Ausdrücke von Macht und des Beherrschen-Wollens lesen.
Aber wo ist nun Margret? Die Schnappschüsse von Margret mit ihrer ungezwungenen Spontanität scheinen dafür bestimmt zu sein, ihr unverfälschtes, natürliches Wesen festzuhalten und doch unterstehen sie Günthers Zwang nach Verdinglichung und Konservierung. Das fotografische Abbild gibt zwar Auskunft über Margrets Physiognomie, ihre vermutliche Stimmung, und doch ist ihre Identität verschleiert. Der Augenblick, in dem das fotografierte Objekt der Begierde aus dem eigenen Zeit-Raum Gefüge herausgelöst und auf Fotopapier gebannt wurde, steht dem späteren Moment des Ansehens gegenüber. Die Differenz der Zeitlichkeiten führt zu einer Verfremdung des Dargestellten. Nicht Margret wird veranschaulicht, sie erscheint lediglich in Form der Fragmente und Überreste. Margrets zahllose fotografische Ichs machen auch sie zu einer Geistererscheinung. Was Günther fotografierte, scheint kein Mensch zu sein, sondern eine Kleiderpuppe, die gemacht wurde für ein fremdes Sehen.

Neben den Fotografien sammelte Günther auch andere Trophäen rund um Margret. Er pflückte ihr Kopfhaar aus der Bürste, klaubte ihre „Funzhaare“ vom Bett, sammelte abgebrochene Fingernägel, fischte die leeren Verpackungen der Anti-Baby-Pille aus dem Müll und auch eine vom Handgelenk abgemachte Kruste mit Blut wird aufbewahrt. Die Relikte, die von ihrem Körper abgefallen sind, werden um sie herum aufgesammelt und zur M-Sammlung hinzugefügt. Wie um eine Leiche sammelte der Obsessive ihre Spuren am Tatort und füge sie später zu einem Memorial-Bild zusammen. Die Sammlung fungiert wie eine persönliche Erinnerung, die den in bürokratischer Manier abgehaltenen Protokollen und dem sachlichen Schreibduktus („und dann Zungenküsse angeboten bekommen“) entgegenstehen. Der Zwang nicht zu vergessen, bedeutet nicht gleichzeitig, sich erinnern zu können. Von den Indizien der Anwesenheit Margrets geht eine eigenartige Leere aus. Ihre Existenz ist belegt, das Aufrufen ihres Seins scheint besonders heute unmöglich. Das Wirkliche scheint lediglich ein Effekt der Aufarbeitung und Dokumentation zu sein. Margret liegt irgendwo dazwischen. Irgendwie unsichtbar. Besonders deutlich wird das in den Fotografien, die Leerstellen zeigen.

Günthers Interesse galt nämlich nicht nur Margret, sondern auch den Indizien ihrer vorhergehenden, nun nicht mehr sichtbaren Anwesenheit. Von den leeren Bettlaken, auf denen noch die Körperabdrücken zu sehen sind, geht förmlich noch eine Wärme aus. In der Luft liegt der Geruch nach Sex und kaltem Zigarettenrauch. Günthers Geschenk, ein am Bügel hängendes hellblaues Etuikleid mit goldenem Besatz am Dekolleté, zeugt in den Textilfasern von Margrets Körper – jedoch ausschließlich in der Imagination. In ihrer Gesamtheit erinnert die M-Sammlung an ein Sammelsurium von christlichen Reliquien einer anbetungswürdigen Heiligen. Und wie bei allen Fetischen ist die Wurzel der Anbetung und Begierde nicht mehr sichtbar und erst gar nicht relevant. Die Macht des Fetischs wird in einem projektiven, rituellen Akt, korrespondierend mit den Riten der Treffen und des Fotografierens, in das Objekt implementiert. Der fetischhafte Charakter der Sammlung zeigt deutlich die Trennung von Materie und Mensch. Das Objekt der Anbetung, repräsentiert durch ein materielles Konvolut, ist ein künstlich Hergestelltes und scheint trotz unmittelbarer Nähe verborgen und unerreichbar zu sein. Nicht zuletzt werden die M-Fragmente durch den Einzug in die Kulträume des Kunstsystems wie dem Kunstraum Innsbruck und den kw in Berlin abermals zum Fetisch transformiert und ausgestellt.    

„One to one“, u.a. mit Günther K., KW Institute for 
Contemporary Art, Auguststraße 69, 10117 Berlin, 
18.11.2012–17.2.2013
 
Bilder aus dem Kataolg „Margret - Chronik einer Affäre“,erschienen bei Walther König, Köln, 2012 (© Günther K.)
Bilder aus dem Kataolg „Margret - Chronik einer Affäre“, erschienen bei Walther König, Köln, 2012 (© Günther K.)
Bilder aus dem Kataolg „Margret - Chronik einer Affäre“, erschienen bei Walther König, Köln, 2012 (© Günther K.)
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