Tagebuch

aus dem Berliner Herbst

2011:Dec // Einer von hundert

Startseite > Archiv > 12-2011 > Tagebuch

12-2011
















8. September, morgens, abc-Messe am Gleisdreieck
Jetzt habe ich diesen Job auf der abc angenommen und weiß nicht wohin. Ich steh rum wie ein Depp. Meine Tasche mit dem Laptop habe ich in einer Kiste, die steht aber zehn Meter weg von dem Bild, das ich betreuen soll. Ja, betreuen, so hat mir das mein temporärer Chef gesagt. Wenn jemand fragt, soll ich ihm die Karte geben und den Text. Ich soll aber ja nicht aussehen wie so ein Kneipenflyerverteiler auf der Oranienburger.
Deswegen ist der Text jetzt in der Tasche in der Kiste. Jetzt wurde ich schon zum zehnten Mal wegen dem Bild neben unserem gefragt, da steht auch niemand dazu daneben. Soll ich das jetzt mitbetreuen? Verdammt. Nach unserem haben erst zwei gefragt. Klar, die wissen ja auch nicht, dass ich zu dem Bild gehöre. Die haben mich eher als normalen Besucher gefragt und als sie auf dem Rückweg nach zwei Stunden wiederkamen, wunderten sie sich, dass ich immer noch da stehe. Als ob mir das besonders gut gefallen würde, ich bin kein Depp, ich will nach Hause …

8. September, abends, Autocenter, Eldenaer Straße
„Netter Text, den du da neulich geschrieben hast“, begrüsste mich der von mir an dieser Stelle gründlich verrissene ehemalige Weddinger Feinkosthändler auf der Charity-Auktion des Autocenters, „nur hättest du auch deinen Namen drunter setzen sollen“. Mal abgesehen davon, dass das an dieser Stelle sowieso nicht annähernd angedacht ist, wäre das auch ansonsten eine eher blöde Idee: Schließlich will man weiterhin wenigstens da eingeladen werden, wo man noch eingeladen wird. Aber was heißt eigentlich heute noch „Einladung“?

einen Tag davor, 7. September, wieder abc-Messe
Nehmen wir mal das meiner komplett unmaßgeblichen Meinung nach durchaus gelungene Format der „abc“, die ihre wirklichen Kunden zwischen 14 und 18 Uhr unter sich sein ließ und den Rest des Betriebs zu einer „Eröffnung“ zwischen 18 und 21 Uhr einlud. Die Pressekonferenz ging – abgesehen von der stringenten Sprachregelunsgpolitik und einer gewissen Humorlosigkeit auf beiden Seiten – gerade noch in Ordnung: Immerhin hatte Sammler, Gastronom und Rahmer Stephan Landwehr freundlicherweise daran gedacht, dass auch wir Schreiber wach bleiben und nicht durch zu lautes Magenknurren auffallen sollten und sowohl einige Tabletts mit großartigen, Burger-ähnlichen Brötchen hingestellt als auch das Tresenpersonal angewiesen, einen Cappuccino nach dem anderen auszuschenken – und zwar solchen mit gefühlten drei Espressos drin. Doch nur sechs Stunden später sah die Wirklichkeit irgendwie unfreundlicher aus: Fünf Euro das Getränk am Stand (Bionade war aus, danke auch!), acht Euro das Essen zum Selberholen – „Einladungen“ implizieren anderes, und da wo ich lebe, kann man für solche Summen schon Originale kaufen.

wieder 8. September, abends, Autocenter, Eldenaer Straße
Acht Euro übrigens auch einen Tag später im Autocenter das Glas Schampus, dazu wurden auf dem ansonsten ganz charmanten Balkon die traurigsten Bratwürste der Welt offeriert – ob es wohl auch an solchen kleinen Dingen liegen könnte, dass sich der Überschwang, den große Preise brauchen, einigermaßen in Grenzen hielt und es diesmal zuging wie im Discounter eine Etage tiefer? Schnäppchen hier, Schnäppchen da – und besäße ich Meese oder Grosse, würde ich mir langsam Sorgen machen.

11. September, Christian Ehrentraut, Friedrichstraße
Zum Glück gibt es sie noch, Euro-Krise hin oder her, die guten Gastgeber: Wenigstens Galerist Christian Ehrentraut hatte die Größe, den Menschen, die seinen Laden auf die eine oder andere Weise am Laufen halten, am Sonntag sein jährliches Frühstück hinzustellen, das wieder einmal durch großen Schinken (Spanien), großen Käse (Italien), leckere Oliven (Griechenland) und ein mit Haselnüssen, Karotten und ähnlichem gespicktes Vollkornbrot (wahrscheinlich Bio- Laden) beeindruckte. Und alleine deswegen werde ich da eines schönen Tages ein Bild kaufen.

18. September, neugerriemschneider, Linienstraße
Hat man schon mal so eine schlimme Ausstellung wie die von Jorge Pardo bei neugerriemschneider gesehen? Nein, denn das ist ja wohl die Höhe der Geschmacksverirrung. Da ist alles schlimm. Bunte über die Wand laufende Ameisen, bunte an der Decke hängende Lampions, bunte auf einem Podest stehende Möbel. Ein buntes Allerlei, das durch nichts zu entschuldigen ist. Sechs! Setzen!

28. September, im Atelier
Lese das Interview mit Daniel Richter in der ZEIT. Dachte vorher immer, dass der ein halbstarker Schleimer wäre. Aber nein, die Hälfte der Sätze hätte ich genau so sagen können. Wenn ich mehr Wissen hätte. Ich mag den jetzt. Wenn nur diese bunten Bilder nicht wären.

18. Oktober, Sprüth Magers
Auf der Suche nach dem, was als Berliner Kunstherbst benannt werden sollte, der Suche nach dem Ei des Kolumbus oder dessen Dotter, sind diese Arbeiten sehr sinnbildlich: Gesichtsfeld leer und austauschbar, kein Ausweg in Sicht. Danke, John Baldessari.

2. November, auf der Straße, mit dem Hund, vor dem Atelier
Weiß auch nicht, was soll man noch machen. Den Kopf müsste man mal frei kriegen. Man müsste sich mal konzentrieren. Ich hör’s auf. Ich geb’s bald auf. Jetzt muss ich wieder da hin und dann muss ich dort hin. Der Dax auch wieder so scheiße. Wie soll das denn jetzt gehen? Da geht doch nichts mehr. In Paris, in Miami, in Madrid, in Köln. Im Herbst nichts verdient. Im Sommer nichts verdient. Keiner war da. Keiner hat’s gesehen.

4. November, nachmittags, ziellos
Diese messefreie Leere zwischen Sommer und Jahresende zu fassen, das fällt mir schwer. Keine paar Wochen her ist die Frieze in London, war die Fiac in Paris, gestern fing in Turin die Artissima an, und da streife ich hier in Berlin durch die Gassen, ohne dass es sich mehr weltmännisch und kosmopolitisch anfühlt. War es früher schöner, bunter, umtriebiger, unverkrampfter? Zumindest gab es eine Messeleitung, der man Vorwürfe machen konnte, wenn es anfing, piefig zu werden.

4. November, abends, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien
Samstag- oder Freitagabend im Kunstraum Kreuzberg. „Let the Rhythm Hit’Em“. Eine Show, die man so schnell nicht vergessen wird, denn hier ist bunter Jahrmarkt. Internationaler Medienkäse auf Kosten des Hauses (Haus = Institut Français Berlin, Office for Contemporary Art Norway (OCA), Thomann, cine-plus, boesner, PAM/events Veranstaltungstechnik, Theaterhaus Mitte). Man mäandert aus einem Sound-, Licht- und Flickerkegel in den nächsten. Es flimmert, es wummert, es rotiert, es rattert, es zappelt. Ich muss unwillkürlich an einen Ausspruch meines lieben Professors, Gott hab ihn selig, denken: Eins kann man ja wohl mindestens von einer guten Skulptur erwarten, nämlich dass sie stillhält. Schnell raus hier.

4. November, immer noch zu Hause, schon spät
Pressebüros geben sich alle Mühe, noch was rauszuholen, ob es die Gesichter der Renaissance, Pawel Althamer oder die verlängerte Hokusai-Retrospektive sind. Besonders skurrile Wellen schlug die Berichterstattung bei Taryn Simon, worüber ich, Allmächtiger sei Dank, mich, erst nachdem ich die Ausstellung gesehen hatte, wundern durfte. Vermutlich wird sie das Genre Porträt nicht von Grund auf revolutionieren, aber mit etwas Glück daran erinnern, dass wir uns inmitten sehr starker gesellschaftlicher Umwälzungen befinden. Gesellschafts- politisch betrachtet, und auch mental-biologisch: Die Akzeptanz des Fremden und die Neugierde zur Erkundung eigener Vorurteile ist sicher breiter gefächert als noch, sagen wir eine beliebige Jahreszahl: zum Beispiel 1996. Das Geburtsjahr von Klonschaf Dolly. Ich merkte bei mir, dass ich großen Respekt hatte vor dieser brillanten Forschungsund Dokumentationsarbeit. Und dass ich sehr dankbar war über einen anderen Blickwinkel auf weltweit stattfindende Episoden. Am dankbarsten aber dafür, dass diese extensive Chronisten-Arbeit eine sehr attraktive Künstlerin davon abgehalten hat, in die Fußstapfen von, hm, zum Beispiel: Cindy Shermann, zu treten.

15. November, im Café Marketta
Kürzlich kam es mir in den Sinn: Es ist alles ganz einfach, man muss sich nur nehmen, was man braucht. Das Leben hält es für jeden bereit. Der allergrößte Fehler ist, alles viel zu ernst nehmen. Der Winter hat doch auch seine schönen Seiten. Man kann sich doch auch bei minus zwanzig Grad einen Sonnenbrand holen. Man muss es nur wollen. Der Wille und die Zielsterblichkeit geben doch die Richtung vor. Über jede Brücke führt ein Fluss.

17. November, Schlesische Straße, Café Mysliwska
Ich frage mich die ganze Zeit, wie die jungen Leute das machen, die dieser Tage nach Berlin ziehen. Was wollen die hier? Wonach suchen die? Ist doch so voll hier und auch irgendwie unglaublich langweilig. Tausend austauschbare Orte. Wie schafft man das? Wie wird man entdeckt? Von wem? Wie macht ihr das?
Bild (© Einer von hundert)
Microtime für Seitenaufbau: 1.26498389244