Die 8 der Wege. Kunst in Beijing

Uferhallen

2014:Jul // Peer Golo Willi

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07-2014
















Ein zweiter Blick

Es war ein äußerst ambitioniertes Vorhaben, für die Ausstellung „Die 8 der Wege. Kunst in Beijing“ eine kluge Auswahl zu treffen, schließlich gibt es in Peking eine ungewöhnlich lebendige und umfangreiche Kunstproduktion, die im Westen bislang kaum in öffentlichen Ausstellungen Beachtung fand. Im Ergebnis werden nun junge chinesische Künstler gezeigt, drei Künstlerinnen und 22 Künstler, geboren zwischen 1971 und 1986. Den Kuratoren (die Künstler Thomas Eller und Andreas Schmid sowie Guo Xiaoyan vom Minsheng Art Museum in Schanghai) ist es gelungen, ein facettenreiches Abbild der Kunstszene Pekings zusammenzustellen. Bei aller kulturellen Ferne trifft man hier zwar oft auf bekannte Themen, die schöpferische Sprache in deren Umsetzung indes ist nicht immer leicht zu entschlüsseln. Beides ist zunächst wenig überraschend. Jedoch ist die Freiheit der Künstler, Themen zu finden und umzusetzen, weitaus größer als gemeinhin angenommen wird. Dies ist ein Eindruck, den auch der Autor, der sich unter anderem vor Ort beruflich mit jüngeren chinesischen Künstlern befasst hat, gewinnen konnte. Diese Freiheit gilt für Arbeiten, die sich mit Körperlichkeit und Sexualität befassen (etwa von Kan Xuan oder Yan Xing), für kritische Blicke auf Geschichte und Zeitgeschichte (Colin Chinnery oder Zhu Yu) ebenso wie für politische Kunst (Liu Chuang oder Zhao Zhao), die sich mehr oder weniger unmittelbar mit der herrschenden staatlichen Gewalt befasst.
Eine solche Freiheit gilt möglicherweise für viele Künstler, für Zhao Zhao jedoch nicht unbedingt. Auch wegen seiner Nähe zu Ai Weiwei, dessen Assistent er war, und wegen des politischen Impetus seiner Kunst, dessentwegen er bereits mit einem faktischen Ausstellungsverbot belegt und zeitweise in Haft war. In den Uferhallen ist er unter anderem mit der Fotoarbeit „Cobblestone“ (2007) zu sehen, die dokumentiert, wie er auf dem Tian’anmen-Platz einen Stein auf das Pflaster des Platzes klebt. Eine solche dezidiert politische Aktion, die auf die Unruhen und deren Niederschlagung von 1989 Bezug nimmt, bildet in dieser Ausstellung jedoch die Ausnahme. Vielleicht geht es weniger um eine allgemeine Freiheit in der Kunst als um die persönliche Freiheit durch die Kunst. Es geht um den Freiraum, den sich die Künstler nehmen, weil und solange sie ihn sich nehmen können. Sie nehmen sich ihre persönliche Freiheit. Und es fällt auf, dass dabei weniger kollektiv gedacht, sondern vielmehr von ganz persönlichen Anliegen ausgegangen wird, von Wünschen und von der Wut über Missstände im privaten Umfeld. Dies schließt Kritik an Politik und Gesellschaft mit ein; der Freiheitsbegriff der jungen chinesischen Generation, der vom Privaten ausgeht, engt keineswegs ein und erfordert oftmals durchaus Mut. Das betrifft Zhao Zhao, aber auch die Künstler Sun Yuan & Peng Yu, die in ihrem Video „I Do Not Sleep Tonight“ (2010) in einem zu einem ,fiktiven‘ Polizeiauto aufgemotzten SUV durch Peking fahren und der echten Polizei dabei gefährlich nahe kommen.
Mit hintergründigem Witz widmet sich Liu Chuang einer Systemkritik, indem er bestehende Systeme nutzt und sie gleichzeitig stört, wenn er in sie eingreift. Für sein Video „The Dancing Partner“ (2010) etwa ließ er in einem seichten, sehr schön anzuschauenden ,Tanz‘ zwei Autos auf benachbarten Fahrbahnen exakt nebeneinander und mit der gleichen, minimal zulässigen Geschwindigkeit durch Peking fahren – legal, weil innerhalb des Regelwerks, aber dennoch eine Zumutung für die anderen Autofahrer und eine massive Störung des Verkehrsflusses.
Auch zeigt die Ausstellung Konsumkritik, wie beispielsweise in dem Beitrag von Guan Xiao, oder konzeptuelle Arbeiten, die den Kunstmarkt zum Gegenstand haben, wie etwa Wang Shishun oder wie Hu Qingtai, den man in der Folge der Appropiation Art sehen kann; er kopiert die Werke, hat jedoch auch ein Vertragssystem entwickelt, das die Urheber der Werke hinsichtlich Produktionsanweisungen und Beteiligungen an Veräußerungsgewinnen mit einbezieht. Die Frage von Original und Fälschung erhält im Lichte chinesischer Tradition eine andere Tiefe, zumal die ,Fälschung‘ dort keineswegs so negativ konnotiert ist wie im Westen.
Die Freiheit, die sich die junge Generation der Künstler nimmt, zeigt sich auch in der Wahl der Ausdrucksmittel; die Künstler lehnen es mehrheitlich ab, sich auf eine unverkennbare Handschrift im Sinne einer formalen Wiedererkennbarkeit festzulegen. Neben der Experimentierfreudigkeit, die dadurch zutage tritt, wird auch eine Offenheit gegenüber anderen Kulturkreisen deutlich, die es umgekehrt so nicht gibt. Der Blick auf den Westen scheint der jungen Generation wichtig zu sein (nicht wenige verfügen über Auslandserfahrung), wie ihnen auch der Blick des Westens auf China wichtig zu sein scheint.
Dass gerade die junge Generation ihren Unmut über staatliche Drangsalierungen ausdrücken will, auch wenn sie das Private betreffen, liegt auf der Hand. Der westliche Blick auf diesen Zustand offenbart jedoch ein Missverständnis der Rezeption sowohl der Situation als auch der Kunst: Der Protest für die Erlangung von Freiräumen, der das Kollektiv im Auge hat, entspricht der hiesigen gesellschaftlichen Tradition und wird gleichsam reflexhaft erwartet. Dieser Reflex beruht auf der Annahme, dass dies der naheliegende Weg auch künstlerischer Opposition sei. Dabei muss der Wunsch vieler Chinesen nach Meinungsfreiheit und politischen Reformen in Richtung Demokratisierung nicht deckungsgleich sein mit dem, was man im Westen als das erachtet, was an Veränderungen notwendig sei. Nun stellt sich die Frage, wie all dies im Zusammenhang mit Ai Weiwei zu sehen ist, der zeitgleich im Martin-Gropius-Bau mit seiner großen Retrospektive gezeigt wird. Wenn es um zeitgenössische Kunst aus China geht, fällt sein Name zuerst. Wenn über seine Ausstellungen der letzten Jahre gesprochen wird, geschieht dies zwar auch über seine Kunst, in erster Linie jedoch wird er als Dissident nicht nur wahrgenommen, sondern auch als solcher gleichsam vereinnahmt. So nehmen Ais Haft mit anschließendem Hausarrest und sein bis heute geltendes Ausreiseverbot mehr Raum in der Besprechung seiner Arbeit ein als die Wahrnehmung seiner Kunst. Freilich lässt sich dies kaum trennen, ist doch sein Aktivismus ein Hauptgrund für die staatlichen Repressionen, etwa sein ‚Sichuan-Projekt‘ für das er seit 2009 tausende Namen von Schulkindern recherchiert und veröffentlicht sowie Korruption, Vertuschungspolitik und die massive Einschüchterung der Angehörigen aufdeckt.
Der Aktivismus Ais entspricht seinem künstlerischen Selbstverständnis, aber auch den sympathisierenden Erwartungen des Westens an den Künstler – nicht als etwas, das seiner Kunst immanent sei, sondern als etwas, das ihr übergeordnet zu sein scheint. Hinzu kommt, dass viele Werke Ais, die seit seiner Haft entstanden sind, selbstreferenziell die Erfahrungen der Repressalien gegen ihn selbst thematisieren. Der bereits erwähnte Blick des Westens auf China reduziert den Künstler Ai Weiwei auf ein Paradigma für die Situation von Künstlern und anderen Freidenkern in China. Zweifellos ist er einer der wichtigsten Künstler Chinas, er hat jüngeren Künstlern wichtige Impulse gegeben und Mut gemacht. Seine Bedeutung in der chinesischen zeitgenössischen Kunst aus westlicher Sicht wird jedoch, so zeigen jüngste Ereignisse, von der jungen Generation zum Teil kritisch betrachtet.
Nachdem Ende April diesen Jahres Name und Werke Ai Weiweis von einer Ausstellung in der Power Station of Art in Schanghai kurzfristig entfernt wurden, fehlte Ende Mai Ais Name auf der versendeten Pressemitteilung für eine Ausstellung im Pekinger Ullens Center for Contemporary Art (UCCA) zu Hans van Dijk. Der Kurator und Kunsthändler van Dijk hatte in den neunziger Jahren das China Art Archives & Warehouse in Peking gegründet, einen bedeutenden experimentellen Ausstellungsraum für zeitgenössische chinesische Kunst. Ai war an der Gründung maßgeblich beteiligt, weshalb seine Teilnahme aus kunsthistorischer Sicht unverzichtbar gewesen sein sollte. Beide Zensurakte geschahen auf behördliche Anordnung oder behördlichen Druck hin – man wird nervös zum 25. Jahrestag der Tian’anmen-Ereignisse. Ai ließ – gänzlich unverständlich ist das nicht – kurz vor der Eröffnung im UCCA seine Werke aus der Ausstellung holen. Der Künstler Yan Xing veröffentlichte daraufhin über Facebook einen Brief, in dem er Ais Reaktion ungewöhnlich scharf als „Marketingplan in Richtung Westen“ verurteilte, als medienwirksame, von „Egoismus“ geleitete Aktion, die der jüngeren Generation immens schade. Yan holt mit seiner Kritik jedoch weiter aus und prangert die Erwartungen des Westens an, der „keinen Künstler aus China“, sondern einen „Künstler, der gegen China opponiert“ brauche – eine Erwartung, die Ai geschaffen und genährt habe. Yans Brief ist unerhört, hat es doch so deutliche, unmittelbare Kritik am Meister Ai Weiwei von jungen Kollegen bislang nicht gegeben.
Die am häufigsten in Besprechungen der Ausstellung in den Uferhallen publizierte Abbildung zeigt – das ist wenig überraschend – die Skulptur „The Death of Marat“ von He Xiangyu aus dem Jahre 2011, eine superrealistische Skulptur des auf sein Antlitz gestürzten Ai Weiwei. Der Titel bezieht sich auf das Gemälde von Jacques-Louis David von 1793, eine Ikone der Französischen Revolution. He Xiangyu hat die Skulptur in dem Jahr geschaffen, als Ai Weiwei verschleppt wurde. Sie jedoch als Hommage zu deuten, wäre wohl zu kurz gegriffen, nicht nur, weil ihr jegliche Aura eines Helden oder Märtyrers fehlt. Jean-Paul Marat schließlich war zu Lebzeiten auch unter seinen Mitstreitern nicht unumstritten.
Dass die Ausstellung „Die 8 der Wege“ zeitgleich mit der Ai-Weiwei-Retrospektive stattfindet, ist eine glückliche Fügung. Denn sie zeigt nicht nur die Generation nach Ai, sie lenkt die Wahrnehmung auf die Vielfalt der Themen, deren Lebensnähe und auf einen Freiheitsbegriff, der völlig anders ist, als er sich durch die Kunstkritik der letzten Jahre zu diesem Thema erschließt. Eine ,neutrale‘ Rezeption ist vor dem Hintergrund der individuellen Vorstellungen von China kaum möglich. Jedoch öffnet die Ausstellung einen zweiten Blick, der die Wahrnehmung der Kunst im Fokus haben kann, als Kunst, die Fragen stellt und Fragen offen lässt, auch nach der gesellschaftlichen Funktion von Kunst und nach der Rolle des Künstlers. Die kulturelle Ferne zu China ist dabei vielleicht sogar hilfreich.

„Die 8 der Wege. Kunst in Beijing“, Uferhallen, Uferstraße 8, 13357 Berlin, 30.4.–13.7. 2014
„The Death of Marat“ 2011 (© He Xiangyu)
„Untitled (The Dancing Partner)“, 2010, (Videostill) (© Liu Chuang)
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