„The Whole Earth“ im HKW

Hippies und Kapitalismus

2013:Dec // Seraphine Meya

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12-2013














Hippies und Kapitalismus
/ „The Whole Earth“ im HKW

Hippies stehen immer noch für Freiheit, alternatives Leben und den Wunsch nach Frieden und Gerechtigkeit. „Freie Marktwirtschaft“ oder „Kapitalismus“ bezeichnet das System, das nicht nur unsere Wirtschaft bestimmt, sondern auch einen großen Teil der gesellschaftlichen Werteordnung. Was Hippies mit Kapitalismus zu tun haben und warum deren „Konflikt“ in den 1960er und 70er Jahren einen so starken Einfluss auf unsere Gesellschaft heute hat, erfuhr man von April bis Juli in der Ausstellung „The Whole Earth – Kalifornien und das Verschwinden des Außen“ im Haus der Kulturen der Welt, deren Dreh- und Angelpunkt das legendäre Magazin „­Whole Earth Catalog“ war.
Steve Jobs war einmal ein kluger Junge mit einem Faible für Computer und einer Vision. Mit seinen Erfindungen wollte er den Menschen das Leben erleichtern. Aus dieser Vision wurde der Konzern „Apple“: Phänomenal erfolgreich in der globalen freien Marktwirtschaft. Nicht zuletzt, da er den Arbeitern in China wettbewerbsangepasste Löhne zahlt. Steve Jobs las den „Whole-Earth“-Katalog und gehörte damit zu einer Gemeinschaft der Gegenkultur, deren Aktivität in den 1960er und 70er Jahren begann. Im Sinne von Marshall McLuhan suchten sie technologischen Fortschritt und eine gerechte Welt zu vereinbaren. Von diesem Katalog ausgehend, kuratierten Anselm Franke und Diedrich Diedrichsen ihre gemeinsame Ausstellung als ein detailreiches Archiv über die Gegenkultur, in dem man sich in Filmen, Texten und Musik verlieren konnte. Der „Whole-Earth“-Katalog eröffnete ein weit gefächertes thematisches Spektrum. Von Steve Brand erstmals 1968 herausgegeben, symbolisierte der Katalog einen universalen Holismus. Das Titelbild, ein Bild der ganzen Erde, aufgenommen aus dem Weltraum,  das der Herausgeber der NASA entlockte, wurde Ikone dieses Gedankens. Das Magazin versorgte Hippies, Natur-Romantiker, Computerkultur und Technologieverehrer gleichermaßen mit Informationen. Tipps zum autarken Leben außerhalb der Zivilisation waren ebenso zu finden wie die neuesten Erkenntnisse der Systemtheorie und Kybernetik oder die utopischen Architekturmodelle von Buckminster Fuller. Der „Whole-Earth“-Katalog ist ein Dokument, von dem ausgehend sich nicht nur ein großer Teil der politischen und gesellschaftlichen Stimmung der 60er Jahre in der westlichen Welt erklären lässt. Besonders interessant für den in der Ausstellung stöbernden Zeitgenossen ist der Wandel, den die utopischen Gedanken der Alternativkultur bei ihrem „Gang durch die Institutionen“ mitten in den Mainstream erfahren haben. „The sixties are the beginning of the present“ schreibt Thomas Frank in „The Conquest of Cool. Business Culture, Counter Culture, and the Rise of Hip Consumerism“ (1997). Die denkerische Grundlage der freien, globalisierten Marktwirtschaft oder des Internets lieferten Idealisten in den 60ern, 70ern und 80ern. Systemtheorie und Kybernetik sollten genutzt werden, um ein logisches System zu entwickeln, welches die Verteilung der Güter weltweit regelt, unabhängig von Staatsgrenzen. Die globalen Machtkämpfe sollten abgelöst werden durch eine globale, effiziente, technologisch gesteuerte Planung. Was den Menschen anfangs noch als ein Gegenmodell zur Natur erschien, wurde in den 60er Jahren im öffentlichen Bewusstsein populär. Liest man die Ideen heute, erscheinen Begriffe wie „maximale Effizienz“ aus dem Handbuch für Unternehmensberater kopiert – doch der Fall liegt umgekehrt. Das Internet sollte die Menschen miteinander verbinden und zu der Idee des „global village“ beitragen, wie Marshall McLuhan es in „Understanding Media“ beschreibt. Dass unsere Informationen, die durch das Internet staatlichen Organisationen zugänglich sind, heute gehandelt werden wie Gold, ist eine tragisch anmutende Verdrehung des ursprünglichen Gedankens. Der Untertitel der Ausstellung benennt mit dem „Verschwinden des Außen“ die Expansion der kalifornischen Technologien, Kulturtechniken und Bildökonomien in die gesamte kapitalistische Welt – aus marktwirtschaftlicher Sicht sind diese Ideen bis heute wahre Exportschlager. Der katastrophale Zustand der Welt war damals für einige Anstoß, sie zu verbessern, mit ihrem Wissen und Können. Für andere war es ein Grund, sich in die kalifornische Wüste zurückzuziehen und von den Indianern zu lernen, wie man ein naturverbundenes Leben führt. Oder man flüchtete sich mit Drogenrausch oder Meditation in die Weiten des Inneren. Fernöstliche Philosophien wie der Zen-Buddhismus und das „Tao te King“ von Laotse waren die Lektüre der Gegenkultur, die darin den Weg zu einem zufriedenen Leben suchte, sich mit dem Universum verbinden und das gesellschaftlich anerzogene Über-Ich bekämpfen wollte. Heute gibt es Taoismus für Manager und die Selbstoptimierungsmöglichkeiten von Meditation und Yoga dienen dazu, im tosenden Sturm des Kapitalismus als Wirtschaftsakteur oder Konsument nicht den Kopf zu verlieren.
Die Zukunft des Kapitalismus und die Entmystifizierung der Gewalt waren 1967 Themen der „Dialectics of Liberation Conference“. Intellektuelle aus der Gegenkultur wie Marcuse, Ginsberg und Joe Berke hielten Vorträge und lieferten neue Denkansätze. Man möchte meinen, es wurde früh genug erkannt, welche Übel der entfesselte Markt und die Globalisierung bereithalten würden. Man möchte meinen, es gab genug kluge Menschen, die alternative Wege erdachten. Und trotzdem sind wir heute an dem Punkt, an dem wir sind. Die Ideale der Hippies wurden durch den marktwirtschaftlichen Fleischwolf in ein neoliberal konformes Format gedreht. Aus dem Wunsch nach sexueller Befreiung entstand die Pornoindustrie, aus der Forderung nach Kreativität und ­Individualität im Arbeitsleben wurde ein System der individualisierten Selbstausbeutung. Ähnlich, allerdings weniger detailliert und tiefgehend als die umfangreiche Studie „The New Spirit of Capitalism“ von Luc Boltanski and Ève Chiapello (französische Erstausgabe 1999) beleuchtet die Ausstellung die Bedeutung von Kritik für den Kapitalismus und wie dieses wirtschaftliche System in der Lage ist, die Kritik für sich zu nutzen. Wie in einem Buch konnte man in der Ausstellung blättern, sich einen Überblick verschaffen und Anknüpfungspunkte zur weiteren Auseinandersetzung finden. Die Ausstellung und die wissenschaftliche Untersuchung von Boltanski und Chiapello rütteln beide stark an der Faszination der 60er, denn beide machen deutlich, wie jede idealistische Idee von damals im Laufe der Zeit einen Wandel erfuhr. Unversehens wurde die Utopie von damals – kaum erkennbar – zu einem Symbol des hippen Konsumenten von heute. Zu einem Zeitpunkt, in dem der „logische Mechanismus des Neoliberalismus“ (Pierre Bourdieu in: „Le Monde diplomatique“, Nr. 5481, 13.3. 1998) auf Hochtouren wütet, zeigt „The Whole Earth“ wie das kapitalistische System in der Lage ist, Kritik in sich aufzunehmen und gewinnbringend zu nutzen.
Auch heute gibt es hier und da noch so etwas wie Gegenkultur. Allerdings fehlt ihr – verständlicherweise – oftmals die positive Überzeugung, dass es eine „Lösung“ gibt, geben könnte. Vielmehr eint sie die Ahnung, dass ihre Unterwanderung letztlich doch vom System aufgenommen wird. Andere Formen der Kritik sind nötig, sollte man meinen, wenn alle Regeln schon einmal gebrochen wurden, wenn sowohl Gewalt als auch Pazifismus zu wirkungslosem Protest geworden sind.
Das Sympathisieren mit der Protestkultur der 60er und 70er gleicht einer Katze, die sich selbst in den Schwanz beißt. Doch Ohnmacht ist kaum das richtige Gefühl, um sich heute der Situation in der Welt zu stellen. Es besteht weiterhin das Risiko, dass die eigene positive Utopie – in ihr Gegenteil verkehrt – im Mainstream landet, so wie „Die Grünen“ im konservativen „Zentrum“ der Politik gelandet sind. Trotzdem gibt es keinen Grund, sich nicht wie Sisyphos immer wieder diesen Berg hinaufzuquälen. Es gibt immer Utopien und wenn man nur geduldig genug darauf beharrt und sich trotz allen Informationsüberschusses über die dystopischen Tendenzen des Jetzt eine gesunde Naivität bewahrt, entstehen Pausen, in denen Utopisches gilt. Oder wie es auch im ersten „Whole Earth Catalog“ von 1968 zu lesen war: „Bleib hungrig, bleib töricht!“
    
„The Whole Earth – Kalifornien und das Verschwinden des 
Außen“, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin, 26.4.2013–7.7. 2013
Drop City, ca. 1965, eine der ersten Hippie-Kommunen in Colorado (© Internet)
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