Tagebuch

2012:Dec // Einer von hundert

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12-2012

















Einer von hundert
/ Tagebuch aus dem Berliner Herbst

11. September, Linienstraße
Berlin Art Week – Der mitunter gescheiterte Versuch einer Konzentration aufs Wesentliche: Menschen, Gesichter, Getränke, Bilder, Skulpturen, Fotografien, Bücher, Klima, Helligkeit, Dunkelheit, Entfernungen, Verabredungen, Gefühle (hier nennenswert: Fußschmerzen)
 
12. September, Luckenwalder Straße
Ich halte das Konzept der abc nicht direkt für gescheitert, aber das Rad ist da nicht neu erfunden worden. Auch wenn es keiner mehr hören kann: Das piefige Art Forum war auch nicht so viel schlechter. Viele Stimmen sagen z.B.: viel zu viel Kunst, die eine ähnliche Sprache spricht, zu wenig Pluralismus. Die Leute, die einfach mal was kaufen wollen für ein paar Tausender (als Schmuck fürs Apartment), die kommen nicht auf die abc, die sind von dem Format abgestoßen. Ein etwas undurchsichtiges architektonisches Arrangement (hier was und da was) führt dazu, dass alles skulptural wirkt. Ich kann die Verbesserung nur in Teilen sehen. Auf der Eröffnung sehr viel Szenezuspruch, aber das Geld wanderte nicht mit durch die Hallen. Wenn das Geld aber auch in den kommenden Jahren nicht mit durch die Hallen wandert, dann wandert die abc wieder und zwar auf den Müllhaufen der Geschichte. Es werden sich dann andere an der Einrichtung einer ­Premiummesse versuchen. Die Galerien machen eine umsatzfreie Messe auch nur drei Jahre mit. Good luck, Alpha-Boys!
 
14. September, Alexandrinenstraße
Kurzer Besuch bei St. Johann in der Alexandrinenstraße. Riesiger leerer Raum mit lauter Musik zum Tanzen, keiner drin, einzige Lichtquelle draußen: Barbecue. Architektur finden alle phänomenal. Nur Kunst braucht es da nicht unbedingt, ist schon so Kunst, sagen alle. Kinderflohmarkt wäre da ganz schön. Oder Bungee.
 
20. Oktober, nachmittags Brunnenstraße
Gabriele Worgitzkis Arbeit „Wedding 2“ in der Galerie Axel Obiger ist eine Filmarbeit, die Lochkamerafotos und Videobilder ineinander kopiert. Von der gleichen Stelle aufgenommen, verweben sich verschiedene Zeit- und Raumebenen miteinander. Die verschwommenen Langzeitfotografien werden zur Bühne von sich auf der Straße bewegenden Menschen. Das besticht. Vorallem wenn die Tonspur aus dem Originalsound des vor der Galerie vorbeirauschenden Verkehrs besteht. Zum Beispiel wie eben eine sich die Brunnenstraße hinunterhupende Hochzeitsgesellschaft auf dem Weg von Wedding nach Kreuzberg, oder Wedding 2.

30. Oktober, Oudenarder Straße, 12 Uhr
Seit langem mal wieder in der Oudenarder Straße, eigentlich auch nur weil mein Sohn Therapie im nahegelegenden Seestraßen-Schwimmbad hat. Ich nutze die Stunde Wartezeit für einen Galerienabstecher. Am Aufgang steht nur noch das Hetzler-Schild. Wo ist Baudach? Ist hier im Outletparadies überhaupt jemand, der mit Kunst zu tun hat, dienstags um 12 Uhr mittags. Ja, oben bei Hetzler in einer museumswürdigen Ausstellung (Darren Almond) treffe ich Thomas Scheibitz. Das Baudachschild hänge doch immer noch, meint er. Ich wäre nur den falschen Aufgang hoch. Nur die Tür sei verschlossen. Deshalb bleibe ich skeptisch und tatsächlich, meine Nachfrage bei den sehr netten Hetzler-Assistenten ergibt: Baudach ist raus aus dem Wedding. Nur noch fester Messestand in Charlottenburg. Sucht aber auch Neues. Scheibitz war übrigens auch auf Suche nach neuen Atelierräumen, vielleicht kommt er ja unter Hetzler unter.

15. November, Dresden, Lipiusbau
Neulich, in Dresden, bin ich doch tatsächlich auf eine sogenannte Netzwerk-Ausstellung gestoßen: „Im Netzwerk der Moderne“ lautet der volle Titel – eine klassische Schau über den bekannten (aber nie wirklich populär gewordenen) Dresdner Kunstkritiker Will Grohmann (1887–1967) und die Künstler, die er Zeit seines Lebens gezeigt, unterstützt, an Galerien und Museen vermittelt und selbst gesammelt hat: darunter Braque, Klee, Miro, Wols, Hartung, Bill, aber auch G. Richter oder Baselitz – wie erwartet nur Männer.
Ich konnte leider nur noch kurz reinschauen. Neben ein paar der ausgestellten Gemälde und Fotografien sind mir vor allem die Labels in Erinnerung geblieben. Hier wurde nämlich der Versuch gestartet, das Umfeld von jeweils beiden, Künstler und Kritiker, zusammenzuführen. Auch wenn das grafisch sehr lapidar angelegt war (nur eine Namensliste), und für uns ja auch gar nicht wirklich zu überprüfen ist, fand ich den Ansatz gelungen. Kandinsky hatte da z.B. überschnitten mit Grohmann ziemlich viele Freunde.
Wäre ja durchaus interessant, zu was für Ergebnissen man da heute kommen würde, ich meine, übertragen auf uns. Und ich frage mich, wie man da zu authentischen Ergebnissen käme. Müsste man ja Detektive überall aufstellen und wild das Internet ausspionieren.

17. November, irgendwo
Ich habe etwas Spezifisches gesehen, aber meine Meinung geht im Streit auseinander.

18. November, zu Hause
In Erinnerung an die diesjährige „abc“ und „Based in Berlin“, 2011: Die Arbeiten von Yngve Holen: durchgesägte Wasserkocher und -spender (auf der Based in Berlin) und seltsam geformte Plexiglas-Stäbe, darin eingesteckte Kreditkarten in verschiedenen Farben, aktuelle schwarze Sportschuhe, perforiert und auf top-designte Fahrradschlösser aufgefädelt – so präsentiert auf dem abc-Messestand der Johan Berggren Gallery, Malmö – beschäftigen mich immer wieder. Ich frage mich, wie ich diese Art von zeitgenössischer Kunst einschätzen soll. Das Gleiche gilt für die Arbeiten von Aids-3D oder Oliver Laric. Kann mir da bitte mal jemand helfen?

Eigentlich jeden Tag
Aufstehen, Müsli, Kinder, Schule, Anfahrt, Computer, Lackieren, Telefonate, Scheißhaus, Ausdrucken, Skizzieren, Fegen, Versenden, Empfangen, Versenden, Empfangen, Löschen, Kaffee, Kuchen, Schleifen, Lackieren, Schneiden, Angebote, Spülen, Abfahrt, Schule, Kinder, Abendessen, Bier, Schlafen

21. November, im Büro
Ach ja, Oliver Laric hat jetzt den „2012 Contemporary Art Society Annual Award“ gewonnen. Laut Artforum.com wird er in diesem Zusammenhang fast 100.000 USD von der „Sfumato Foundation“ erhalten und für die Usher Gallery in Lincoln, England eine Arbeit für die permanente Sammlung produzieren: Sein Vorhaben ist, alle Werke der Sammlung mit 3D-Technologien zu scannen, die Ergebnisse zu printen und in einer skulpturalen Collage aus Gips der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. „… I can’t wait to start scanning“ (Oliver Laric).

28. November, 4 Uhr morgens, im Atelier
Her contemporary life in Berlin ist ähnlich wie die dauerhaft korrumpierte Freiheit ist ähnlich wie der lahme Schnitt eines scharfen Messers ist ähnlich wie die minutenlange Bewunderung eines verschmutzten Vermeers ist ähnlich wie die klaustrophobische niederrheinische Tiefebene ist ähnlich wie das notorische Loch Köln ist ähnlich wie (no more word for) Düsseldorf ist ähnlich wie alles was davor war ist ähnlich wie tot sein ist ähnlich wie das urzeitlich Neue ist ähnlich wie alles Verlockende ist ähnlich wie eine glühend heiße Kartoffel ist ähnlich wie die nackte Wahrheit (Arktis) ist ähnlich wie die Substantial Boredom Honeymoon Travel Agency ist ähnlich wie die brandheiße neue Malerei ist ähnlich wie Postpost-Mongopost-Expressionismus ist ähnlich wie ein stummer Schrei ist ähnlich wie wirklich endloses Schweigen.

29. November, vor dem Rechner
Grade auf der Mathew-Website festgestellt: da fehlen einige der Künstler auf der Liste! Beim Weiter-Recherchieren komme ich auf Michaela Eichwalds Blog – und genau dort finde ich eine Email von ihr an David Lieske veröffentlicht. Es gibt wohl Unstimmigkeiten in der Kooperation mit der Galerie, u.a. über die Geschäftspraktiken von Lieske.
Aufruhr im Wohlfühlclub der Schönen und Coolen, ging ja schnell?…
APC- und ABC-Taschen, Courtesy APC, Mulackstraße (© )
28_ourdender.JPG (© )
"Parasagittal Brain - Left and Right", 2011, Courtesy Croy Nielsen (© )
Frühstück (© Genrefoto)
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