Zur Rolle von Kunstkritik heute

Auch so kann Kitsch aussehen

2010:Dec // Ludwig Seyfarth

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11-2010
















„Art criticism is massively produced, and massively ignored.“, schrieb der amerikanische Kunsthistoriker und Kritiker James Elkins im Jahre 2003. „Art criticism was once passionate, polemical and judgmental: now critics are more often interested in ambiguity, neutrality, and nuanced description.“

Klagen über den Niedergang eines einst scharfzüngigen und Aufsehen erregenden Schreibgenres hört man nicht selten. Wo sind die mutigen, kampfbereiten Frauen und Männer wie Clement Greenberg, der als Kritiker die amerikanische ungegenständliche Kunst der 50er und 60er Jahre wesentlich mit durchsetzte? Kunstkritiker führen heute, verglichen mit anderen Akteuren des Kunstbetriebs wie bekannten Kuratoren, Galeristen oder Sammlern, eher ein Schattendasein. Fast kein Kritikername ist über Fachkreise hinaus bekannt. Prominentere, einflussreiche Kunstvermittler sind in der Regel keine Kritiker. Es gibt auch kaum Ausbildungsstätten für Kunstkritik, weder an kunsthistorischen Instituten noch an Kunsthochschulen. Zu den wenigen Ausnahmen gehört das „Institut für Kunstkritik“ an der Frankfurter Städelschule, das von Isabelle Graw geleitet wird, der Mitbegründerin und Herausgeberin von Texte zur Kunst. Für Kunstkritiker existieren fast keine Stipendien und andere Förderungen. Der einzige Preis, den es derzeit in Deutschland gibt, von der Arbeitsgemeinschaft deutscher Kunstvereine ins Leben gerufen, wird jährlich auf der Art Cologne an eine/n freie/n Autor/in verliehen und ist mit 5000 Euro dotiert. Dieses Jahr wurde er jedoch ausgesetzt.

„Kunstkritiker“ zu werden, nimmt man sich nicht vor, sondern rutscht in der Regel irgendwie hinein. Im landläufigen Sprachgebrauch steht „Kunstkritik“ auch nicht für eine bestimmte Textgattung oder Herangehensweise an die Kunst, sondern dient als Sammelbegriff für alle Autoren, die jenseits des rein akademischen Betriebes über Kunst schreiben. Aber welche Arten von „Kunstkritik“ gibt es überhaupt?

In seinem schon eingangs zitierten Essay „What Happened to Art Criticism?“ unterscheidet James Elkins sieben Textgattungen, die aber nicht scharf voneinander abzugrenzen sind:

1) Der Katalogtext, wie er in der Regel von Galerien in Auftrag gegeben wird. Aber kann man Kritik nennen, was eher eine Lobrede ist? Wenn es keine Kunstkritik ist, was dann? 2) Die akademische Abhandlung, die mit philosophischen und kulturellen Referenzen gespickt ist, von Bachtin über Buber bis Benjamin zu Bourdieu. Sie ist die gängige Zielscheibe konservativer Kritik.

3) Kulturkritik, die Kunst und Bildwelt der Populärkultur miteinander mengt, wobei Kunstkritik nur ein Gewürz in einem vielfältigen Gericht ist.

4) Die konservative Wertepredigt, in der der Autor mahnend darlegt, wie Kunst zu sein habe.

5) Der philosophische Essay, in dem der Autor darlegt, inwieweit Kunst bestimmten philosophischen Konzepten entspricht oder von ihnen abweicht.

6) Die beschreibende Kunstkritik, nach einer Untersuchung der Columbia University die in den USA beliebteste. Ihr Ziel ist es, enthusiastisch, aber nicht wertend zu sein, und den Lesern eine Vorstellung von Kunstwerken zu vermitteln, die sie vielleicht nicht vor Ort sehen werden.

7) Die poetische Kunstkritik, bei der es vor allem auf die Art des Schreibens selbst ankommt.

Wenn Kunstkritiker auch Texte für Ausstellungskataloge schreiben, Ausstellungen kuratieren oder durch andere Aktivitäten ihr Geld „im“ Kunstbetrieb verdienen, liegt es nahe, dass sie nicht unbedingt sehr kritisch über Aktivitäten von Personen und Institutionen schreiben, von denen sie Aufträge bekommen oder sich welche versprechen. Die Doppelrolle(n), die viele Kritiker im Kunstbetrieb einnehmen, könnte man als hinderlich für eine unabhängige Kunstkritik ansehen. Andererseits sind fast nur Kritiker/innen, die fest bei einer Redaktion angestellt sind, in der Lage, von Rezensions- und anderen journalistischen Aufträgen zu leben. Das Feld der Kunstkritik hat ein sehr viel undeutlicheres Profil als die Theater- oder Literaturkritik. Das lässt sich auch daran ablesen, wie Literatur- und Kunstkritik in den Massenmedien, z.B. im Fernsehen, repräsentiert sind. Das von Marcel Reich-Ranicki von 1988 bis 2001 geleitete „Literarische Quartett“ zeichnete sich durch spannende, teilweise hitzige Debatten und oft hohen Unterhaltungswert aus. Und nicht nur Reich-Ranicki, auch andere Personen wie Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek oder Iris Radisch wurden einem breiten Publikum bekannt und standen und stehen für die Zunft der Literaturkritik.

Man wagt es kaum, den Vergleich mit der Sendung „Bilderstreit“ zu ziehen, der Nachahmung des „Literarischen Quartetts“ für den Bereich der Bildenden Kunst. Der kürzlich eingestellte „Bilderstreit“ erreichte nicht ansatzweise die Popularität des „Literarischen Quartetts“, und das mit guten Gründen. Hier gab es kaum spannende Wortgefechte, die Ansichten über verschiedene Künstler wurden oft relativ unbegründet kundgetan oder kamen gar als bloße Geschmacksurteile daher („Als Maler ist Kippenberger schon großartig, aber seine Installation finde ich doch eher abstoßend“). Und bevor im Detail argumentiert werden konnte, wurde die Diskussion stets abgebrochen, um zur nächsten auf dem Plan stehenden Schau überzuleiten, beispielsweise von Caspar David Friedrich zu Bruce Nauman, was an Monty Pythons „and now for something completely different“ erinnert. Auch gingen die kritische Auseinandersetzung mit dem/r jeweiligen Künstler/in und die Analyse der Ausstellung, in der seine/ihre Kunst gezeigt wird, was ja zwei verschiedene Paar Schuhe sind, beliebig ineinander über.

Das mag auch daran liegen, dass fast keine der Personen, die hier auftraten, um vor einem breiten Publikum die „Kunstkritik“ zu repräsentieren, professionell und überwiegend als Kunstkritiker tätig ist. In erster Linie hatte man es mit amtierenden oder pensionierten Museumskuratoren und -direktoren zu tun. Doch es gibt immer noch professionelle Kunstkritiker, die uns mitreißen können, auch wenn wir ihr Urteil nicht teilen, oder mit Verve versuchen, der oft behaupteten Kriterienlosigkeit bei der Beurteilung heutiger Kunst entgegenzuwirken. Beispiel 1: Robert Hughes, langjähriger Kritiker des New Yorker Time Magazine, schrieb 1982 einen Artikel, in dem er darlegte, warum er Andy Warhol für maßlos überschätzt hält. Bedeutung und Tiefsinn werde vielen Werke Warhols von außen angedichtet. Seine Bedeutung liege vor allem darin, dass er „der erste amerikanische Künstler (war), für dessen Karriere Publicity unabdingbar war.“ Statt Warhols vermeintlicher Oberflächlichkeit konservative Maßstäbe entgegenzuhalten, die seine Suppendosen oder Marilyns nicht erfüllen, geht Hughes seine Kritik von der Popularität Warhols her an, die er auf raffinierte Weise relativiert:

„Dass Warhol ein berühmter Künstler ist, ist ein Gemeinplatz. Doch welcher Art von Berühmtheit erfreut er sich? Wenn der berühmteste Maler Amerikas Andrew Wyeth ist und der zweitberühmteste LeRoy Neiman (Hugh Hefners Hofmaler, Erfinder des Playboy-Bunnies und Zeichner von Footballstars für CBS) dann kommt Warhol an dritter Stelle. Wyeth: weil sein Werk zwar durch Nostalgie verklärte, doch in realen Gegenständen konkretisierte simple Rechtschaffenheit suggeriert, in der Millionen von Leuten das verlorengegangene Mark der amerikanischen Geschichte sehen. Neiman: weil Millionen von Leuten Sportprogramme schauen, Playboy lesen und jedes oberflächliche Geschmiere schlucken, solange es nur von ein paar klar erkennbaren straffen Möpsen geschmückt wird. Aber Warhol? Wie groß ist das Publikum, das sein Werk mag oder es gar aus erster Hand kennt? Groß. Und es wird immer größer: aber nicht so groß wie das von Wyeth oder Neiman. Für die meisten Leute, die seinen Namen kennen, ist es ein Name, der mit einer fernen Museumskultur überliefert wurde und mit einem einprägsamen Gesicht verbunden ist: ein gefeuerter Lateinlehrer mit einer bleichen Kunsthaarperücke, der Mann, der Suppendosen malt und die vielen Filmstars kennt.“

Doch Warhol sei nie ein wirklich populärer Maler gewesen, denn das setze voraus, „dass man als ein gewöhnlicher (und somit beispielhafter) Mensch gesehen wird, der außergewöhnliche Dinge hervorbringen kann. Warhols öffentliche Rolle in den letzten zwanzig Jahren war das genaue Gegenteil: eine abnorme Gestalt (wortkarg, homosexuell, außerordentlich präsent, doch undurchsichtig und ein wenig feindselig), der das Triviale preist (...). Doch kein Massenpublikum hat sich je bei seinen Arbeiten wohl gefühlt. Die Leute denken, jemand, der keine besonderen Vorlieben hat und auf alles mit demselben ‚Äh, wow, toll‘ reagiert, müsse wohl etwas hohl sein.“

Anstatt seine Abneigung gegen Warhol konservativ zu begründen, dreht Hughes die Argumentation dahin, dass Warhols Streben nach Popularität an eine zwangsläufige Grenze stößt, weil er keine konservativen Werte befriedigt. Und wenn wirkliche Popularität und Konservatismus einander bedingen, legt Hughes letztlich nahe, dass der seiner Meinung nach vor allem nach Publicity und Prominenz strebende Warhol eigentlich ein Konservativer ist.

Hughes ist ein geschickter Rhetoriker, manchmal ein wenig Moralist und Mahner, aber kein Didaktiker. In diesem Gewand tritt – Beispiel 2 - der rund 30 Jahre jüngere Hanno Rauterberg, Kunstredakteur der ZEIT, immer dann auf, wenn er gegen die vermeintliche Beliebigkeit und Kriterienlosigkeit bei der Beurteilung zeitgenössischer Kunst zu Felde zieht. So hat er vor zwei Jahren ein Buch veröffentlicht, das auch einem breiteren Publikum Kriterien zu vermittelt sucht, mit denen man selbst erfolgreich „eine Qualitätsprüfung“, so der Untertitel des Buches, vornehmen kann.

Ein Abschnitt seines Buches widmet sich der Gefahr, dass Kunst in Kitsch abgleitet, und hier kommt überraschenderweise Luc Tuymans vor: „...nicht nur Überdeutlichkeit (...), auch allzu große Undeutlichkeit erweist sich leicht als Kitsch. Der belgische Maler Luc Tuymans zum Beispiel, von vielen als Ausnahmekünstler gefeiert, malt oft trübe Bilder, wie nebelverhangen sehen sie aus. Gern belässt es Tuymans bei Andeutungen, beim Unbestimmten: Kanarienvogel und Blumentopf, ein finsterer Herr mit Sonnenbrille und die Kreuzigung Christi, das Banale wie das Gewaltige, alles verschwimmt im Ungefähren. Er hat auch die Gaskammer eines Konzentrationslagers gemalt oder Albert Speer, den Architekten des Führers, beim Skilaufen. Das scheint seine Ernsthaftigkeit zu bezeugen, viele unterstellen seiner Kunst eine tiefere Absicht. Doch gerade weil Tuymans seine Motive fast ausnahmslos in eine Sphäre der Unbestimmtheit überführt, wird die Vagheit zur Masche. Seine Bilder raunen, sie laden ein zu wohligem Schauder, jeder darf in sie hineinprojizieren was er möchte. Auch so kann Kitsch aussehen.“

Wem Tuymans’ bedeutungsschwangeres Geraune auch schon seit längerem auf die Nerven geht, der freut sich natürlich, das so vehement niedergeschrieben zu lesen. Aber wenn es Rauterbergs Absicht ist, den Leser Qualitätsmaßstäbe transparent zu machen, bleibt die Frage, welche nachvollziehbaren Kriterien der Autor hier liefert. Hätte er nicht wenigstens an einem Beispiel beschreiben müssen, wie Tuymans z.B. mit einer Bildvorlage umgeht und wie es zu der Undeutlichkeit kommt, die er anprangert? Und kann Undeutlichkeit nicht auch ein positiver Wert sein und wie ließe sich das von Tuymans’ Vorgehen abgrenzen? Geht dem Autor hier nicht doch die Lust durch, einen ungeliebten Künstler in die Pfanne zu hauen, und lässt ihn seine didaktischen Absichten vergessen? Tuymans Kitsch zu unterstellen, bedeutet, den Gefühlen, die seine Bilder suggerieren, nicht zu trauen. Kann aber dieses Problem nicht auch bei einer Kunst auftreten, bei der man sich kaum traut, den Begriff „Kitsch“ in den Mund zu nehmen?

Das Anliegen der mexikanischen Künstlerin Teresa Margolles, auf die hohe Kriminalität und Mordrate in ihrer Heimat mit künstlerischen Mitteln hinzuweisen, ist prinzipiell zu begrüßen und an der Ernsthaftigkeit der Absicht muss man nicht zweifeln.

Die Wirkung von Margolles’ Werken beruht wesentlich darauf, dass sie Substanzen, wie Blut oder Fett verwendet, das von Leichen stammt, oder Wasser, mit dem tote Körper im Leichenschauhaus gewaschen worden sind. Bei der Installation „Freier Fall“ von 2005 tropft hellbraunes Fett im Abstand von je einer Minute auf den Boden herunter. Bekäme man die Information nicht, dass es sich um das Fett von Mordopfern aus einem Leichenschauhaus handelt, würde man das Werk vielleicht für eine mittelprächtige Hommage an Joseph Beuys’ Fettaktionen halten. Andere Werke erinnern auf den ersten Blick an die Schüttbilder von Hermann Nitsch.

Das Problem ist hier, dass auch eine scheinbar unmittelbar dem Schrecken des Realen verbundene Kunst ihre Wirkung auf einer Bedeutungskonstitution aufbaut. Dass das Fett wirklich von Leichen stammt, mögen wir der Künstlerin ja gerne glauben und es mag ja auch nachweislich so sein. Als Betrachter können wir es aber nicht nachprüfen, ähnlich wie beispielsweise die Tatsache, dass die echt aussehenden Gegenstände, die wir bei Fischli & Weiss nur aus gewisser Distanz sehen dürfen, aus Polyurethan sind. Vielleicht sind Margolles’ so existentialistisch daherkommende Werke solch schalkhaftem Umgang mit dem musealen „Bitte nicht berühren“ viel näher, als es der Künstlerin wohl selbst recht wäre. Manche mögen diese Herangehensweise an Margolles’ sehr ernsthaftes und sich mit tragischen Tatsachen befassendes Werk für unangemessen und vielleicht sogar geschmacklos halten. Aber genau an solche Grenzen zu gehen, sollte einer Kritik, die sich darum bemüht, nahe an der Kunst zu sein, nicht nur gestattet sein, sondern es sollte von ihr gefordert werden.

Ich ziehe eine Kunst, die sich auch auf gefühlsmäßige Ambivalenzen einlässt, meist einer Kunst vor, die dazu tendiert, vorgefasste moralische oder politische Ansichten zu illustrieren. In den Ruf nach einer heute zu selten gewordenen Kunstkritik, die eindeutig wertend und auf unterhaltsame Weise polemisch ist, möchte ich deshalb nur bedingt einstimmen. Ich schließe mit einer Abwandlung des Eingangszitat von James Elkins: Damit sie wirkungsvoll ist, sollte Kunstkritik leidenschaftlich, polemisch und wertend sein (wie die Kunst selbst), aber erst dann, wenn sie auch Sinn für Nuancen und Ambivalenzen zeigt, ist sie wirklich gut (und auch das trifft auf die Kunst selbst genauso zu).

Ludwig Seyfarth

Gekürzte Fassung eines Vortrages von Ludwig Seyfarth an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe und an der Kunsthochschule Kassel, Juli 2009

James Elkin (© www.jameselkins.com)
Isabelle Graw (© Heji Shin)
Marcel Reich-Ranicki bei „Wetten dass?“, 2008 (© the authors)
Clement Greenberg (© Hans Namuth)
Julian Heynen (© www.blindenhilfswerk.com)
Robert Hughes (© www.randomhouse.com.au)
Hanno Rauterberg (© www.baunetz.de)
Ludwig Seyfarth während der Preisverleihung des Kritikerpreises der ADKV, 2007 (© the authors)
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