Specksteinschnitzereien am Wiesengrund

Reflexionen eines festen, freien, selbstständigen Teilzeitkünstlers

2014:Jul // Christoph Bannat

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07-2014
















Es ist eines dieser kaum noch hässlich zu nennenden Gebäude. Für ein solches Prädikat sind sie einfach zu gewöhnlich. Nie, ich hätte nie gedacht, jemals in einem solchen zu arbeiten. Eines von Hunderttausenden in Deutschland. Verkehrsgünstig gelegen, irgendwo im Umland von Flughäfen, entlang von Autobahnzubringern, Umgehungs- und Ausfahrtstraßen. Gebäude die beim Vorbeifahren gerade noch im Augenwinkel erscheinen, die man aber nicht wirklich sieht, und die man gleich wieder vergessen wird. Aus hastig montierten Betonmodulen um Betongerippe, wellblechbedacht, mit postmodernistisch aufgelockerten Eingangsportalen der Bürotrakte. Sogenannte Logistikzentren, deren Architekten irgendwo am Stadtrand, in lustlos gefertigten Flachdachsiedlungen mit Vorgärten, wahlweise in Reihe oder einzeln mit Hanglage wohnen. Architekten, die nur in intimster Runde und unter Alkoholeinfluss über ihre Arbeit sprechen. Dann kommt raus, was sie eigentlich machen. Und die ihre Töchter zu ihren lebensfeindlichen Werken schicken, um Fotos fürs Kundenportfolio machen zu lassen. Was in ihnen den Wunsch weckt, Architektur oder Fotografie zu studieren. Logistikhallen, oft grüppchenweise, die sich als architektonischer Ramsch in der Landschaft ducken, als schämten sie sich. Oft Zeugen eines als groß verkauften Plans, dem dann auf halber Strecke die Luft ausgegangen ist. Nach mehr als dreißig Jahren als Freischaffender arbeite ich jetzt fest und das bereits seit über einem Jahr. Das heißt regelmäßig, fünf Tage die Woche +/- 8 Stunden, beschäftigt als Selbstständiger. Ich liebe, nein nicht unbedingt die Arbeit, sondern die Gewohnheit, täglich zur Arbeit zu gehen. Bei der Arbeit mag ich das überschaubare Arbeitsfeld, das vor mir liegt. Dass die Gewohnheit mir Freiheiten gibt, ist neu, früher empfand ich sie als beengend. So war die Freiheit, die ich mir als Freischaffender nehmen „musste“, eine andere. Hier scheinen sich Proportionen in meinem Leben verschoben zu haben. Es ist körperlich harte, verantwortungsvolle, abwechslungsreiche und für einen auf selbstständiger Basis Arbeitenden schlecht bezahlte Arbeit. In einer fensterlosen, neonbeleuchteten, schmucklosen Werkhalle an einer Autobahnzufahrt. Die Gewohnheit, täglich zur Arbeit zu gehen, umgibt mich wie eine Wolke. In ihr habe ich die Möglichkeit, mich zu entwickeln, meine Lebensabläufe zu justieren. Sie erleichtert es mir, meine Lese-, Bewegungs- und Ernährungsgewohnheiten zu gestalten. Sie hüllt mich in einen wohltuenden, ironischen Abstand zu meinem Körper. Und das, nachdem ich Jahrzehnte – die längste Zeit als freier TV- und Print-Autor – selbstständig gearbeitet habe. Selbst und das ständig, wie mein Fahrschullehrer zu sagen pflegte. Ich habe in dieser Zeit Schulden angehäuft und sie innerhalb von zehn Jahren abgetragen. Rente bekomme ich vielleicht einmal so um die 300 Euro. In der bis dahin verbleibenden Zeit, werde ich es nicht schaffen, diesen Betrag wesentlich zu erhöhen, da müssten schon Wunder passieren. Also bleibt mir nur, mein Leben interessant zu gestalten. Wie viele bin ich Mitte der 1990er-Jahre dem Mythos der Selbstständigkeit aufgesessen. Nach einer abgeschlossenen Druckerlehre und einem Kunststudium. Mitte der Neunziger gab es Animationshilfen für eine mögliche Selbstständigkeit, sogenannte Existensgründungs- und Gründerdarlehen. Es war das Jahrzehnt der sogenannten Ich-AGs. Die Mittelschicht wurde trainiert, das eigene Leben zunehmend als Risikokapital zu betrachten und möglichst gewinnbringend einzusetzen. Wer’s nicht schaffte, hatte eben selbst Schuld. So arbeitete jeder an seinem Lebensentwurf und keiner an einer Idee von Gemeinschaft. So entstand der Phantomschmerz unserer Gesellschaft. Verbunden mit der Frage, wo sich unsere Leben denn wirklich, jenseits einer lediglich behaupteten Solidarität, berühren. Gleichzeitig lebte ich noch das Ideal der Siebziger, Leben und Arbeit miteinander zu verbinden. Viele Studienkollegen und -kolleginnen machten nach dem Verlassen der Hochschule zunächst eine Mischkalkulation aus Scheinselbstständigkeit, Projektarbeit, Stipendien und gelegentlichen Verkäufen (wenn’s gut lief) auf. Unbezahlte Praktika, Heim-Computer-Arbeit kamen erst später. Wir folgten, ohne uns dessen bewusst zu sein, dem Fahrplan der rot-grünen Regierung und deren neoliberaler Politik, den nur sie durchsetzen konnte. Hätte die CDU/FDP versucht, diesen Weg durchzusetzen, hätte Rot-grün dagegen sein müssen.
So viele Möglichkeiten es bietet, „überhaupt in Arbeit“ zu sein, so beleidigend ist es, der verarmenden unteren Mittelschicht, aus der die meisten „Billiglohnarbeiter“ im Kulturbetrieb rekrutiert werden (abgesehen von jenen Lohndumpingarbeitern, die nur des symbolischen Wertes wegen arbeiten, weil sie noch privat Zweitmittel beziehen), auch noch ihre Altersvorsorge aufzubürden. Das ist zynisch. Es zeigt die Arroganz der Macht der Regierenden, die kein Geld zur Verfügung stellt und anschließend die Geneppten beschimpft, nicht selbst für sich gesorgt zu haben. Das betrifft viele Künstler, die auf dem „freien Markt“ arbeiten. Diese „arbeitenden“ Künstler wissen meist nicht, wo sie hingehören, oft haben sie ein gekränktes und damit kampfgeschwächtes Selbstwertgefühl, mit der Ausrede im Gepäck, im Herzen doch etwas anderes zu sein. Oft wissen sie nicht, was ihre Arbeit zwischen Aushilfs-Job und „echter“ Ausbildung wert ist. Eine Unsicherheit, aus der sie nur ein schambesetztes Selbstbewusstsein generieren. Ein typisches Mittelschichtsproblem, das auch mit einem schlechten Image von körperlicher Arbeit verbunden ist. Hier verläuft eine unsichtbare Linie, kein Graben, zwischen körperlicher Arbeit und geistiger Lehrtätigkeit. Hier trennt sich die Welt von Kuratorenjobs, Lehraufträgen, Professuren und „reinem“ Künstlertum. Dabei sind es nur unterschiedliche Erschöpfungsgrade. Weisungsgebunden arbeitende Künstler sind meist Grenzgänger; zwischen Atelier, Arbeit und Familie. Sie arbeiten für die Ateliermiete. Zeit, die ihnen fehlt, dies zu nutzen. So wird das Atelier zum Lager verblassender Träume, hoffend, dass dieses Schaulager eines Tages an Wert gewinnt. Grenzgänger zwischen Familie, Arbeit, Ausstellen, Gelegenheitsverkäufen und Jobs, auf der Suche nach dem richtigen im falschen Leben. Ein spannendes Leben, eines das manchmal arg spannt. Ein kompliziertes Leben, nicht aber notwendigerweise auch ein komplexes Leben. Sie treffen sich beim monatlichen Kirchgang auf Ausstellungseröffnungen. Hier erneuern sie ihren Glauben, unter dem Soundschauer ästhetischer Predigten. Hier knien sie neben anderen Mischformen – z.B. den von Eltern, Ehepartnern oder als Erben Vollfinanzierten. Gesichert durch Eigentumswohnungen, durch die den Eltern der Zugang zur neuesten Brut gesichert ist. Und alle beäugen sich aus den Sitzreihen heraus, ihren ausdifferenzierten Sozialplateauchen. Beim Kirchgang, der für manche die einzige soziale Verbindlichkeit darstellt.
Pünktlich fünfuhrdreißig, nachdem der Wecker summt, beginnt sich die Wolke langsam, in Form von Nebelfäden, zu bilden. Um sich dann auf dem einstündigen Weg zur Arbeit zu vervollkommnen. Verdichtet durchs konzentrierte Lesen in U- und S-Bahn, Lesen als Form von Selbsthypnose. Die Autoren im letzten Jahr waren: K.P. Dick, Jorge Luis Borges, Stanislav Lem, Hans Belting, Hans Blumenberg, Boris Groys, Noam Chomsky, Foucault, Jean Genet.
Und sie, die Wolke der Gewohnheit, umgibt perfekt, wohltuend, vom Weg der S-Bahnstation ins Gewerbegebiet. Neun Minuten, entlang an meiner geliebten Wiese. Entstanden auf einer Baubrache. Hier entpuppt sich mir Natur täglich als Ritual. Ein einzigartiges, zu vernachlässigendes, profanes, banales und natürliches Ritual von Wiederholung, Anpassung und Teilung. Von Überreiztheit und Übertreibung in der Blütezeit, morbider Formenvielfalt im Winter und gleißender Langeweile im Sommer. Und ich stelle Doubletten her, in Form von Fotos, die ich mit Tiefenschärfe zerschneide und mit Zwangsblitzen erhöhe. Ich dammel, trödel, schlenze. Ich komme später als geplant zur Arbeit. Ich kann mir den Arbeitsbeginn selbst einteilen. Täglich gehe ich an diesem zu vernachlässigenden Naturschauspiel vorbei, von dem wir abhängig sind. Es erinnert mich an uns. Und wenn ich uns sage, meine ich uns, Menschen. Manchmal denke ich, noch in der Bahn fahrend, an sie, den möglichen Raureif, hoffe auf Regentropfen, eingefrorene Knospen, feinsinnige Gräser und die obszönen Blüten. Manchmal denke ich über den Umweg meiner Doubletten an sie, die Wiese. Dann kann ich es kaum erwarten, mir diese auf dem Computer in Groß zu betrachten. Doch Zuhause angekommen, bin ich oft zu müde dafür. Eine Müdigkeit, die mich dann den ganzen Nachmittag bis in den Abend in ihren Fängen hält. Sie los zu werden, ist meine nächste Aufgabe. Auch um mehr Zeit für meine seit Monaten unkonzentriert verhuschten Kritzeleien (ich schaffe es kaum noch mich auf ganze Bilder zu konzentrieren) zu haben. Und für solche intellektuellen Specksteinschnitzereien wie diesen Text hier. Specksteinschnitzereien? Hab ich dafür Kunst studiert – wo bleiben die großen Ideen?
Zeichnung (© Christoph Bannat)
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