Kunstlehrer am Rande des Wahnsinns

2013:May // Elke Stefanie Inders

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05-2013














Kunstlehre an Schulen

The art of teaching
/ Kunstlehrer am Rande des Wahnsinns

Kunstlehrer sind von einem anderen Stern. Wahnsinnig, exzentrisch, nicht normal, verhinderte Künstler, aber auch keine wirklichen Lehrer und außerdem total durchgeknallt.
So ungefähr lautet die Quintessenz über Kunstlehrer, liest man eine Weile in einschlägigen Schülerforen. Ein belustigendes oder gar beleidigendes Klischee? Und was veranlasst Schüler überhaupt zu solchen Äußerungen? Sind dies allgemeingültige Projektionen und Phantasien über Künstler, den Prototypen des weltfremden Exzentrikers? Ein Bild, das Schüler lückenlos auf Kunstlehrer übertragen? Und welche Schlussfolgerung soll ich nun daraus für meine eigene Lehrerrolle ziehen? Einfach nur bizarr und möglichst strange durch die Schulgänge tippeln? Mir endlich einen Tourette-mäßigen Tick zulegen?

Womöglich greift hier auch Adornos uneingeschränkt zutreffende Feststellung über die idiosynkratische Empfindlichkeit der Kinder gegen Eigenheiten der Lehrer, die vermutlich über alles hinausgeht, was man sich als Erwachsener vorstellt. („Tabus über dem Lehrberuf“, in: Adorno, Th., Erziehung zur Mündigkeit, 1965/1971, S. 82). Bevor ich dezidierter auf die Besonderheiten des Unterrichtsfaches Kunst eingehe, werde ich notwendigerweise einige grundlegende Eigenheiten der Lehrerrolle an sich skizzieren.

Als Lehrer befindet man sich kontinuierlich in einer hochgradig disparaten Situation: Einerseits soll man Über-Ich-Ideale verkörpern und andererseits stellt man eine Projektionsfläche dar, auf der sich, wie unter einem Brennglas, nach wie vor all diejenigen Ressentiments versammeln, die über den Lehrerberuf und dem von ihm vertretenden Fach zirkulieren. Eine wahrhaftig paradoxe Situation und eine deutsche Spezialität, die nicht zuletzt durch den Nationalsozialismus befeuert wurde. Mehr unbewusst als bewusst tragen viele Erwachsene das tyrannische Lehrerbild Wedekinds in sich und vermitteln dieses als Stereotyp fort. Keine Frage, manch einer hat schlimmste Dinge in seiner Schulzeit erlebt und muss sie noch erleiden! Doch unser Bild von Schule generiert sich ausschließlich aus unseren Erfahrungen, die wir als Kinder und Pubertierende gemacht haben. Erzieherische Maßnahmen oder gar Ordnungsmaßnahmen stellen für viele Schüler einen nicht unerheblichen Angriff auf ihre Persönlichkeit dar. Mitunter sieht man sich als Lehrer vor die Situation gestellt, dass man in einen der intimsten Bereiche und Rechte des Menschen eingreift und eingreifen muss, wenn z.B. der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung besteht. Man greift folglich in ein Grundrecht, in diesem Falle in das Elternrecht ein. Die disziplinarische Institution Schule, deren komplexem und paradoxem Konformitätszwang auch Lehrer ausgesetzt sind, kann ein Jugendlicher oftmals nur schwer durchschauen. Eine angemessene Korrektur dieses Bildes aus einer Erwachsenenperspektive findet in den seltensten Fällen statt.

Deshalb ist es so schwer, ja manchmal nahezu unmöglich, Außenstehenden auch nur ansatzweise zu vermitteln, was diesen Beruf, insbesondere innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte, zu so einer großen Herausforderung gemacht hat. Doch es besteht Grund zur Hoffnung! Traurigerweise besteht diese darin, dass die zunehmende Heterogenität von Schülern, die sich in massiven Verhaltensauffälligkeiten, Lernstörungen vielfältigster Art, psychiatrisch relevanten Erkrankungen und nicht zuletzt in der exponentiell ansteigenden Zahl von ADHS-Kindern äußert, ein Lehrerrollenbild erfordert, was nicht nur nach fachlichen und pädagogischen Qualifikationen fragt, sondern auch psychologische, bisweilen medizinisch-psychiatrische sowie pharmakologische, seelsorgerische und sozialpädagogische Kompetenzen einfordert. Diese Rollen­überfrachtung scheint der Allgemeinheit langsam so etwas wie Anerkennung für diesen Beruf abzuringen, manchmal aber auch nur mitleidige Blicke.

Das Unterrichtsfach Kunst ist vielleicht die Kür im allgemeinen Pflichtprogramm, eine Insel der Glückseligen, ein Moment, in dem der rasante Schulalltag etwas entschleunigt wird. Und tatsächlich, neulich erzählte mir ein hochbegabter Neunjähriger, dass er immer so gut beim Malen entspannen könne. Selbst leistungsschwache Kinder haben im Kunstunterricht ihre Erfolgserlebnisse und die Mehrheit der Schüler mag das Fach Kunst, egal welchen Alters. Bei ca. 210 Schülern, die ich derzeit in vier verschiedenen Jahrgängen unterrichte, ist das gar keine so schlechte Voraussetzung, bedenkt man, dass eine der Hauptaufgaben von Lehrern darin besteht, Schüler zu Dingen zu motivieren, zu denen sie eigentlich gar keine Lust haben.
Kinder bzw. Schüler sind immer ein Spiegel der Gesellschaft, im Positiven wie im Negativen. Ganz egal, um welches Thema oder Unterrichtsfach es sich handelt. Sie haben mehr oder minder unbewusst und instinktiv eine außerordentliche Komplexität an gesellschaftlichen Meinungen, Vorurteilen und Klischees verinnerlicht und verkünden diese auch. Man spricht dann im Pädagogen- oder Didaktikerdeutsch von so genannten Präkonzepten, an denen man als Lehrer per gesetzlich verordnetem Bildungs- und Erziehungsauftrag herumdoktern muss, aber auch sollte.

Weniger förderlich ist es, sich als Lehrer über die teilweise naive, esoterisch anmutende, aber auch abgehoben bildungsbürgerliche Vorstellung von Kunst bei Schülern zu ärgern, denn diese rekurrieren ja lediglich auf unhinterfragte Klischees und Meinungen der Erwachsenenwelt, dem so genannten kulturellen Wertesystem. Natürlich erlebe ich es immer wieder, eigentlich tagtäglich, egal was oder wen ich unterrichte, dass Schüler so interessante Denkansätze liefern, dass ich etwas dazulerne. Dennoch bin ich letztendlich diejenige, die für den Lernfortschritt der Schüler verantwortlich ist und ihnen entsprechende Noten geben wird. Aber ich bin kein Interpretationsfetischist und fühle mich in solchen Situationen nicht in meiner faktisch akzeptierten Autorität angegriffen, die mir kraft meines Amtes verliehen wurde, denn ich spiele im Laufe des Tages verschiedene Rollen. Eine davon lautet Kunstlehrerin.

Wenn also beispielsweise 13-Jährige Munchs Maltechnik in seinem Gemälde „Der Schrei“ als total einfach bezeichnen oder über wahnwitzige Auktionspreise von Kunstwerken staunen, dann ist das im Grunde genommen das Spannendste, was einem als Kunstvermittler passieren kann. Man kann sich dann nicht auf die Position zurückziehen: Ich bin ja hier schließlich die Lehrerin, besitze die Deutungshoheit, bin außerdem noch Kunsthistorikerin und habe schon so viel Kunst gesehen, ergo weiß ich, was Kunst ist oder eben nicht, und die Kinder haben ja sowieso noch keine Ahnung. Es ist im Gegenteil der beste Antrieb, um immer wieder die eigenen oder allgemein gültigen Ansichten über Kunst und Ästhetik zu hinterfragen. Oft genug stößt man dabei auf neue Fragen, blinde Flecken in der Kunsttheorie und -kritik, manchmal natürlich auch auf problematische Haltungen.

Schüler sind, was das Aufstellen von fragwürdigen Thesen angeht, total schmerzfrei und das ist gut so! Denkt man an die eigene Schulzeit, dann weiß jeder selber, wie wenig man im Grunde wusste. Das lässt einen bescheiden bleiben aber dennoch neugierig, außerdem bewahrt es einen davor, in eine ehrfurchtsvolle Denkstarre gegenüber Kunstkritikern zu verfallen und stellt ein gesundes Korrektiv dar, um sich von der unheilvollen Verklammerung von Wissen und Macht distanzieren zu können. Das Nachdenken über Kunst zielt also ins Unendliche und manchmal erscheint mir das Reflektieren über Kunst im schulischen Kontext produktiver als an der Universität oder in kunstnahen Institutionen. Vielleicht hat das Unterrichtsfach Kunst hier noch einen utopischen Charakter – man muss noch nicht über Selbstvermarktungsstrategien oder Businesspläne nachdenken, wie dies zunehmend an Kunsthochschulen getan wird.
Eine beliebte Frage bei Schülern kann mit ziemlicher Regelmäßigkeit beobachtet werden: Was ist denn daran Kunst? Egal, ob man ihnen ein Bild von Paul Klee vorstellt oder, was vielleicht noch eher nachvollziehbar ist, die „Campell’s Soup Tin“ von Andy Warhol, bzw. ein Werk von Marcel Duchamp. Im Grunde ist es doch so: Schüler stellen genau die Fragen an die Kunst, die sich die Kunstwelt nicht mehr zu stellen traut, höchstens hinter vorgehaltener Hand oder Fragen, die nur wenige kritische Theoretiker aufgreifen. Schüler genießen an dieser Stelle eine gewisse Narrenfreiheit und dürfen Deutungshoheiten unbedingt angreifen. Fallen solche Fragen, dann gilt es diese unbedingt aufzugreifen, ob man sie eindeutig beantworten kann und was die persönliche Meinung dabei ist, das ist eher sekundär, bzw. kann zur Disposition gestellt werden. Kann man denn überhaupt beantworten, was Kunst ist? Möglicherweise nicht.

Kann man bei Schülern einen Denk- und Handlungsprozess initiieren, der sie in irgendeiner Weise dazu befähigt, über das nachzudenken, was Kunst eventuell sein könnte? Möglicherweise ja! Im besten Falle hält dieses Interesse oder diese Begeisterung ein Leben lang an oder man erinnert sich an einen durchaus passablen Kunstunterricht. Ich hatte tatsächlich das Glück, dass die Mehrheit meiner Kunstlehrer und Kunstprofessoren außerordentlich motivierend war. Allerdings ist es auch nicht unerheblich, dass ich mit verschiedenen Bereichen der Bildenden Künste aufgewachsen bin. Manches davon war ziemlich exzentrisch und unheimlich, aber der größte Teil ermöglichte mir, Kunst im weitesten Sinne als etwas Lebensbereicherndes wahrnehmen zu können, und was vielleicht noch wichtiger und ausschlaggebender ist, hinter die Kulissen schauen zu können und sozusagen die Produktionsbedingungen von Kunst hinterfragen zu können. Der ästhetische Blick, analytisch oder handlungsorientiert vermittelnd, liegt mir wohl mehr als das Künstlersein. Bei Ausstellungsbesuchen ertappe ich mich oft selber und denke: Gut, dass ich kein Künstler bin, denn das würde mich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit wahnsinnig machen.

Meine Rolle ist also die Vermittlung, das Heranführen an ­diese Materie. Und im besten Falle stellen sich bei Schülern tatsächlich Erkenntnisse ein, z.B. wenn sie beim Skizzieren und Kopieren des Munch-Gemäldes merken, dass das gesamte Unterfangen doch gar nicht so einfach ist und es in dem Bild eine Fluchtpunktperspektive gibt, oder dass man ein Duchamp-Kunstwerk nur schwer, bzw. gar nicht interpretieren kann. Stoßen die Schüler also auf ein Hindernis oder ein Problem, dann sind sie in der Regel interessiert daran, dieses zu lösen. Das ist für mich als Lehrende das Beste, was mir passieren kann. Denn in solchen Momenten ist es ziemlich sicher, dass sich bei den Schülern ein so ­genannt­er Lernzuwachs anbahnen lässt. Sie erkennen ein Problem, versuchen es zu lösen, entweder mit oder ohne meine Hilfe und wenn es ihnen gelingt, dann sind sie stolz auf sich und ich auf sie. Diese Aha-Momente bei Schülern sind sozusagen die Diamanten im Schulalltag und sie sind nicht selbstverständlich.
Man fragt sich nach solchen Stunden: Haben die Schüler womöglich etwas mehr darüber verstanden, was Kunst sein könnte, dass Kunst durchaus etwas mit Lernen, Üben und nicht unbedingt mit Geniekult zu tun hat, aber auch mit der Fähigkeit, Dinge nicht verstehen zu können.

Ein weiterer viel gehörter Ausspruch, insbesondere bei der Notenvergabe lautet: Äh, das ist doch subjektiv, ich kann halt nicht malen! Stellt man Schülern, und dabei ist es so ziemlich egal, ob sie zehn oder siebzehn Jahre alt sind, die Frage, was denn Kunst sei, dann antworten die meisten: Malen! Das wäre dann die geläufigste, aber auch konservativste Antwort auf die Frage. Falsch ist sie nicht, denn sie beruht zum größten Teil auf der historisch bedingten Entwicklung der Kunstakademien und deren hierarchischen Einordnungen der verschiedenen künstlerischen Metiers. An dieser Stelle gilt es den Schülern zu vermitteln, dass es eine Vielzahl künstlerischer Techniken und Praktiken gibt und dass Malen lediglich eine davon darstellt. Nicht zuletzt gibt das Kerncurriculum, also der fächereigene Lehrplan vor, was Schüler in einem Fach lernen sollen. Im Fach Kunst ist dieser erstaunlich tolerant und breit gefächert. Als Lehrer hat man daher viele Freiheiten, diesen praktisch umzusetzen. Steht also das Thema „Menschliches Porträt“ an, dann muss ich dieses nicht unbedingt malerisch umsetzen lassen, sondern kann mich auch für die skulpturale Variante entscheiden. Didaktisch übersetzt hieße das dann ungefähr: Das menschliche Porträt und seine Umsetzung im Raum, oder so ähnlich. Dieses Thema habe ich tatsächlich mit zwei Klassen parallel bearbeitet – als Vorlage und Referenz dienten uns die Arbeiten Romuald Hazoumés, ein beninischer Künstler und Documenta-Teilnehmer, der Masken aus Müllkanistern herstellt. Mein schriftlicher Auftrag nebst Bildern von Hazoumés Masken an 60 Fünftklässler und ihre Eltern lautete also: Bitte sammeln sie in den nächsten Wochen alle möglichen Gegenstände aus ihrem Haushalt, die Sie nicht mehr benötigen. Was dann an Materialien herangekarrt wurde, übertraf meine Erwartungen!

Mehrmals die Woche wurden säckeweise Joghurtbecher, gigantische Seilrollen, Besen, vollständige Malersets, sogar sperrige Fußmatten, Staubsaugerzubehör und Vergleichbares herangeschleppt. Eine wahre Materialschlacht und die Klassenräume glichen einem Sperrmüllhaufen. Hatte ich meinen Arbeitsauftrag nicht präzise formuliert oder war die Mehrheit der Eltern einfach nur froh, dass der lästige Hausschrott doch noch so praktisch und ganz nebenbei produktiv entsorgt wurde? Ich weiß es nicht, mir ist auch nicht klar, wie ich das ganze Unterfangen logistisch bewerkstelligt habe, dass sich kein Kind an der sorgsam gehüteten 200° Grad heißen Kunststoffklebepistole verbrannt hat und dass am Ende praktisch alle Kinder außerordentlich gute Masken gestaltet hatten, die mindestens genauso interessant waren, wie die von Hazoumé. Das kann man dann meinetwegen als wahnsinnig toll bezeichnen!

Der Schrei, 1910, Edvard Munch (© Munch-Museum Oslo)
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