Projekträume: Vitales, aber fragiles Herz der Kunstszene

Studie über die Situation von Projekträumen in Berlin

2012:Apr // Séverine Marguin

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04-2012


Berlin – die schillernde Künstlerwerkstatt Europas strahlt in alle Richtungen wie das Eldorado. Trotz einer Realität, in der Galeristen und Kritiker gemeinsam mit Museumsdirektoren und Sammlern den harten Legitimierungsweg gestalten und in der der Markt wie in jeder anderen Metropole der zeitgenössischen Kunst, ob New York, Hong Kong oder London, allmächtig wirkt. Worin begründet sich Berlins Anziehungskraft? Sie hängt definitiv stark mit dem europaweit einzigartigen Phänomen der großen Zahl an Projekträumen zusammen, die wie unzählige, fragile Frühlingsblümchen überall in Berlin zu sprießen scheinen. Im Gegenteil zur romantischen Vorstellung eines endlosen Blumenmeeres, das sich weit über die Stadt hinaus verbreitet, lässt sich jedoch feststellen, dass es so viele Räume in Berlin gar nicht gibt, und viele wird es bestimmt nicht für immer geben. Zurzeit sind es etwa 150, und es scheint, als habe nach der Blütezeit in den Jahren 2006 bis 2007 ein unbefristeter Herbst eingesetzt. Viele Räume sind relativ jung, auch wenn ein paar ältere Dauerblüher darunter sind (ob Sox, gegründet 1990, Flutgraben e.V, gegründet 1996, oder Meinblau, gegründet 1997). Grundsätzlich lassen sich drei Generationen von Räumen unterschieden: die Überlebenden aus der 90ern, die Jahrhundertwende-Räume und die Räume aus der „Goldenen Zeit“ 2006 und 2007 (siehe Abb. 1). Der fruchtbare Boden von Berlin ist jedoch für diese Blümchen langsam überstrapaziert. Wenn ein Boden nicht mehr trägt, kann dies mehrere Ursachen haben: Zum Beispiel die Überwucherung mit Parasiten oder Luftmangel durch Verdichtung. Eine solche Diagnose lässt sich gut auf die Bezirke Mitte und Prenzlauer Berg übertragen. Auch Kreuzberg könnte ein Jahr Kulturbrache vertragen. Im Kontrast hierzu verfügen die angrenzenden Bezirke (noch) über fruchtbare Erde: so etwa Wedding, Neukölln und Lichtenberg (siehe Abb. 2).

Das auf Berlin projizierte Bild vom gelobten Land der zeitgenössischen Kunst benötigt dringend einen Realitätsabgleich. Die jüngste Entwicklung der Begrenzung von Freiraum in Berlin, besonders bemerkbar im Zuge des spekulativen Verkaufs von ganzen Stadtvierteln und der damit verbundenden Mietpreissteigerungen, gefährdet und verdrängt insbesondere die Projekträume. Obwohl die „freien Kunstprojekträume und -initiativen“ oft als marginalisierte Akteure bezeichnet werden, spielen sie eine zentrale und oftmals unterschätzte Rolle im Kunstfeld. Wenn Berlin die „Künstlerwerkstatt Europas“ ist, so sind Projekträume ihr vitales und dennoch fragiles Herz. Eine im Sommer 2011 von mir durchgeführte Studie beleuchtete die spezifischen Merkmale von Projekträumen und lieferte eindeutige Belege für deren Leistung im Berliner Kunstfeld, die sich in vier Hauptkategorien einteilen lässt: ihre ästhetische, ihre kulturelle Leistung, ihre Arbeitsleistung sowie ihre wirtschaftliche Leistung.
 
Kollaborativ, diskursiv, partizipativ
In ihrer Selbstbeschreibung definieren die Projekträume ihre künstlerische Leistung, indem sie „Raum für eine künstlerische Praxis (bieten), die mehr prozess- als produktorientiert ist, einen kollaborativen und/oder partizipativen Ansatz verfolgt, die dialogische und/oder diskursive Formate einsetzt. Diese künstlerische Praxis zeichnet sich durch ihre besondere Kontextbezogenheit aus: Der Austausch über gesellschaftlich relevante Themen steht im Vordergrund, künstlerische Arbeitsprozesse werden erfahrbar und ihre Produktionsbedingungen werden mit reflektiert“ (Positionspapier des Netzwerks auf www.projektraeume-berlin.net). Projekträume sind dementsprechend nicht nur Räume, in denen Kunstwerke präsentiert werden, sondern in denen sie auch geschaffen, kommentiert, präsentiert, überlegt, miterlebt und mitproduziert werden. Eines ihrer wichtigsten künstlerischen Anliegen ist außerdem, den weiterhin dominierenden konventionellen Rahmen der Kunstwelt zu sprengen, und zwar durch die Überschreitung strukturierender Segmentierungen: bezogen auf die unterschiedlichen Disziplinen, auf die passiven und aktiven Beteiligten (sprich das Publikum sowie die Künstler und Kuratoren) sowie auf die Fertigstellung eines Kunstwerks. Interdisziplinarität, Partizipation, Interaktion und Prozesshaftigkeit sind dementsprechend Schlüsselwörter für die von und in den Projekträumen geleistete künstlerische Arbeit (siehe Abb. 3). Eine weitere wichtige Komponente für die ästhetische Leistung von Projekträumen betrifft die Förderung der sogenannten „emerging artists“. Denn in diesem Bereich der Kunstszene wird tatsächlich lieber von emerging oder nichtetablierten Künstlern als von „jungen“ Künstlern gesprochen, was als kritische Antwort auf den im Kunstbetrieb immer noch zugkräftigen Jugendwahn betrachtet werden kann. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Projekträume zum ästhetischen Diskurs sehr vielschichtig beitragen.

750 Ausstellungen im Jahr
Die kulturelle Leistung von Projekträumen zeigt sich vor allem im Ausrichten regelmäßiger öffentlicher Veranstaltungen mit regem Publikumsbesuch. Damit ist gemeint, dass Projekträume nicht nur die Produktion von Kunstwerken, sondern auch ihre Rezeption durch den Austausch mit der Öffentlichkeit fördern. Das Zeigen von Kunst als wichtigste Aufgabe von Projekträumen wurde schon in einer vom privaten Institut IFSE 2011 durchgeführten Umfrage zur Situation der Berliner Künstler hervorgehoben. Dieser Umfrage zufolge haben 48,7% der befragten Künstler in den letzten drei Jahren ihre Arbeiten (in Einzel- oder Gruppenausstellungen) in einem Projektraum gezeigt. In der Tat kann auch die anfangs erwähnte Umfrage unter den Projekträumen weitere Belege für diese massive Beteiligung bringen: es sind durchschnittlich fünf Ausstellungen im Jahr pro Kunstraum. Nun liegt die Zahl der Kunsträume in Berlin bei etwa 150, d. h. dass die jährliche Ausstellungsanzahl in den Berliner Projekträumen um die 750 beträgt. Im Durchschnitt präsentiert ein Kunstprojektraum die Werke von 20 Künstlern im Jahr. Diese Größenordnungen zeigen, wie sehr die Projekträume zur Sichtbarkeit der Kunst in Berlin beitragen: Wer hat eigentlich gesagt, dass die Stadt Berlin eine Kunsthalle braucht? 

Projektraum als Netzwerk
Projekträume setzen sich für eine kooperative Arbeitsweise ein. Sie öffnen einerseits mit ihren Räumen Möglichkeiten für das Schaffen von Kunstwerken, andererseits ermöglichen sie aber auch durch das Zeigen der Arbeiten Begegnungen. Sie bilden ideale Vernetzungsplattformen für Künstler und Kuratoren, die in diesen Räumen neue Kooperationsprojekte entstehen lassen können. In dieser Hinsicht sind sie auch wichtige Einstiegsmöglichkeit für ausländische Künstler und Kulturschaffende. Mit der Pflege „flacher Hierarchien“ und horizontaler Beziehungen im Kunstbetrieb verteidigen Projekträume ein anderes Verständnis von Austausch, indem sie Ebenbürtigkeit dem Wettbewerb vorziehen.

Überleben mit weniger als 5000 Euro
Projekträume verstehen sich als nichtmarktorientierte Räume und grenzen sich so klar von Galerien oder auch Produzentengalerien ab. Sie positionieren sich kritisch gegenüber einer auf Spekulation beruhenden Wirtschaftslogik, wie sie vom Kunstmarkt betrieben wird. Sie wollen jenseits des Marktes agieren und fordern eine nichtkapitalistische Ökonomie. Damit ist gemeint, dass Projekträume Wirtschaftlichkeit nicht prinzipiell ablehnen, sondern kanalisieren – Karl Polanyi, der deutsch-ungarische Wirtschaftstheoretiker hätte gesagt, sie betten die Ökonomie in die Kunst ein. Diese Zähmung des Wirtschaftlichen gelingt den Projekträumen aber bisher nur unzureichend: 67% der befragten Kunsträume geben nämlich als jährliches Budget weniger als 5.000 € an (siehe Abb. 4). Zudem werden sie von der Förderpolitik kaum berücksichtigt, die sich zunehmend stärker auf die großen und öffentlichkeitswirksamen Institutionen mit internationaler Prägung konzentriert. Strukturelle Förderungen erhalten die Projekträume daher nicht (oder noch nicht: siehe zum aktuellen Stand der Verhandlungen www.projektraeumeberlin.net). Dieses minimale Budget deckt im besten Falle günstige Mietkosten und minimale Produktionskosten. In den meisten Fällen können sich die Projekträume nur über Zwischennutzungsverträge räumlich niederlassen, was sie sehr verwundbar macht. In der Regel stehen kaum Mittel für die Arbeitskraft zur Verfügung: tatsächlich arbeiten 71% der aktiven Beteiligten ehrenamtlich. Entsprechend deutlich ist der Begriff „Selbstausbeutung“ auf der word-cloud zu erkennen. Die selbstorganisierten Künstler quälen sich freiwillig, um die Räume parallel zu ihren Neben- und variablen Broterwerbsjobs und selbstverständlich auch parallel zu ihrer künstlerischen Tätigkeit zu erhalten. Sie streben dabei nach der „wahren“ Währung, nach „Aufmerksamkeit", wie die einen sagen, während andere den Lohn der Kunstrezeption eher als „Partizipation“ beschreiben. Finanzierungsquellen sind in diesem Bereich eine Rarität und beschränken sich hauptsächlich auf persönliche Mittel „aus der eigenen Tasche“ (92%) sowie auf „Getränkespenden“ (42%). Weit abgeschlagen steht erst an dritter Stelle die projektbasierte öffentliche Förderung (27%) (siehe Abb. 5).

Idealisten oder symbolische Kapitalisten?
Die Leistung von Projekträumen für den Bereich Bildende Kunst in Berlin ist unbestreitbar und deutlich zu belegen: sie tragen ebenso zur Kunstproduktion wie zum künstlerischen Diskurs bei, indem sie den notwendigen Raum dafür schaffen. Darüber hinaus öffnen sie Räume für Begegnungen und fördern kooperative Arten von Beziehungen im Kunstbereich. Sie bilden ein zentrales Artikulationsorgan der Kunst, indem sie Brücken zwischen den einzelnen Künstlern und der etablierten Szene schlagen. Bei weitem nicht so marginalisiert wie sie wahrgenommen werden, bilden sie das Herz der zeitgenössichen Kunstwelt Berlins und geben ihr ihren Puls. Gerne als oppositionelle Kraft stilisiert, werden sie den Kunstinstitutionen häufig frontal gegenübergestellt, obwohl sie im Kunstbetrieb gut integriert sind und eher einen Teil des gesamten Getriebes bilden.  
Die von den Projekträumen geleistete Arbeit beruht auf dem starken Engagement ihrer Protagonisten, angetrieben entweder von Idealismus – oder, wie böse Zungen behaupten, vom reinen Selbst-Marketing. So gibt es heutzutage genug Galeristen, die einen Projektraum eröffnen, um sich das mit dem Format „Projektraum“ verbundene symbolische Kapital anzueignen. Entsprechend stellt sich die Frage, ob die Projekträume letztendlich eher die Vorstufe zum etablierten Kunstmarkt bilden oder weiterhin als Ausgangspunkt eines partizipativen Ansatzes betrachtet werden können, der von der Kunst „als einem zentralen Schauplatz des Gemeinwesens“ träumt und der die „künstlerische Arbeit heute zunehmend auch als Bildungs- und Demokratiearbeit“ (Manifest Haben und Brauchen) begreift. Lasst uns von diesem zweiten Ansatz weiter träumen.    


Die Studie und Umfrage zu den freien Berliner Kunstprojekträumen und -initiativen wurde im Sommer 2011 von Severine Marguin durchgeführt. An dieser Stelle möchte sich die Autorin ausdrücklich bei dem Netzwerk freier Kunstprojekträume und -initiativen (www.projektraeume-berlin.net/) für die Unterstützung bedanken. Danke auch allen Teilnehmern, die sich Zeit für diese Umfrage genommen haben.
13 marguin01.JPG (© Séverine Marguin)
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