Tagebuch

2013:May // Einer von hundert

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05-2013














Einer von hundert
/ Tagebuch aus dem Berliner Winter und Frühling

12. Januar, 23 Uhr, Mitte, einstiges Sperrgebiet der Sektorengrenze
Nach Frank Nitsches Aftershowparty auf Empfehlung der Waldfee ein nächtlicher Orientierungslauf bei Minusgraden durch den hintersten Winkel von 36. Irgendwo feiert irgendwer rein, es entfalten sich archaische Szenen aus dem Leben der Boheme, wie wir sie zuletzt anno 90/91 im LSD-Dreieck erlebt zu haben glauben. Melancholische Schönheiten zwischen Modigliani und Bloomsbury, Rotwein in Strömen, es
wird ernshaft geraucht – und wie schon das alte Seefahrerlied wusste: „Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein!“ Nahezu jede/r ist Fotograf/in oder Künstler/in oder beides, man kennt sich teils arbeitsbedingt aus dem Laden, in dem Thilo einst gekellnert hat. Traurig konstatiert der erfahrene Kritiker im wohl hundersten Gespräch über die mangelnde Berufsvorbereitung an den Hochschulen, niemand habe den Mut, den Studis offen zu sagen, wie es ist: Dass es höchstens einer schaffe – von tausend. Realistisch betrachtet liegt die Quote wahrscheinlich sogar da, wo sie im Straßenverkehr noch immer gestattet ist: Bei 0,8 Promille. Der Heimweg dann ernüchternd, in jeder Hinsicht.

23. Februar, im Büro
Oh, die Mail an Jennifer Allen kommt zurück, Email-Account wurde geschlossen. Ist das der Anfang vom Ende für frieze d/e? Wäre schade, obwohl. So ganz überzeugt war ich nie vom Konzept, durch die Zweisprachigkeit waren die Texte zu kurz, die Hälfte des Heftes dadurch jeweils nicht interessant, weil mit dem gedoppelten Text verstopft. Inhaltlich eben auch nur ein Kompromiss zwischen Texte zur Kunst, Monopol und ja, wir dürfen es sagen, von hundert. Der Kölntext von Dominikus Müller war von uns z.B. schon lange vorgearbeitet (Köln-Effekt 01/100, Netzwerk-Spezial (Michael Sanchez etc.) 17/100 usw.). Aber es gibt sie ja noch und wir liefern gerne Stoff …

18. März, 23 Uhr, zuhause

Habe im Internet eine Liste der (ehemaligen) Studenten von Michael Krebber gefunden. Sie zeigt den Stand von 2005. Schon ganz interessant zu sehen, wer damals „dabei“ war und wen man davon heute alles so kennt:
Michael Krebber class: Will Benedict, Shannon Bool, Edith Deyerling, Andreas Diefenbach, Jorg Eibelshauser, Jana Euler, Manuel Gnam, Gulsum Guler, Martin Hoener, Martin Holzschuh, Michael Moos, Karl Orton, Thomas Judin, Simone Junker, Andrei Koschmieder, Knut Liese, David Lieske, Dennis Loesch, Anna Ostoja, Ulla Rossek, Anna-Maria Saurer, Benjamin Saurer, Lucie Stahl, Katharina Stover, Megan Sullivan, Stephen Suckale, Nina Tobien, Siw Umsonst, Oliver Voss

5. April, nicht in der Schlange Unter den Linden
Crazy das Ding mit der Kunsthalle. Was wollen die? Ist das ein reiner PR-Coup? Eine Wiederbelebung der Freien Berliner Kunstausstellung, die um 1994 zurecht eingestellt wurde? Hat das was mit Social-Media zu tun? Irgendwie erscheint mir die ganze Ausstellung wie eine riesige Tumblr-Seite, nur in echt. Alle Bilder werden kachelähnlich zusammengeknallt und man soll das dann als Betrachter durchscrollen. Wer macht da mit? Wer schaut sich das an?
Was sind wir doch arm dran, wir Bildproduzenten – jedes einzelne Erzeugnis, jedes Werk wird immer mehr zum Klick, zum Nichts – nicht nur im Netz, jetzt auch im realen Raum.

5. April, abends in der Steinstraße
Und doch schauen sich das viele an, machen viele mit. Auch Leute die ich kenne. Plötzlich bekomme ich anerkennende Worte. Super Arbeit, dein abgemalter Einkaufszettel. Was kostet der? Hallo! Ich mal keine Einkaufszettel ab. Ich mal gar nicht und Kassenzettel schon gar nicht. Die haben einen meterlangen Bart. War jemand in der Torsten-Goldberg-Aus­stellung 1994 in der Galerie Wohnmaschine – zig Kassenzettel. Mein Namensvetter Andreas A. Koch hat wohl bei der Namensangabe sein Zwischen-A. vergessen. Manche die mitmachen, führen mich jetzt als Alibi auf. Der Andreas macht doch auch mit. Nein, ich mache nicht mit. Schickt bitte keine Likes durch die Gegend, weder analog noch digital … jedenfalls nicht meine Person betreffend.

7. April, noch später
Das mit meinem Namensvetter ist eh so eine Sache. Alles fing 1998 an. Ich stellte ihn im Rahmen der Andreas-Koch-Ausstellung aus, er war der einzige ernsthaftere Künstler unter meinen 20 Namensträgern, die mitmachten. Ich glaube, er litt die letzten 15 Jahre stark unter mir und wurde öfter auf mich angesprochen als ich auf ihn. Mich kannten halt mehr. Er ist zehn Jahre älter.  Er hat nicht mal eine eigene Artfacts-Biografie und leitet eine Weiterbildungsschule. Seit kurzem schlägt er zurück. Öfter passierte es mir jetzt, dass sich Leute freuen, mit mir auszustellen, ich bin’s dann aber gar nicht, mein Namensklon taucht auf. Und im Januar stellten wir sogar zusammen aus. Peter Funken ist als Dozent an seiner Schule, der brachte ihn mit rein. Ok, muss ich jetzt eben auch ein bisschen leiden, ist vielleicht gerecht. Erster Gegenschlag wird dann irgendwann doch die eigene Website sein, nicht dass jemand glaubt, ich male Kassenzettel ab und fabriziere Milchhautskulpturen. Nur hoffentlich ist noch eine Domain frei …

10. April, Do you read me?!, Auguststraße
Frieze d/e sieht frischer aus denn je … vollgepackt mit Anzeigen, die Redaktion teilen sich jetzt Jan Kedves und Dominikus Müller. Wer braucht schon einen Chef, gut so.
Und das Thema? Kunstakademien! Das machen wir doch auch. Nur kommen wir drei Wochen später raus. Wer ist hier der Hase, wer der Igel?

11. April, Pefferberg
Schock im Pfefferberg-Gelände. Nach der Eliasson-Burg und dem neuen manieristischen Architekturzeichnungsmuseum von Sergej Tchoban jetzt ein Neubau von Ai Weiwei in der Mitte des großen Platzes, direkt vor Meinblau und hinter Eliasson. Gibt’s hier eigentlich Denkmalschutz, es ist doch ein Industriedenkmal? Es gibt doch einen Unterschied zwischen Platz und Platz. Man kann doch nicht jedes freie Eckchen zu­bauen, gerade wenn es sich um einen echten Platz handelt, der sogar noch unterirdische Keller hat.

14. April, morgens zuhause
Bei der Recherche im Netz hab ich grade gesehen, dass
1. Dr. Astrid Mania den ADKV-ART-COLOGNE-Preis für Kunst­kritik 2013 erhalten hat. In der unabhängigen Jury waren: Nicola Kuhn (Kritikerin und Kuratorin, Berlin); Prof. Dr. Georg Imdahl (Professor für Kunst und Öffentlichkeit an der Kunstakademie Münster, Düsseldorf/Münster); Astrid Wege (Kritikerin, Autorin und Kuratorin, Köln); Gunter Reski (Künstler und Autor, Berlin); Gerrit Gohlke (Kritiker, Kurator und Vorstandsmitglied der ADKV). Herzlichen Glückwunsch!
… und jetzt haben wir schon vier Preisträger unter unseren Autoren und ehemaligen Autoren, also Raimar Stange, Ludwig Seyfarth, Kolja Reichert und Astrid Mania.
2. der Neue Berliner Kunstverein den ADKV-ART-COLOGNE-Preis für Kunstvereine 2013 erhalten hat. Die unabhängige Jury vergab den Preis einstimmig. Die Jury-Mitglieder waren: Dr. Sven Beckstette (Kunstmuseum Stuttgart), Dr. Yilmaz Dziewior (Kunsthaus Bregenz), Johan Holten (Staatliche Kunsthalle Baden-Baden), Dr. Angelika Nollert (Neues Museum, Nürnberg) und Barbara Weiss (Galerie Barbara Weiss, Berlin). 17 Kunstvereine waren nominiert, darunter der Neue Aachener Kunstverein, der Kunstverein Arnsberg, die NGBK, der Bielefelder Kunstverein, der Kunstverein Braunschweig, die GAK und andere wie die Halle für Kunst, Lüneburg. Auch dem NBK eine Gratulation.

14. April, Spielplatz, Teutoburger Platz
Aha, neue Information. Ai Weiwei baut unterirdisch und nutzt die Keller. Auf dem Platz sind dann nur die Oberlichter zu sehen. So Stuttgart-21-mäßig. Ok, dann her mit den chinesischen Millionen. Wenn er dann irgendwann wieder auszieht, findet sich bestimmt eine tolle Nachnutzung. Vor zwanzig Jahren tanzte ich noch wild bei Strobolicht zu Techno im Keller da unten. In zwanzig Jahren könnte man dann vielleicht UV-Strahlen-geschützte Liegestühle aufstellen, und eine Wellness-Oase einrichten für uns Mitte-Rentner …
2 x Andreas Koch (© Henrik Rauch)
Deutsche Bank Kunsthalle (© Markus Heine)
Deutsche Bank Kunsthalle (© Markus Heine)
Portrait Michael Krebber (© Brill (www.uhutrust.com))
aktuelle frieze d/e (© )
Marius Babias, Direktor Neuer Berliner Kunstverein (© Andrea Stappert, 2013)
Astrid Mania (© Zsu Szabó)
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