Klärung der Fronten

Zum Stand der Kunstkritik

2012:Aug // Thomas Wulffen

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08-2012












Es gab eine Zeit, in der die öffentlich-rechtlichen Kulturmagazine um Viertel vor zehn gesendet wurden. Heute beginnen sie frühestens um 23 Uhr. Zuweilen bekommt man jedoch, so gegen acht Uhr, einen Hinweis auf einen Teil einer solchen Sendung, fast als wollten die Sender so das eigene schlechte Gewissen beruhigen. Unruhe über diese Tatsache weisen heute jedoch nur die älteren Semester unter den Fernsehzuschauern auf. Das sind dann auch die gleichen Leute, die sich zu Recht darüber beschweren, dass die Sender für sich selbst Werbung machen. Die ARD wirbt für sich, genauso wie das ZDF. So nähert man sich auf leisen Sohlen den Privaten an, was Werbung und Inhalt angeht.
Verstehen wir das als Symptom eines Verlustes an Kritik und Selbstkritik. Legen wir den Finger in die Wunde. Aber das scheint nur noch eine Ersatzhandlung zu werden, weil der Betrieb gar kein Interesse daran zeigt, etwas an den Zuständen zu ändern. Und wer nachfragt, wird darauf verwiesen, dass Minderheitsprogramme für die Minderheit sind und daher an der Rand gerückt werden können.

Das Schicksal betrifft dann auch die Kunstkritik, die ihr lauwarmes Süppchen am besten auf der vorletzten Seite, vor dem Fernsehprogramm, kochen darf. Oder auf den hinteren Seiten der Feuilletons der wichtigeren Tageszeitungen. Gelesen werden diese Kritiken vom Künstler bzw. von der Künstlerin, dann folgen der Galerist und die Freunde der Galerie oder des Künstlers. Da das Angebot größer ist als der Platz im Feuilleton, gibt es immer eine Person, die ausjurieren muss. Das tut sie am besten dann, wenn sie die Einzelkritik schon von vorneherein bestellt. Was passt zu wem, wer widerspricht wem, wer ergänzt die Tonlage?
Schön wär’s, wenn’s so wär. Platz ist zwar in der kleinsten Hütte, aber viele Hütten machen noch kein Dorf. So behindert sich die Kunstkritik selbst. Von „Feuilleton“ mag man gar nicht mehr reden. Und die vielen Stimmen überlagern einen Grundtenor des Missfallens gegenüber dem eigenen Metier. Zu einer Wertung kann es nicht kommen, weil die Eingebundenheit in ein gesellschaftliches Ganzes gar nicht mehr angedacht wird. Jede Kritik ist mehr oder minder Konsens mit den Umständen. „Welche Umstände?“, fragt die Leserin, der Leser. Zum ersten die eigenen. Es gibt ein Proletariat der Kunstkritik, über das man den Mantel des Schweigens gelegt hat.

„Was tun?“, fragen wir mit Lenin, und gleichzeitig nach der Rolle der Kunstkritik in den Zeiten des Prekariats. Kunst ist etwas für die Begüterten – und das sollte durchaus zur Sprache kommen –, wie die eigene Situation als ein ausgezeichnetes Prekariat, ausgezeichnet dadurch, dass es zumindest einen Zugang zur Öffentlichkeit hat. Und an einem seltenen Moment treffen sich die Begüterten mit diesem Prekariat und schließen eben keinen Burgfrieden mehr. Dann ist Kunstkritik nicht mehr nur das, sondern auch Gesellschaftskritik. Die erste Reihe kann mit ihren Klunkern applaudieren, die hinteren Ränge ballen die Hand zur Faust, ganz leise, weil Kunst kein Sedativum ist, sondern ein Mittel der Aufklärung, der Klärung der Fronten.    

15 wulffen.jpg (© Illustration: Andreas Koch)
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