Kritik und der kategorische Imperativ

Kantige Homer-Suppe

2010:Dec // Wayra Schübel

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11-2010







Zugegeben ist, verzeihen Sie Prof. Dr. Kösser, ich habe zwar eine Magisterabschlussprüfung zu Kants „Kritik der Urteilskraft“ bestanden, aber ich werde mein Lebtag niemals behaupten können, ich hätte alles verstanden. Am Tag, als mir die Redaktion den anstehenden Themenschwerpunkt ‚Kritik‘ mitteilte, lief die Folge der Simpsons, in der Homer als Restaurantkritiker erschien. Seine Vorgängerin im Magazin Springfield Shopper hatte im Laufe ihrer Karriere einen nicht mehr zu stimulierenden Expertengaumen entwickelt, und auch ihre Verständlichkeit ist auf der Strecke geblieben.

Das Vermögen, sich an den simpelsten Mahlzeiten zu erfreuen, bringt ihr Nachfolger Homer zwar mit, und somit auch einen neuen frischen Wind in die Redaktion. Aufgrund der Unfähigkeit sich auszudrücken allerdings wird die hochbegabte Tochter Lisa als Ghostwriter eingesetzt, die aus den animalischen Lauten ihres Vaters sensible Begriffe entwickelt, um ergreifende Texte zu verfassen.

Aha, ich verstehe zwei Dinge:
Erstens – überambitionierte Übellaunigkeit befördert eine Kritikerkarriere höchstens ins Abseits; das wird ein Jerry Saltz, seit Jahren Chefkritiker des New York Magazine, auch wissen.

Zweitens – die Abhängigkeit, die durch eigens karrierebedingt geschaffene Netzwerke und Kooperationen entsteht. Denn die brachial-bescheuerte Perspektive Homers bekommt erst durch die genialisch naive Sprachbegabung seiner Tochter die nötige Form zur Breitenwirkung: Ohne die Masse an idealistisch-selbstausbeuterisch motivierten Subunternehmern würde jede Kulturfregatte jämmerlich versinken.

Außerdem ein Aspekt: Die neu entstehenden Kontakte zu Menschen, die Gutes über sich geschrieben sehen wollen und für das Wohlwollen des Kritikers zubereitete Delikatessen herstellen, Mutterkuchen der Vetternwirtschaft: Unsere neuen guten Freunde.

Jedoch werden diese Leckereien nicht dem kritischen Reflexionsvermögen des Kritikers, sondern seiner Eitelkeit kre­denzt, der nämlich, teilzunehmen an der Orchestrierung möglichst vieler Primadonnen. Hier hat nur noch eine Lobeshymne Platz, aber bitte keine gutgemeinten Hinweise auf Optimierungsspielraum. Es sei denn, der Kritiker will seine Karriere gleich an den Galgenhaken hängen. Es sind hier und da mal für einen wanderlustigen Flaneur Perlen zu entdecken, über die es sich lohnt, Gedanken zu artikulieren. Kleine Ausstellungsprojekte haben den Vorteil des Überraschungseffekts; wenn der über die kurze Lesedauer einer schriftlichen kritischen Reflexion standhalten kann, dann haben alle gewonnen.

Und die Freude zu schimpfen über sattfinanzierte institutionelle Ausstellungen, das ist hin und wieder auch sehr erfrischend. Gerade dann, wenn Kraft eigener Urteilsfähigkeit über die hypnotische Wertesuggestion eines Presseapparats hinweg gelesen werden kann, mit dem Ergebnis eines „Kaisers-Neue-Kleider“-Wow-Erlebnis. Das ist Genugtun.

Im Rahmen einer Podiumsdiskussion am 13.06.2010 in der Reihe „Critical Sunday“ meinte Thomas Eller, dass es eine wichtige Aufgabe sei, Strategien für eine Karriereplanung im Bereich der zeitgenössischen Kunst zu entwickeln. Ich reiße die Aussage aus ihrem Kontext, um zu verdeutlichen, dass genannte Strategien tatsächlich wichtig sind, um unabhängig von diffusen Hybridtätigkeiten (z.B. der Künstler ist sowohl Dozent als auch Kurator als auch Kritiker) eine kritische Kultur zu entwickeln.

Eine, die sich traut, zu urteilen, Werte zu festigen oder zu verändern. Die mutig genug ist, die zeitliche und intellektuelle Limitiertheit der Kritik im Bereich der zeitgenössischen Kunst anzuerkennen.

Eine Kultur, die unabhängiger als bisher von flüchtigen personellen Sympathien sein darf. Aus dem Spannungsverhältnis zwischen hohlem Theoriekrüppel und schleimigem Speichellecker auszubrechen, und so die Kulturfregatten wieder auf Kurs zu bringen. Machtkämpfe und Platzhirschgehabe sind unausrottbar: Anstelle eines Blitzschachspiels jedoch betrachtet lieber die Positionierung Eurer Rolle im Geschehen der zeitgenössischen Kunst unter dem Aspekt des ollen kategorischen Imperativs. Mit einer solchen Strategie lässt sich perspektivisch mehr erreichen. Oder auch nicht, aber es fühlt sich besser an.

Wayra Schübel

Literaturempfehlungen:
—Boris von Brauchitsch, Man sieht nur, was man weiß, Verlag The Green Box (Zürich/Berlin 2005)
—Diedrich Diederichsen, Judgement, Objecthood, Temporality. In: Jeff Khonsary & Melanie O`Brian, Judgement and Contemporary Art Criticism, Folio A Artspeak / Fillip Editions (Vancouver, 2010)
—Irit Rogoff, What is a Theorist? In: Katharyna Sykora (Hg.) Was ist ein Künstler?, Wilhelm Fink Verlag (München, 2004)
—Peter Sloterdijk, Scheintod im Denken. Von Philosphie und Wissenschaft als Übung, edition unseld 28 / Suhrkamp Verlag (Berlin, 2010)
—Hito Steyerl, Die Farbe der Wahrheit, Turia + Kant (Wien, 2008)
—Tirdad Zolghadr, Worse than Kenosis, In: Jeff Khonsary & Melanie O’Brian, Judgement and Contemporary Art Criticism, Folio A Artspeak / Fillip Editions (Vancouver, 2010)

Homer Simpson (© www.cooltwitterbackgrounds.net)
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