Teure Damen, billige Schirme

/ Beobachtungen über Handfertigkeiten

2011:Aug // Isabella Hammer

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07-2011
















Jedem ist es schon passiert. Ein regnerischer Tag: Der Regen überrascht einen und man nimmt einen Taschenschirm zur Hand. Eine Weile ist man damit gut vor den Regentropfen geschützt. Vielleicht ist man verabredet, oder nimmt den Bus, vergisst die Zeit beim Treff mit der Freundin, oder verliert sich beim Busfahren in Gedanken. Stellt plötzlich fest, da ist ja meine Haltestelle oder verlässt überraschend das Treffen mit der Freundin. Erst vor der Haustür wird einem klar: „Ich habe doch etwas vergessen!?“, „Meinen Regenschirm!“ Der Regen hat aufgehört und schon ist das Objekt aus dem Blick und reiht sich ein unter den unzähligen, die man wohl nie im Fundbüro abholt. Denn man denkt nicht, dass sie einen Wert besitzen. Regenschirme sind heute ein billiges Produkt. Man kann sie bei der Drogerie oder im Kaufhaus günstig erstehen. Meist sind sie ebenso schnell verloren wie gekauft. Nicht wie früher, wo ein Regenschirm gut verstaut im besonders bestickten Futteral darauf wartete bei Regen, oder auch bei Sonne, als Schutz zu dienen. Viele Großmütter kannten früher nur einen einzigen Regenschirm. Auch meine hatte Jahr ein Jahr aus, immer das gleiche Modell. In rot-orangenem Blumenmuster, mit handgearbeitetem Holzknauf ausgestattet, diente er ihr als Stock, wie auch als Regenschutz. Vielleicht wurde er von einer Schirmmacherin hergestellt. In Berlin ist heute nur noch eine Schirmmacherin eingetragen, die aus einer Familientradition heraus den Beruf betreibt. Leider lehnte sie meine Anfrage zum Gespräch ab.

In der DDR, erzählte mir die Weimarer Schirmmacherin Annelies Pennewitz, hatte man zwar Geld, sich einen Schirm zu kaufen, selten aber gab es welche zu erwerben. Ein Regenschirm war so eine Kostbarkeit, dass diese täglich kör­beweise zur Reparatur abgegeben wurden: Das Gerüst war zerbrochen, oder auch etwas verbogen, das Schirmdach musste wieder mit den Stäben verbunden oder ein Loch im Dach geflickt werden.

Heute gibt es in ganz Deutschland nur noch eine handvoll Schirmmacher, die mittlerweile mehr ausbessern, als neue Schirme herstellen. In meinem Interview meinte Annelies Pennewitz, am meisten würde es sie immer aufregen, wenn eine Dame auf ihr ganzes Erscheinungsbild penibel achtet, und dann nimmt sie ihren Schirm zur Hand: Ein günstiges Modell, meist sogar ein Werbegeschenk. An diesem Punkt zeigt sich, wie wenig wir den Regenschirm heute noch als das begreifen, was er ursprünglich war. Der Schirm als Gebrauchsobjekt ist ein recht neues Phänomen im Vergleich dazu, dass er seit der Antike als Zeichen von Würde Einsatz fand. Der wichtigste Beschirmte in Mitteleuropa war seit jeher der Papst. Bis heute ist die Kirche ein guter Kunde der Schirmmacherin Pennewitz. Im Laufe des letzten Jahrhunderts wurde die Schirmherstellung deutlich verbilligt, so dass wir den Schirm in keiner Weise mit seiner ursprünglichen Funktion in Beziehung setzen.

Das Verschwinden von Handwerkstechniken zeigt sich häufig schon daran, wie zunehmend das Wissen um bestimmte Fertigkeiten verschwindet. Aber es geht hierbei noch vielmehr verloren, wie dieser Text zeigen möchte. Die Berliner Galerie Eigen + Art stellte mit Olaf Nicolais Wandbehängen unter dem Titel „Warum Frauen gerne Stoffe kaufen, die sich gut anfühlen“ kürzlich eine Textilwebart aus, die erst nach einer ganzen Reihe von Versuchen umsetzbar war, denn sie orientiert sich am Irisdruck, bei dem die Farben bekanntlich ineinander laufen. Die Umsetzung des Effektdrucks in eine Webart verlangte großes technisches Geschick.

Als 1930 die Webereien in Marienthal, unweit von Wien, stillgelegt wurden, entstand eine Studie, die anhand der WeberInnen, die Frage nach den Auswirkungen der Arbeitslosigkeit stellte. Das Ergebnis zeigte, wie die fehlende Arbeit sich auf das Leben der ArbeiterInnen auswirkte. Diese Situation war für eine Forschungsgruppe um den Soziologen Paul Lazarsfeld der Anreiz, unter dem Titel „Die Arbeitslosen von Marienthal“ eine empirische Studie zu erarbeiten.

Nicolai entwickelte ausgehend von den untersuchten Faktoren seine Arbeit und stellte das soziologische Phänomen Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt. Als Betrachterin stellte sich mir aber vielmehr die Frage, welche spezifischen Fähigkeiten mit der Aufgabe solcher Orte verloren gingen. Denn gegenwärtig kennt man keine europäischen Textilzentren dieser Größe. Heute sieht unser Verhältnis zu Textilien völlig anders aus. Über 98 % der Stoffe und Kleidung werden im Ausland produziert.

Für Berlin muss die Bedeutung der Textilindustrie sehr hoch eingeschätzt werden. Doch auch hier verschwanden unzählige Manufakturen und damit fähige Arbeitskräfte, wie die anlässlich des 125-jährigen Jubiläums des Ku’damms in Schauvitrinen präsentierten Tafeln beweisen. Insbesondere hier entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg viele Manufakturen, die Kleidung herstellten. Mit dem Bau der Mauer 1962 stand die Produktion jedoch plötzlich still, denn die NäherInnen, die vor allem im Ostteil der Stadt wohnten, konnten nicht mehr in den Westen gelangen. Mit den ArbeiterInnen verschwanden auch ihre Fähigkeiten, die Effizienz und Qualität ihrer Produkte. Am Breitscheidplatz „widmete“ man mit dem 1955–1957 erbauten Bikinihaus der Damen­oberbekleidungsindustrie ein ganzes Gebäude.

Interessant ist, dass der Kosename, der dem Gebäude erst durch seine BewohnerInnen geben wurde, wohl herrührt von den mittig gelegenen Laubengängen. Heute sind diese überdacht, und das Haus soll nach der gerade laufenden Sanierung als Hotel- und Einkaufskomplex neues Leben erhalten.

Auch Richard Sennetts Vortrag „Brutal Simplifiers“ im Haus der Kulturen der Welt (März 2011) ging dem Thema Arbeit auf den Grund. Das für mich Überraschendste, was er formulierte, war, dass es keine Korrelation zwischen Qualität und Preis gibt, sondern dafür eine zwischen Qualität und Effizienz. Bei der Produktion eines T-Shirts entsteht meist erst eine Reihe von T-Shirts, die untragbar sind. Der Grund dafür liegt vermutlich darin, dass die ArbeiterInnen meist ungelernte Kräfte sind, die erst beim Arbeiten selbst lernen. Da man solchen ArbeiterInnen in der Regel nicht viel zahlt, ergibt sich erst durch die Produktion in Billiglohnländern entsprechender Gewinn. Und selbst dann ist die Qualität des Stoffes und des Produkts nicht immer gewährleistet.

All die Standards, die sich die ArbeiterInnen in der Textilindustrie Anfang des 20. Jhd.s erkämpften, sind in der heutigen Arbeitswelt hinfällig. Denn mit ihnen ist etwas viel Wichtigeres verloren gegangen, als die Qualität der Produkte: Ihre spezifischen Fähigkeiten und damit auch die Handbewegungen im Umgang mit Maschinen, Mustern, und Kleidung. Genau solche Handbewegungen stehen im Zentrum der Videoarbeiten der in Berlin lebenden Künstlerin Anette Rose. In ihrer 2011 erschienen „Enzyklopädie der Handhabungen“ präsentiert sie ihre gesammelten Gedanken zum Einsatz der Hand, die auf einer Reihe von Interviews beruhen. Die Hand setzen wir ja nicht nur beim Werkzeugbau, sondern viel wichtiger in der Rede ein. Anette Rose interviewte eine Gestenforscherin, die auf die Arbeit einer Keramikerin einging. Eine Schüssel so meinte sie, entstand ursprünglich aus dem Zusammenbringen der Hände zum Wasserschöpfen. Denn die Hand formt so eine Schale. Die Hand bildet mit ihren Möglichkeiten die Voraussetzung zur Interaktion mit der Welt. Es scheint fast so, als ob ohne die Verknüpfung der Handbewegungen in Form der Geste keine Interaktion des Menschen mittels der Sprache möglich ist.

Schon der Prähistoriker André Leroi-Gourhan stellte sich 1964 in seinem Band „Le geste et la parole“ die Frage, welche Bedeutung der Einsatz der Hand für die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten und der Kultur hat. Im Gehirn sind besonders die Bereiche stark ausgeprägt, die mit der Sprache und der Hand zusammenhängen. Die Bedeutung beider Bereiche füreinander zeigt sich schon in unserer Sprache ganz deutlich, wenn wir „untersuchen“ wie die Welt funktioniert und diese sprichwörtlich im Kopf auseinander nehmen. Setzt man dies in Beziehung zum Handwerk, wird klar, welcher Erfahrungsschatz und welcher spezifische kulturelle Wert hiermit verloren geht.

In den letzten 20 Jahren hat sich vor allen in Berlin-Mitte erneut eine Kultur der Manufaktur entwickelt. Man findet in den Hinterhöfen Firmen, die sich altem Handwerk, aber auch der simplen Bekleidung widmen. Meist handelt es sich um fantasievolle Konzepte, oder wie im Falle der Modistin Fiona Bennett um HandwerkerInnen, die sich um ihr Metier bemühen. Mitte bietet sich als Standort besonders an, da sich hier große Touristenströme auf Expeditionen begeben. Dennoch findet sich bei aller Qualität auch manches Geschäft, dass sich weniger durch Individualität, als durch die Bedienung des Massengeschmacks auszeichnet.

Die in Deutschland angesiedelte Firma „manufactum“ steht hierbei für ein Phänomen, dem man trotz der Begeisterung für qualitativ hochwertige Produkte kritisch gegenüber stehen sollte. In der Filiale an der Hardenbergstraße finden sich neben Designklassikern des Bauhauses u.a. auch Schirme der Mailander Manufaktur Maglia. Die Marke manufactum macht zwar viele Leute erst auf diese Werte wieder aufmerksam, aber es verwundert doch, dass ein vergleichbarer Schirm bei einer eingesessenen Schirmmacherin günstiger zu erhalten ist, als bei der Kette. Mit Wertarbeit will man hier eben nicht nur den exklusiven Geschmack des Bürgertums bedienen, sondern auch einen größeren Gewinn abschöpfen. Beim Einkauf sollte man deshalb schon darauf achten, ob dieser der Unterstützung einer Kette oder einem Individuum, einer kleinen Firma zu Gute kommt. Jeder Handwerksbetrieb steht hierbei für eine Kunst, die ohne ihre Anforderung ausstirbt.

Seit langer Zeit suche ich eine Kunststopferin. Diese Technik der Feinwollreparatur wird heute nicht mehr praktiziert. Dafür kann man sich in New York bei „denim therapy“ seine Lieblingsjeans mit einer darauf basierenden Technik in den Originalzustand zurückversetzen lassen. Vielleicht wendet sich der Trend und uns wird die Vielfalt all dieser Techniken wieder bewusst.

In vielen Bereichen wird heute noch auf Handarbeit zurückgegriffen, wie im Falle der Autolackierung. Luxuskarossen und Feinarbeiten werden von LackiererInnen von Hand ge­arbeitet, da, wie der Systemiker Heiner Büld bei einem Gespräch im Rahmen der Präsentation von Anette Roses Arbeiten meinte, bis heute kein Automat dies ebenso günstig bewerkstelligen kann. Dies scheint das schlagendste Argument für Handarbeit zu bleiben!

Olaf Nicolai „Warum Frauen gerne Stoffe kaufen, die sich gut anfühlen“, Galerie Eigen+Art, Auguststraße 26, 19.3.–1.5.2011
Anette Rose „Enzyklopädie der Handhabungen“, 125 Seiten, erschienen bei Kerber, 2011, isbn 978-3866784451

Schirmmacherei (© Isabella Hammer)
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