Anish Kapoor

Deutsche Bank Guggenheim

2009:Feb // Peer Golo Willi

Startseite > Archiv > 02-2009 > Anish Kapoor

02-2009
















Ein Experiment zur Relationskette von Skulptur, Raum und Mensch war in diesem Winter im Deutsche Bank Guggenheim zu erleben. Die Skulptur „Memory“ hat Anish Kapoor als Auftragsarbeit aus verrostetem Cortenstahl geschaffen. Das Riesenobjekt aus passgenau verschraubten Einzelelementen war der Form nach ein lang gezogenes, nach einem Ende hin etwas spitz zulaufendes Ei, touchierte Decke, Boden und die zur Straße hin gelegene Seitenwand des Ausstellungsraumes und drang seitlich in die gegenüberliegende Wand ein. Das Werk zu betrachten erforderte einen Rundgang um den Ausstellungsraum herum. Diese Skulptur war, wie Kapoor sagt, „nicht einfach nur ein Objekt im Raum. Sie lebt dadurch, dass man um sie herum prozessiert oder sie wieder und wieder betrachtet“. Es ergaben sich in dieser „Prozession“ drei Betrachtungsstand­punkte: Von Eingang und Kassenbereich aus gesehen, streckte sich einem die Skulptur über Kopfhöhe entgegen, sie lag etwas schief und fast gequetscht, wie gefangen im Ausstellungsraum. Die Ausdehnung der Skulptur war scheinbar allein und zwangsläufig durch ihn begrenzt. Ein Herumgehen durch den verbleibenden Freiraum wusste das Aufsichtspersonal zu verhindern. Vielmehr war das Gebäude zu verlassen und durch einen anderen Zugang von der Straße aus erneut zu betreten. Der zweite Standpunkt, der sich ergab, wurde zunächst bestimmt durch eine überraschend großzügige Leere, und, einige Meter entfernt, zurückgenommener und weniger konvex, durch die andere Seite des Stahlkörpers. Ein paar Schritte zurück, eine Treppe hinauf, durch den Museumladen und wieder eine Treppe hinunter, stand man, drittens, in einem kleinen Raum vor einem fast schwarzen Quadrat: kein Bild, sondern ein Loch in der weißen Wand, das den Blick in das Innere der Skulptur freigab.  

Zunächst also drängte sich das sperrige Rostobjekt, dessen Rasterstruktur die Konvexität verstärkte, dem soeben eingetretenen Besucher geradezu penetrant entgegen. Kapoor inszeniert Stahl als Material, indem er statische Wuchtigkeit in eine bewegte Wuchtigkeit transformiert; als eine Bewegung auf den Betrachter zu und gegen die architektonischen Grenzen des Raumes. Die durchaus beeindruckende Wirkung besteht zum einen in der physischen Präsenz des Kolosses und zum anderen in der nicht befriedigten Rezeptionserwartung. Denn von hier aus, das ist klar, kann kein Mensch die Gesamtheit der Skulptur erfassen.

Weil der zweite Betrachtungsstandpunkt nur über den anderen Zugang einzunehmen war, musste sich der Mensch nach draußen begeben, durch Wind und Wetter dorthin laufen. Durch den Freiraum, der sich hier vor der Skulptur bot, und in Kenntnis der nun rückwärtigen Seite, nahm sich das Werk vergleichsweise weniger gewaltig aus. Einen Kern des Problems der Ortsspezifik, ob das Werk den formalen Rahmen des Ortes zu hinterfragen vermag, umging Kapoor, indem er ihn passend machte: er ließ hierfür die Decke absenken und neue Zugänge öffnen, hin zum zweiten und zum dritten Betrachtungsstandpunkt. Eine Distanz zum Ort wird so natürlich nicht hergestellt. Kapoor tritt diesem Problem entgegen, indem er in beide Richtungen agiert: Sein Werk unterwirft sich den Raumdimensionen durch Anpassung und unterwirft gleichzeitig den Raum seiner Skulptur, indem Raum vereinnahmt und verändert wird.

Kapoors Dauerinstallation „Cloud Gate“ (2004) in Chicago, eine große Arbeit aus poliertem Stahl etwa in der Form eines Pilzkopfes, jedoch in gleichmäßiger, ausladender Wölbung, nimmt nicht zuletzt durch das Material eine völlig andere Beziehung zum räumlichen Umfeld auf. Die Form ist in sich geschlossen, erlaubt dem Betrachter aber, unter sie hindurchzugehen. In der spiegelnden Oberfläche werden die Menschen, der Platz, die Hochhäuser und der Himmel in einer Verzerrung reflektiert, die zeitgleich alles abweist und alles in sich hineinzieht.

Kapoors Berliner Arbeit wirkt trotz ihrer scheinbaren Bewegtheit und ihrer nicht unbequemen Wölbung in erster Linie abweisend, was der Materialität des rostigen Stahls geschuldet ist. Das gilt zumindest für die Außenhaut, für die ersten beiden Betrachtungsstandpunkte.

Nun waren zum Erreichen des dritten Standpunktes die mit viel Schnickschnack bestückten Tische des Museumsladens zu passieren. Wieder auf die Ebene der Ausstellung hinabgestiegen, stand der Betrachter – mit der Außenform der Skulptur, ihres Materials und allen jüngsten Erfahrungen im Kopf – am Ende des „Prozessionsweges“ in einem kleineren Raum vor dem fast schwarzen Quadrat. Das dunkle Quadrat ist das lichtlose Innere der Skulptur, das, während die Außenhaut grob und ungeschlacht schien, in einem gleichsam weichen Übergang, vom Rostbraun ins Schwarze übergeht. Hier ist die offenbar absolute Dunkelheit, denn sich hinein lehnend, war die Begrenzung des Innenraumes teils erst nach einiger Gewöhnung und teils überhaupt nicht auszuloten. Nicht das „Fenster zur Welt“ also, das dem tradierten Konzept des rechteckigen Bildfeldes entspräche, sondern der Blick in ein ungleich geschlosseneres, gleichwohl unendliches, „dunkles Zwischenreich“ (Ossian Ward). Paradoxerweise lassen sich erst hier die Ausmaße des etwa neun Meter langen Objektes abschließend abschätzen.

Tatsächlich wie ein Reich außerhalb unserer Erfahrungsgewohnheiten in ihrer immateriellen Unbegreifbarkeit wirken – und das ist die Strategie, die Kapoor umkehrt – die „Space Division Pieces“ von James Turrell. Diese Installationen lassen den Betrachter ins rechteckige Licht-Feld blicken, in dimensionsloses Licht, das nicht zu verorten ist. Die haptische Qualität ist nur eine scheinbare und stellt Auge und Gehirn vor das Problem einer Diskongruenz, die zum Schwindel führen kann (was auch von Kapoors „Cloud Gate“ berichtet wird). Die Unnahbarkeit des Stahltanks wurde bei Kapoors Berliner Arbeit auch durch die Lichtregie in dem kleinen Raum (hier warmes, diffuses Licht, um die Außenhaut herum kaltes Neonlicht) stimmungshaft umgekehrt: der Betrachter wird so in das positiv konnotierte Negativ des Ungetüms hineingezogen.

Die Skulptur entzieht sich dem rationalen Blick, sie ist nur erfahrbar durch den Weg ums Werk und den Blick ins Werk, durch die gedankliche Kombination positiven und negativen Volumens. Die formale und ästhetische Erfassung des Werkes ist möglich, sie qua Konzept auf eine irrationale Ebene zu bringen, ist gelungen. Der Reiz einer ständigen Wahrnehmungsschwankung zwischen positivem und negativem Volumen wurde durch den Rundgang jedoch zurückgenommen.  Die Wahrnehmungsästhetik von „Memory“ ist gestört durch zwei Unterbrechungen, die den Betrachter zeitweise völlig aus dem Ausstellungskontext herausführen. Diese sind ge­wollt, sie fordern auf, mithilfe der „Erinnerung“ die Gesamtheit der Skulptur zu erfassen. Ob jedoch die (bei einer „Prozession“ eher unangebrachten) Störungen gewollt waren, ist zumindest fraglich. Vielmehr sind diese wohl durch die unveränderlichen Gegebenheiten vor Ort bedingt. Dereinst soll das Werk im New Yorker Guggenheim gezeigt werden. Vielleicht wird es dort tatsächlich mehr im Sinne einer „Prozession“ funktionieren, denn auf die Brüche durch die Museums-Außenwelt und den Museumsladen wird man verzichten können. Wer sich aber in Berlin die Form auch nach mehrmaligem gestörtem Rundgang nicht vorzustellen vermochte, konnte sie, unterwegs, beim Kunstharz-Negativguss der Skulptur – eine im Museumsladen feilgebotene Edition des Künstlers – auf einen Blick und ganz rational erfassen.

Anish Kapoor, „Memory“
Deutsche Bank Guggenheim
Unter den Linden 13/15
10117 Berlin
30.11.2008–1.2.2009 
Anish Kapoor „Memory“, Ausstellungsansichten (© Foto: Mathias Schormann © Anish Kapoor, Deutsche Guggenheim)
Anish Kapoor „Memory“, Ausstellungsansichten (© Foto: Mathias Schormann © Anish Kapoor, Deutsche Guggenheim)
Anish Kapoor „Memory“, Ausstellungsansichten (© Foto: Mathias Schormann © Anish Kapoor, Deutsche Guggenheim)
Microtime für Seitenaufbau: 1.25015902519