Honoré Daumier / Max-Liebermann-Haus

2013:May // Christoph Bannat

Startseite > 05-2013 > Honoré Daumier / Max-Liebermann-Haus

05-2013
















Entmachtete Klumpenköpfe
/ Honoré Daumier im Max-Liebermann-Haus

Hogarth, Grandville, Daumier. In Berlin sind sie seltene Gäste. Werden sie gezeigt, muss man hin. Lyon 2009: Die Spezialpolizei sprengt die Wohnungstür, wirft Adlènes Mutter zu Boden, fesselt sie, verhaftet ihn und nimmt sein gesamtes Bargeld mit. Er ist Wissenschaftler am Cern. Cern ist weltweit die wichtigste Forschungsstätte für Teilchenphysik. Drei Jahre später sitze ich mit Marita, meiner Frau, und Adléne auf einem Sportplatzrand bei Lyon. Erschüttert folgen wir seinem Bericht, seiner dreijährigen Haft. Von der Arroganz der Macht, die er am eigenem Leib erfahren musste. Der menschenverachtenden Dummheit der Geheimdienstmaschinerie. Dem Hass des französischen Staatsapparats auf Algerier und den Drohungen, ihn und seine Familie brechen zu wollen. Adlène ist ein schmächtiger intellektueller Wissenschaftler, Mitte 30. Monate nach seiner Entlassung steht er noch immer unter Schock. Drei Jahre, das Urteil hat er angenommen, um aus dem Gefängnis zu kommen. In dem er zeitweise mit psychisch Kranken und Schwerverbrechern saß. Um mit unserer Anwesenheit seine Mutter nicht weiter zu belasten, waren wir hier am Sportfeld. Dass wir vielleicht abgehört wurden, war eher nebensächlich. Marita hatte eine TV-Dokumentation über die veränderte Gesetzgebung nach 9.11. gedreht. Jetzt schrieb sie ein Buch zum Thema. Adlène wurde vorgeworfen, einen Terror-Anschlag im Internet geplant zu haben. Anhand seines E-Mail-Verkehrs wurde er verurteilt.

Das Strafmaß entsprach genau der Zeit, die er ohne Verhandlung im Gefängnis war, sodass für den Staat keine „Restschuld“ blieb. Hätte er den Deal nicht angenommen, würde er noch immer im Gefängnis sitzen. Und einen weiteren Zusammenbruch, einen ersten hatte er im Gefängnis, hätte er nicht ausgehalten. In Frankreich ist so ein Justizverhalten rechtmäßig. Nach zwei Tagen Interview waren wir emotional aufgepuscht. Am dritten Tag wusste ich vor Erregung nicht wohin mit mir. Das bourgeoise Lyon ging mir auf die Nerven. Im Museum dachte ich, mein Gemüt beruhigen zu können. Und sah doch nur bourgeoise, staatstragende Kunst. Mein ins Schwanken geratener Gerechtigkeitssinn nahm all meine Sinne in Beschlag. Wie auf rohen Eiern schritt ich, außer mir, durchs Museum. Arbeiten der klassischen Moderne drangen, wie durch ein umgedrehtes Fernrohr, von weit weg zu mir. Ein Picasso, Stillleben mit Totenschädel. Ein Matta, Vietnam-Motiv, eine B52 wirft Bomben in ein Wohnzimmer. Ansonst nur bourgeoise Verklärungszusammenhänge über drei Stockwerke. Bis plötzlich in einer kaum zwanzig Quadratmeter großen Ausbuchtung Daumiers Deputierten-Büsten der Juli-Monarchie auftauchten. 36 manteltaschengroße Bronzeskulpturen weckten augenblicklich die Hoffnung, dass es für meine aufgewühlten Gefühle eine handfeste Entsprechung, hier in der Innenwelt der Außenwelt, gab und begütigten mich augenblicklich.

Skulpturen, die jetzt in Berlin zu sehen sind. Und auch hier haben sie ihre Kraft nicht verloren. Bereits 1951 hatte die deutsche Akademie der Künste die Serie von Parlamentarierköpfen erworben. Die Originale der 1927 in Bronze vervielfältigten Serie stehen im Musée d’Orsay in Paris. Sie sind aus ungebranntem und bemaltem Terrakotta. Doch gerade die Übersetzung in Bronze gibt ihnen etwas Klassisches, gleichzeitig bleiben sie persönlich, entpersonifiziert verklumpt und doch allgemein menschlich. Und sind in jedem Moment immer auch Personen der Zeitgeschichte. In Taschenformat, geschrumpft und verklumpte Männer der Julimonarchie. Gesichter, in die sich die Arroganz der Macht ebenso wie deren Einfältigkeit eingeschrieben hat. Und doch sind sie „auch nur“ alte Männer. Interpretiert von ihrem Kritiker. Klassisch, heißt hier, dass sie noch immer lebendig sind. Geknetet von 1832–35. Streben Giacomettis Skulpturen nach Allgemeingültigkeit, zeigen Daumiers Köpfe Zeitgeschehen. Giacomettis Werke werden durch Ikonografie und seinen Namen zusammengehalten, die von Daumier durch Zeit und die Übersetzung in Bronze. Während Giacometti als Säulenheiliger der modernen Skulptur gefeiert wird, sind Daumiers Skulpturen nahezu unbekannt. Doch seine Arbeiten gehören in den Olymp der Skulpteure. Dass sie oft nur als 3D-Karikaturen gelesen werden, ist eine Schande. Bedenkt man, dass moderne Kunst sich immer auch der Stilmittel der Karikatur bedient hat, kann Daumier getrost als Avantgardist bezeichnet werden.    
 
Honoré Daumier „Polemiker, Beobachter,Visionär
‚Daumier ist ungeheuer!‘ (Max Liebermann)“
Stiftung Brandenburger Tor im Max-Liebermann-Haus,
Pariser Platz 7, 10117 Berlin, 2. 3.–2. 6. 2013

Marita Nehers Buch „Albtraum Sicherheit“ erscheint im
Mai 2013 im S. Fischer Verlag      
 
Honoré Daumier, Köpfe von Cunin und Odier (© Christoph Bannat)
Microtime für Seitenaufbau: 1.29101514816