Andreas Enrico Grunert im Gespräch mit Peter Piller

/ Der Dialekt der Bilder

2011:Aug // Andreas Enrico Grunert

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07-2011











Grunert  /   Lieber Peter, du hattest gerade vom 18.02. bis 14.05. eine Einzelausstellung mit dem Titel „Am liebsten sitze ich allein im Auto“ in der Galerie Wien Lukatsch in Berlin. In der Ausstellung konnte man Fotos sehen, die dein 8-jähriger Sohn gemacht hat, wie zum Beispiel in dem Buch „Schlaf“. Woher kam die Idee, ihn mit in die Ausstellung und in deine künstlerische Arbeit einzubeziehen?

Piller  /   Das kam einmal daher, dass er relativ früh im Alter von vier Jahren Interesse für die Kamera entwickelt hat und mit meiner Kamera fotografieren wollte, was mir natürlich teilweise nicht lieb war, dass er da mit einer teuren Leica herum rannte, ich auf der anderen Seite natürlich nicht den Impuls unterdrücken wollte, dass er Erfahrungen mit dem Gerät macht. Also habe ich ihm relativ bald eine gute, günstige Digitalkamera gekauft. Und mit der hat er in den letzten drei, vier Jahren ungefähr 4000 Bilder gemacht, die ich auch mit ihm sichte und über die wir sprechen. Wir sind natürlich immer mal wieder im Gespräch über Fotografie. Was mich daran interessiert, ist zu sehen, welche Kriterien er fürs Gelingen eines guten Bildes entwickelt oder welche er womöglich schon hat.
Und um jetzt ganz konkret auf „Schlaf“ zu sprechen zu kommen oder warum das eine gemeinsame Ausstellung geworden ist: Das hat einmal damit zu tun, dass ich ja schon immer Bilder von anderen Leuten verwendet habe und schon immer behaupte, dass Bilder, die man künstlerisch diskutieren oder unter künstlerischen Fragestellungen anschauen kann, nicht nur von Künstlern gemacht sind, sondern sich auch in der Alltagswelt, in anderen Kontexten finden lassen. Da ist es dann letztlich in der Qualitätsbeurteilung von Bildern erheblich, in was für einen Kontext die gestellt werden. Und wie man darüber spricht ist manchmal wichtiger, als eben das Bild im herkömmlichen Sinne gut ist. Und bei den Schlafbildern war es jetzt so, dass er mit der eigenen Kamera angefangen hatte, mich zu fotografieren. Er steht ja viel früher auf. Ich bin tendenziell ein Langschläfer. Er ist, wie alle Kinder seines Alters, ein Frühaufsteher. Das heißt, er ist zwischen 6 und 7 Uhr im Sommer wach und dann weckt er mich entweder oder er turnt in der Wohnung rum. Und dann hat er eben auch mal mich fotografiert. Das fand ich interessant, die Fotos fand ich interessant und überhaupt das Interesse, dass er sich da ran wagt.

Grunert  /   Hast du ihn auch dazu ermutigt?

Piller  /   Er hatte immer mal wieder so ein Foto gemacht und als ich die gesehen habe, habe ich nicht gleich gedacht, dass ich die mal verwenden werde. Die ersten Schlaffotos sind vor zwei Jahren entstanden. Dann hat er es wieder aus den Augen verloren, ich habe nicht weiter drüber nachgedacht. Irgendwann im Vorfeld der Ausstellung kam ich wieder drauf. Eigentlich war das eher so, dass ich gedacht habe, ich möchte mal was machen, wo ich als Person ein bisschen schutzloser bin oder was auf eine Art persönlicher ist, als es Archivarbeiten sind.

Grunert  /   Das ist ja auch ein Selbstportrait, das man als Fotograf gar nicht selber von sich anfertigen kann.

Piller  /   Richtig. Es hat natürlich auch was von einem Selbstportrait. Ja und dann wollte ich natürlich mehr Material zum auswählen und habe mich dann bemüht, verschiedenfarbige Bettlaken zu benutzen und häufiger den Schlafplatz zu wechseln.

Grunert  /   Wirklich?

Piller  /   Ja, ja klar, damit ich ein bisschen Abwechslung drum herum habe.

Grunert  /   Wusste dein Sohn davon?

Piller  /   Nee, das wusste er nicht. Und ich habe bei gemeinsamen Hotelaufenthalten gehofft, dass er ein Foto macht. Als dann der Termin für die Ausstellung näher rückte und ich wusste, ich will die Bilder auf jeden Fall zeigen, da habe ich begonnen, so Zettel zu schreiben: „Schlaffoto bitte“. Und habe den dann an einem Ort platziert, wo er ihn auch finden müsste am nächsten Morgen. Also, der Ort, an dem man ihn auf jeden Fall findet, ist der Fernseher [lacht]. Es ging also nur über den Fernseher. Ich hab dann fast jedes zweite Foto genommen. Ich glaub, es sind letztlich 80 Fotos, die er gemacht hat. Irgendwann gab es dann die Überlegung: Nee, ich möchte nicht, dass die Sachen an der Wand hängen, sondern ich möchte das, weil die Bilder so intim sind, lieber in einem Buch haben. Und dann gab es die Entscheidung: kleine Auflage und nur in Ausstellungen zu sehen, aber groß, damit man auch wirklich den Finger in die Wunde legt.

Grunert  /   Was ich an dem Buch so schön finde, ist die geringe Auflage, deinen intimen Moment nur ganz wenigen Menschen anzuvertrauen.

Piller  /   Ja, das kam aber relativ spät, weil ich, wie gesagt, am Anfang dachte, ich möchte mal raus in die Welt mit was Persönlichem und ich wag jetzt alles und so (lacht), wage viel mehr, als … und da bin ich ein bisschen zurück gerudert. Ich war auch so’n bisschen erschrocken davor, vor der Vorstellung, jetzt hängt es da an der Wand, da gibt es da so einzelne Prints, die kauft womöglich irgendein Sammler. Da hänge ich dann im Schlafzimmer bei irgend so einem Sammler –nee, das will ich jetzt doch nicht. Eigentlich ist das Buch der perfekte Ort dafür.

Grunert  /   Die Einladungskarte zur Ausstellung ist aber auch mit einem Motiv bedruckt.

Piller  /   Ja, aber mit einem, wo eher die Hand drauf ist, als das Gesicht. Die ist ja relativ verhalten die Einladungskarte verglichen mit den anderen Fotos. Aber jetzt gab es ja ’ne ganze Seite mit sechs Fotos in der Monopol. Hast du vielleicht gesehen?

Grunert  /   Nein, die lese ich nicht!

Piller  /   [lacht] Ja, ich lese die ja immer. Nee, ich hab die immer mal wieder zwischendurch nicht gelesen und dann lese ich sie wieder, man kommt ja nicht dran vorbei. Und jedenfalls habe ich dann gedacht: Mist, das habe ich jetzt versemmelt, das war ein Fehler, die Bilder zu veröffentlichen, weil das Buch ist das Buch und eigentlich soll es nur ein Buch sein. Aber ich mach halt auch manchmal Fehler und jetzt werde ich mich auch nicht ewig drüber ärgern. Aber die Entscheidung mit dem Buch war auf jeden Fall richtig. Und die Sache ist jetzt abgeschlossen. Also, es gibt keinen zweiten Band und mein Sohn fotografiert mich jetzt auch erstmal nicht weiter im Schlaf, vermute ich.

Grunert  /   Du zeigst noch vier weitere Arbeiten in deiner Ausstellung, sind das alles neue Arbeiten?

Piller  /   Die anderen Arbeiten hab ich alle noch nicht gezeigt. Aber es sind alles Arbeiten, die Vorlauf hatten, also Produktionsvorlauf oder Zeit, in der sie noch lagen. Mir ist es eigentlich unangenehm, Sachen so direkt vor der Ausstellung fertig zu stellen und dann zu zeigen. Es tut der Arbeit meistens besser, wenn sie noch mal ein halbes Jahr gelegen hat. Zwei der Projekte, die ich da jetzt gezeigt habe, die Autobahnbilder und die Bilder vom Hamburger Stadtteil Lurup, mache ich noch weiter. Also, wenn ich jetzt gleich ins Auto steige, dann fotografiere ich wieder.

Grunert  /   Meinst du für die Diaarbeit „Kraft“?

Piller  /   Nee, die ist im Grunde abgeschlossen. Mit der habe ich sogar noch früher angefangen. Auf dieses Kraft-Logo darauf bin ich schon als Kind oder Jugendlicher aufmerksam geworden. Das ist wirklich schon lange bei mir im Hinterkopf. Die Arbeit habe ich begonnen zu fotografieren, als ich Pendler wurde, 2007 oder so. Seitdem mache ich das immer, wenn ich daran vorbei fahre.

Grunert  /   Ich provoziere jetzt mal: Als ich in die Galerie gekommen bin und deine Bilder gesehen habe, musste ich sofort an studentische Präsentationen denken – du bist ja Professor an der HGB Leipzig.

Piller  /   Ja, das hat was Studentisches.

Grunert  /   … deine Bilder sind sehr klein, nicht gerahmt und nicht hinter Glas, sondern direkt und unkonventionell an die Wand gebracht. Das finde ich sehr gut. Welche Entscheidungen hast du getroffen?

Piller  /   Erstmal muss ich sagen, dass ich da jetzt gar nicht so viel drüber nachgedacht habe, weil ich das eigentlich schon immer so mache. Ich hab schon als Student studentisch ausgestellt und habe das dann später einfach beibehalten. Ich hab nie großartig gerahmt. Das hatte in der Entstehung den Grund, dass ich immer mit ganz, ganz vielen Bildern, mit diesen Unmengen von Zeitungsbildern …

Grunert  /   … da hat es sich auch angeboten …

Piller  /   … das hat es sich, aber es wäre auch gar nicht anders praktikabel gewesen. Ich hätte es nie finanzieren können, das zu rahmen. Und klar, es hat sich auch inhaltlich angeboten.

Grunert  /   Es hatte also auch Kostengründe?

Piller  /   Es hatte auch Kostengründe, klar, aber nicht hauptsächlich. Das einzige was ich immer rahmen wollte und auch gerahmt hab, waren die Luftbilder [Buch: „Von Erde Schöner“] und hin und wieder mal Zeichnungen. Und es stimmt nicht ganz, was du sagst, das ist nicht studentisch. Ich mach natürlich Dinge, die tatsächlich ein bisschen im Verhältnis zu dem stehen, was ich hier tue und wer ich hier bin in Leipzig, hier auf diesem Stuhl sitzend. Aber die Diplome sind ja überwiegend gerahmt, die Klassenausstellungen werden gerahmt, die Leute rahmen ja, was das Zeug hält. Die Leipziger Studenten rahmen viel mehr, als die Hamburger. Ich kann aber auch gar nicht damit konkurrieren. Ich denke nicht in Rahmungen. In meiner Ausstellung sind jetzt keine üblen Prints, aber das sind nicht so die High-End-Prints wie sie hier im Haus hergestellt werden. Das hat mich auch nie interessiert. Ich bin weit davon entfernt, alles daran zu tun, dass der Print perfekt ist. Das ist nicht meine Welt.

Grunert  /   Ich glaube, es hat für mich etwas damit zu tun, wo deine Arbeiten hängen. In einem Museum wäre es mir wahrscheinlich nicht so stark aufgefallen. Aber in einer Galerie, die auf Verkauf aus ist, hat ein Bild eine ganz andere Wertigkeit, wenn es z.B. hinter Glas ist, weil es dadurch geschützter ist…

Piller  /   … es ist geschützter und es ist auch leichter verkäuflich, auf jeden Fall, klar ja. Also, das könnte man wahrscheinlich besser verkaufen, wenn’s hübscher daher käme. Aber ich finde es auch eher angemessen für die Art und Weise, für das, was drauf ist eben. Ich beschäftige mich mit Alltagsleben, ich beschäftige mich mit dem Allgemeingültigen, ich bin nicht mit Mittelformatkameras unterwegs, sondern eher mit Jedermann-Kameras. Ich versuche ja, alles so möglichst auf einem besseren Amateur-Level zu halten.

Grunert  /   Die Präsentation ist dem angemessen?

Piller  /   Ich finde das angemessener. Es hat was damit zu tun, wie das Ausstellen selber für mich Sinn und Spaß macht. Ich fasse gern den Print an und tue ihn so mit der Hand an die Wand. Ich habe das Gefühl, dann denke ich auch noch dabei. Und sobald ich damit anfange den Print hinter eine zerbrechliche Glasscheibe zu machen, Handschuhe tragen und mit der Wasserwaage hantieren muss oder so, fange ich an zu blockieren und merke, dass da Türen zuschlagen in meinem Denken. Ich habe immer das Gefühl mich engt das eher ein. Aber die Sammler, die sich für meinen Kram interessieren, die kennen das natürlich jetzt auch schon seit vielen Jahren von mir. Da gibt’s Reaktionen darauf.
Für die Zeitungsprints [Archiv Peter Piller] haben mich viele Sammler gebeten, eine Lösung zu finden, weil die genagelt werden, also das Bild ist dann nachher gelocht. Ich verstehe, dass ein Sammler, der für eine Gruppe Bilder fünf- oder zehntausend Euro zahlt, dass der so einen gewissen Widerstand hat, das Ding zu lochen. Deshalb haben wir dann gesagt, wir produzieren zwei Sets. Eins wird signiert und geht beim Sammler in die Schublade und eins ist für zu Hause und dann kann er es genauso nageln, wie ich es in der Ausstellung tue. Das ist eine Strategie, dem zu begegnen, weil ich das auch eigentlich lieber hab, dass die Leute mit den Sachen so umgehen wie ich mit den Sachen umgehe und das einfach angemessener finde, wenn das dann auch so in den Sammlungen hängt.

Grunert  /   In der Ausstellung gab es nur einige wenige Aufnahmen aus dem Archiv zu sehen. Du hattest in anderen Interviews gemeint, dass viele Leute dich immer wieder fragen: warum machst du keine eigenen Bilder. Und jetzt waren fast nur eigene Bilder in der Ausstellung zu sehen. Es gibt ja auch Sammler, die in solchen Situationen denken: Oh Gott, jetzt macht er was ganz anderes.

Piller  /   Naja, ich mein, es ist eh klar gewesen, dass ich jetzt nicht mein Leben lang weiter Zeitungsbilder sammeln kann, und dass das auch keinen Sinn macht und ich jetzt nicht unbedingt auf anderen Feldern auf Teufel komm raus sammeln muss. Ich kriege viele Angebote, verschiedenste Nachlässe. Ich sehe mir das meistens auch alles an, aber ich wollte was Neues machen. Mich reizt es, was anderes auszuprobieren. Ich kann nicht ein Leben lang das weitermachen, was ich kann. Wenn ich die Fotografie betrete, dann betrete ich ja die Fotografie ein Stück weit als Amateur, und das reizt mich auch daran. Ich habe ja keine fotografische Ausbildung wie alle Leute, die dieses Haus durchlaufen, weil ich was ganz anderes studiert habe. Ich habe Kunst studiert, bei jemandem, der Skulptur und Zeichnung gelehrt hat, zu einer Zeit in der Fotografie für manche Leute gerade anfing Kunst zu werden. Aber im normalen Klassengespräch tauchte Fotografie fast gar nicht auf. Ich hab zwar damals schon fotografiert, aber wie ’ne Kamera funktioniert oder was das Fotografische eigentlich ist, das hat mir im Studium keiner erzählt.

Grunert  /   Zu welcher Zeit war das?

Piller  /   Ich hab 1992/93 ungefähr angefangen, 1999/2000 Diplom gemacht und dann noch ein halbes Jahr Aufbaustudium. Um das noch ganz kurz inhaltlich zu ergänzen: bei dieser Lurup-Arbeit ist es so, dass ich eigentlich in Lurup gestartet bin und die ganze Zeit daran dachte, Portraits zu machen, was für mich ein großer Widerstand ist. Ich würde gerne Portraits machen, habe aber nie Portraits gemacht. Und ich schleiche da jetzt seit einem Jahr in Lurup herum, um endlich mal Leute anzusprechen, mich zu trauen. Ich bin ja scheu und trau mich immer nicht. Das kommt irgendwann oder es kommt nie. Aber weil ich dann wieder keine Menschen auf meinen Fotos hatte, aber gerne welche drauf haben wollte, habe ich angefangen, den Luruper Anzeiger mitzunehmen, das ist so ein Stadtteilmagazin, eine Stadtteilzeitung, die so zur Hälfte voll ist mit Werbung und zur anderen Hälfte eben so lokale Reportage hat. Die nehme ich mir immer mit und nehme mir die Menschen aus der Luruper Zeitung. Also, kein Rückgriff auf Zeitungsarchive von vor zehn Jahren, sondern aktuell für die Ausstellung gesammelte Fotos aus dem Luruper Anzeiger.

Grunert  /   Die hast du deinen eigenen Fotografien gegenüber gestellt?

Piller  /   Damit habe ich sie quasi ergänzt oder in Beziehung gesetzt. Das kann aber auch sein, dass da noch was anderes hinzukommt. Ich habe beispielsweise eine ähnliche ortsbeschreibende Arbeit im letzten Sommer in Bochum gemacht und da gibt es auch ein kleines Buch dazu, so eine „Materialie“ [Untertitel der Buchreihe]. Nachdem ich das dann gedruckt hatte, habe ich dann noch angefangen zu zeichnen und es sind knapp 20 Zeichnungen hinzugekommen. Auf der letzten Ausstellung in Köln im Herbst habe ich die Fotos und die Zeichnungen gemeinsam gezeigt und das damit abgeschlossen. Und es kann auch sein, dass zu der Lurup-Sache noch Zeichnungen hinzukommen oder womöglich sogar Texte oder so. Ich halte mir offen, ob das noch ergänzt wird durch einen anderen Teil oder ob das jetzt ’ne reine Fotoarbeit bleibt. Irgendwann möchte ich ein kleines Buch machen und das damit abschließen. Ich weiß auch im Moment überhaupt nicht, ob ich jetzt noch fünf Jahre nach Lurup fahre. Das sehe ich dann. Ich war jetzt nach der Ausstellung schon wieder drei Mal da oder so. Du kennst das ja, dann verbringt man viel Zeit irgendwo und es passiert manchmal gar nichts.

Grunert  /   Und fotografierst du analog oder digital?

Piller  /   Ich fotografiere seit zwei Jahren digital, davor habe ich auch schon vereinzelt digital fotografiert.

Grunert  /   Lurup und Bochum sind digital fotografiert?

Piller  /   Ja. Ich find’s einfach praktisch. Ich merke auch, dass es mir hilft, relativ zügig was zu sehen und immer auf das Fotografierte direkt reagieren zu können, Fehler schnell korrigieren zu können und die Entscheidung S/W oder Farbe nicht sofort treffen zu müssen. Es gibt einfach ein paar praktische Vorteile, die das hat.

Grunert  /   Zur Arbeit „Kraft“. Du sagst: „Kraft kann man brauchen und sie sieht immer anders aus.“

Piller  /   Ich glaube, jede künstlerische Arbeit hat was Selbstportraithaftes. Mit jeder Arbeit schreibt man sich selbst etwas ins Poesiealbum. Das glaube ich, egal, was man tut. Also, man kann noch so ’ne trockene Archiv-Type sein. Trotzdem hat das, was man sammelt und aufbewahrt, alles womit man umgeht, einen Seelenanteil, hat einen selbsttherapeutischen Anteil [lacht], hat ’ne persönliche Note. In meiner Akademieausbildung in Hamburg wurde das ständig thematisiert. Und es ist natürlich kein Zufall, dass ich an so einem Firmenschild kleben bleibe, wo so ein Begriff wie Kraft steht.

Grunert  /   Hat das was mit dir persönlich zu tun?

Piller  /   Das hat sicher auch was mit persönlichen Situationen oder mit einer Befindlichkeit zu tun. Das hat auch was…

Grunert  /   … mit der Strecke Hamburg-Leipzig zu tun?

Piller  /   Ja, es hat auch was mit den Gefahren, der Erschöpfung, dem an vielen Orten sein zu tun. Das ist so etwas wie eine Wegmarke, die ich passiere. Das habe ich irgendwie auch gemerkt und das ist auch was, womit ich langfristig noch was machen möchte. Für mich ist das noch nicht abgeschlossen das Nachdenken über das Pendeln. Diese Strecke zurückzulegen ist immer wie verschiedene Tore zu durchfahren, die einen in Räume bringen, die wieder ermöglichen auf eine andere Art zu denken und zu fühlen.

Grunert  /   Es gibt zwei Dinge an die ich denke musste, als ich die Arbeit „Kraft“ gesehen habe: das war auf der einen Seite das Wort Angst..

Piller  /   … das ist sehr dicht dran, ja …

Grunert  /   … obwohl Angst nicht das konkrete Gegenteil von Kraft ist. Auf der anderen Seite sehe ich einen gesellschaftlichen Aspekt, der mich an die berufliche Situation meines Vaters und meines Bruders erinnert hat. Beide arbeiten für eine Zeitarbeitsfirma und sind ständig im In- und Ausland unterwegs, arbeiten sozusagen Im-auf-Achse-sein.

Piller  /   Ja, und das gehört ja auch zum Künstlerberuf. Also, dieses 24-Stunden-am-Tag-angeschaltet-sein, dieser Selbstanspruch, den man an sich hat. Ich muss ja immer ganz weit geöffnet für kommende Projekte sein. Dass man das Gefühl hat, man ist immer angeschaltet.

Grunert  /   Aber kannst du auch was mit dem sozialen Aspekt anfangen, den ich erwähnt habe?

Piller  /   Ich hab daran jetzt so direkt nicht gedacht und das nicht so direkt drauf bezogen. Ich befrag, was ich tue, generell nicht während ich es tue, sondern frühestens ein halbes Jahr danach. Wenn ich irgendein Projekt starte oder irgendwas anfange, dann denke ich ganz lange nicht daran, was es bedeutet, versuche auch ganz lange, das nicht als Produkt zu denken. Das ist was, was ich mir von Anfang an angewöhnt hab. Im Falle „Kraft“ habe ich nie gedacht, dass ich daraus mal was machen würde, sondern ich habe das einfach so gemacht. Es ist so eine Art persönliches Ritual geworden. Ich finde es gut, was zu tun, was erstmal einfach sinnfrei ist, was erstmal nicht unter Verwertungsaspekten steht.

Grunert  /   Und was ist mit Humor?

Piller  /   Ja, Kraft ist ja erstmal ein relativ, für mich persönlich ungebrochen positiver Begriff. Er ist auch einer, den man aus der Physik kennt. Er hat einen guten Klang, er hat was Bestärkendes. Das ist ja im Foto schon gebrochen. Also, wenn man sich die Dinger ankuckt, dann geht ja die Schrift teilweise so, also beschreibt ja fast einen Bogen oder ist total zerfetzt von ’nem davor vorbei fliegenden Baum. Es ist ja ganz oft zerstörte Kraft, quasi verblichene Kraft, aufgelöste Kraft, die weg ist, die man gerne hätte …

Grunert  /   … und im nächsten Moment wieder da ist.

Piller  /   Ja. Es ist ja jetzt nicht so’n strahlender, reiner Begriff, sondern in der Bildserie wird er ja angenagt von allen Seiten. Und das finde ich ganz gut daran. Vorgestern habe ich noch mal – da wir vorhin über Arno Schmidt sprachen [vor dem Interview] – eine Stelle aus Brand’s Haide gelesen, wo Schmidt sagte: Wenn der Mond aussieht wie eine Spalt-Tablette, bin ich daran schuld oder Bayer=Leverkusen. Passt auch ganz gut dazu. [lacht]

Grunert  /   Du magst Arno Schmidt ja.

Piller  /   Was ich an Arno Schmidt mag, ist, dass er sich im Grunde das Recht genommen hat, sich seine Welt selber zu erfinden, und dass er ein Großmeister im Behauptungen aufstellen ist. Also, beispielsweise dieser Berechnungen-Text [Arno Schmidt: „Berechnungen“ I, II und III], der genügt ja keinen wissenschaftlichen Ansprüchen. Er sagt einfach: ich habe da ein System entwickelt, nach dem erzähle ich euch jetzt mal wie Dichtung funktioniert und wie wir die Welt wahrnehmen. Das ist aber alles Behauptung. Also, das ist durch nichts gestützt. Das entspringt seinem Kopf und gleichzeitig ist es unterhaltsam. Es ist klug und unterhaltsam. Es hat immer auch was Selbstironisches, das mag ich an Arno Schmidt. Er ist ein sehr unabhängiger Typ gewesen. Arno Schmidt hat Jan Reemtsma, der ihn fördern wollte, verjagt und hat gesagt: lass mich in Ruhe schreiben. Herr Schmidt ist einfach jemand, der sein Gartentor zugemacht hat und sich in seiner Arbeit selbst genügte, der wirklich sehr autonom gedacht und gehandelt hat, sein ganzes Leben, das bewundere ich einfach.

Grunert  /   Denkst du, dass seine Texte dich in deiner Arbeit beeinflusst haben?

Piller  /   Arno Schmidt hat mich auf jeden Fall beeinflusst. Ich glaube an einer Stelle in den „Berechnungen“ sagt er, dass das Leben im Grunde ein langweiliger, ruhiger Fluss ist, in dem es rückwirkend in der Erinnerung das gibt, was er Snapshots nennt. Er sagt, wenn wir uns an Geschehnisse in unserem Leben oder an den vergangenen Tag erinnern, dann erinnern wir das quasi fotografisch, dann erinnern wir ’ne Menge banales Zeug nicht und dazwischen einzelne Momentaufnahmen, die fotografisch und unglaublich detailreich sind. Aber es gibt eine Menge anderer Autoren, die mich auch sehr beeinflusst haben: Handke, Stifter, Hubert Fichte, Emmanuel Bove, Ingeborg Bachmann, Nicolas Born oder Marlen Haushofer. Ich habe ja auch Literatur studiert. Literatur war mir immer sehr wichtig, ist mir heute noch sehr wichtig.

Grunert  /   Ich denke, es gibt Verbindungen zwischen der Literatur Arno Schmidts und einigen Bildgruppen aus deinem Archiv. Schmidt schreibt seine Texte so wie gesprochen wird und dadurch entstehen neue Wortbilder und -bedeutungen. In deinem Archiv wiederum finden sich Bilder, die, aus ihrem eigentlichen Kontext Tageszeitung herausgelöst, völlig neue Bedeutungen bekommen, die so nicht beabsichtigt sind.

Piller  /   Über den Kontext und über eine neue Nachbarschaft, in die Bilder gesetzt werden, ja, das ist auf jeden Fall richtig. Die Texte von ihm sind ja wie Collagen. Da gibt es sicher eine Verwandtschaft.

Grunert  /   Wie ist es mit dem Dialekt, den Arno Schmidt oft verwendet hat? Gibt es einen Dialekt in deinen Bildern?

Piller  /   Ich überlege gerade, ob es einen Dialekt gibt. Ja, das ist eine gute Frage. Ein Dialekt ist ja sozusagen ein Hinweis auf die Herkunft. Wenn ich schwäbisch spreche, dann habe ich was mit Schwaben zu tun. Mein Dialekt wäre sozusagen meine Herkunft, meine Biographie [lacht]. Meine persönliche Geschichte ist mein Dialekt, der allem Gesagten den Ton verleiht und das ist ein Dialekt, der glaube ich häufig übersehen wird.

Grunert  /   Und deine subjektive Auswahl.

Piller  /   Ja, und die ist immer größer als rezipiert wird, obwohl ich das in jedem Interview und in jedem Gespräch erwähne. Das, was ich hier tue, ist eine sehr persönliche Arbeit. Das, was ich hier tue, sieht nur so aus, als wäre es objektiv. Es ist aber in Wirklichkeit sehr subjektiv. Und das ist ein Stück weit ein Missverständnis, von dem ich profitiert habe und profitiere, dass Leute denken, jetzt erzählt uns mal jemand wie Deutschland auf dem Lande aussieht oder so was. Das stimmt einfach nicht. Also, ich erzähle was über meine Weltsicht und über meine Familiengeschichte, ganz häufig. Die Dinge haben immer einen Subtext, der da mitläuft. Das Aufmerksamwerden hat immer was mit einer Gestimmtheit zu tun, in der man sich befindet. Man wird auf dieselbe Sache manchmal eben erst nach Jahren aufmerksam, weil man sich in einem bestimmten Zustand befindet, der einen öffnet. Genauso wie man in ein Lebensalter eintritt, in dem man auf Dinge aufmerksam wird, auf die man im vorherigen Lebensalter nicht aufmerksam werden konnte, weil man anders in der Welt war, als ein anderer in der Welt war. Das spielt alles eine Rolle. Weil wir jetzt schon über Literatur sprachen – Literatur von Peter Handke war für mich jahrelang regelrechtes Doping, weil, wenn ich so einen Roman gelesen hatte, dann hatte ich das Gefühl, mir weiten sich die Sinne, ich werde aufmerksam auf Dinge, an denen ich sonst vorbei gekuckt hätte.

Grunert  /   Danke für das Gespräch!

Peter Piller, aus der Serie „Kraft“, 2010, 80-teilige Diashow (© Galerie Wien Lukatsch, Berlin)
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