Social Fabric

ifa-Galerie

2013:Dec // Elke Stefanie Inders

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12-2013
















Verwobene Machtbeziehungen im Sozialgefüge
/ "Social Fabric. Die Globalisierung der Textilwirtschaft" in der ifa-Galerie

Kaum jemand weiß noch, dass das Paisleymuster, heute ein ornamentaler Klassiker, durch englische Soldaten aus den indischen Kolonien nach Europa gelangte und dann seinen Siegeszug durch die Modewelt antrat. Oder dass der Name des überaus strapazierfähigen Gewebes Chintz aus dem Hindi stammt. Man kann den Chintz als Sinnbild für den globalen Textilhandel lesen; als ein von Anbeginn dicht verwobenes System asymmetrischer Machtbeziehungen mit Hochglanzoberfläche zwischen Europa und seinen Kolonien. Torpediert wurde dies durch die europäische Kolonisation in der Neuzeit, die den Ressourcenabbau und die Sklaverei in den Kolonien einführte und im Gegenzug dazu, geschützt durch den Protektionismus, kunstvolle und qualitativ hochwertige Stoffe in den eigenen Ländern einführen konnte. Die technologische Überlegenheit der britischen Kolonialmacht und die industrielle Revolution hatten überdies dazu beigetragen, dass wir heute auf eine einmalige Vielfalt von Stoffen und Textilien zurückgreifen können.
„Social Fabric“, konzipiert vom Institute of International Visual Arts in London (INIVA) und kuratiert von Grant Watson, untersucht anhand ausgewählter Aspekte diese Geschichte.
Die Ausstellung ist in zwei Archive und Projekträume aufgeteilt, in denen unterschiedlichste Dokumente, Schriftstücke, Zeitungsannoncen sowie Gemälde, Zeichnungen, Tondokumente, Installationen oder typisch indische Textilmuster vom Betrachter regelrecht recherchiert werden können. Die informative Überfrachtung ist einerseits ein Angebot zur selektiven Wahrnehmung, andererseits ist darin auch das scheinbare Problem der Ausstellung angelegt: Man weiß nicht so recht, womit man anfangen soll. Erst den Marx’schen Zeitungsartikel aus dem „New York Daily Tribune“ lesen oder besser das augenfälligste Exponat der Ausstellung, den „Apparat zum osmotischen Druckausgleich von Reichtum bei der Betrachtung von Armut“ von Alice Creischer (2005) inspizieren, der derartig komplex und auf den ersten Blick kryptisch gestaltet ist, dass man erneut verwirrt ist? Die Arbeit ist wie ein optischer Apparat aufgebaut, in dem sich verschiedenste Rosetten zu drehen scheinen. Bilder, Bilanzen, Statistiken und Protokolle von Untersuchungsausschüssen, Vorgänge im kolonialen Indien oder in Argentinien, die gedruckt, appliziert und collagiert wurden, verweisen auf Gedanken und Überlegungen der Künstlerin, die, als fast schon absurd wirkende Freiheitskämpferin, im Mittelpunkt dieser Apparatur sitzt. Creischer reflektiert sozusagen ihre eigene Rolle als Beobachterin dieser Vorgänge und Gedanken, die wie durch eine fragile Membran durch sie hindurch diffundieren, und verweist damit gleichermaßen auf die eigene Verstrickung und Rolle angesichts des Verhältnisses von Reichtum und Armut. Wer die Überlegungen Creischers weiter verfolgen möchte, kann dies im „Archiv 1 – Baumwolle“ tun, hier werden Produktion und Konsum von Textilien anhand des Baumwollhandels zwischen Ost und West dargestellt, der vorrangig von sozialen und ökonomischen Umbrüchen geprägt ist. Archana Handes Bildrolle „Girangaon“ (2009) erzählt in chronologischer Reihenfolge die Geschichte dieser Umbrüche, die einst vom Takt der ländlichen Umgebung geprägt war und sich schlussendlich im urbanen Umfeld dem Rhythmus der Fabrikuhren anpassen musste. Eine entscheidende Rolle innerhalb des Baumwollhandels spielte die „British East India Company“, die den kulturellen Transfer von Motiven, Waren und lokalen Stoffdrucktechniken zwischen der kolonialen Welt und Indien beförderte, allerdings als Dialog mit ungleichen Partnern, was sich bis in die heutige Zeit fortschreibt. Die Aneignung und Reproduktion von Stoffen sowie die durch die Industrialisierung initiierte Produktionssteigerung für britische Baumwollstoffe bedeutete zwar Fortschritt und Wohlstand, aber auch die Landflucht von Arbeitern und enttäuschte Erwartungen angesichts der Arbeitsbedingungen in den Fabriken. Sudhir Patwardhans naiv anmutendes und Raum einnehmendes Gemälde „Lower Parel“ (2001) zeichnet einen der wichtigsten Punkte in dieser Geschichte auf, als 1982/83 indische Textilfabrikarbeiter ihre Arbeit niederlegten und damit den längsten Streik in der indischen Geschichte begründeten. Die Konsequenz dieser kapitalistischen Logik sieht man heute in dem indischen Viertel Parel, einem Stadtteil in Mumbai: Parel gehört heute zu den weltweit sich am schnellsten entwickelnden Stadtteilen und gilt derzeit als absolut „posh“. Kommerzielle Interessen weniger Geschäftsleute, die Grund und Boden gewinnbringend an Investoren veräußern, um Luxusappartements und Einkaufscenter hochzuziehen, stehen den Interessen einer großen Gruppe von Menschen aus der Arbeiterklasse gegenüber. In den Kohlezeichnungen Patwardhans zu „Lower Parel“ (2001/2002), die Assoziationen an die Kohlezeichnungen von Käthe Kollwitz zum Weber­aufstand wecken, werden die fatalen Auswirkungen dieser Entwicklungen noch deutlicher. Das „Archiv 2 – Textilindustrie“ vertieft diese Geschichte der ungleichen sozialen und ökonomischen Beziehungen noch weiter und geht bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, bis zur industriellen Revolution in Indien zurück, die mit der Textilproduktion in Mumbai begann. In dem Buch „One Hundred Years One Hundred Voices: The Millworkers of Girangaon“, herausgegeben von Meena Menon und Neera Adarkar, wird die Geschichte aus der Sicht von Fabrikarbeitern, politischen Aktivisten und Gewerkschaftlern erzählt. Zusammen mit diesen Aufnahmen wird Patwardhans Gemälde als „soziales Dokument“ besser verständlich.
Als solches ist die Ausstellung „Social Fabric“ auch unbedingt zu lesen: als ein soziales Dokument und Archiv, das auf die, historisch bedingten, problematischen und oftmals menschenverachtenden Produktionsbedingungen hinter der gesamten glamourösen Modewelt hinweist. Und das genau zum richtigen Zeitpunkt, denn erst kürzlich, Ende April 2013, stürzte in Bangladesh eine Textilfabrik ein und mehr als 1000 Menschen starben in den Trümmern. Schuld daran war ein profitgieriger Hausbesitzer, der sich über sämtliche Vorschriften und Gesetze hinwegsetze. Auch für Berliner Fashion-Week-Besucher wäre diese Ausstellung ein wunderbares Kontrastprogramm gewesen. Zwar sieht sich die „Fashion Week“ zunehmend verpflichtet, mehr Modelabels einzubinden, die ökologisch und sozial gerecht produzieren, aber Modeindustrie und faire Produktionsbedingungen gehen noch längst nicht Hand in Hand, denn zu schön und hochglänzend poliert ist das Image dieser Branche.
„Social Fabric“ weist ohne moralischen Zeigefinger auf die weit in die Geschichte zurückreichende Verwicklung und die hierarchischen Beziehungsgefüge zwischen Kolonialisierten und Kolonialherren innerhalb des globalen Textilhandels sowie auf die Aktualität dieses Problems hin. Denn nach der Devise „unser Wunsch sei ihnen Befehl“ oder „Geiz ist geil“ soll Kleidung zu Dumpingpreisen erhältlich sein. Kleidung ist mitunter billiger als Nahrung geworden. Und wie kommt es, dass ständig überall pre-, mid- oder sonst was für ein sale ist? Und auch wer glaubt, dass er den unter- oder nicht bezahlten Textilarbeitern etwas Gutes tun würde, wenn er nicht mehr bei H&M, Zara und wie sie alle heißen, einkaufen würde, sondern im Mittel- und Hochpreissegment, dem sollte ein Blick auf das Kleidungsetikett eines Besseren belehren: Fast alle produzieren sie in Fernost, bzw. in Billiglohnländern. Es ist die Ausnahme – und das gilt für die gesamte Textilindustrie, dass sich Einkäufer für gerechte Produktionsbedingungen entscheiden. Zu hoch seien angeblich die Lohnkosten und zu gering falle die Gewinnmarge dementsprechend aus. Man weiß inzwischen, dass dies Schutzbehauptungen der Global Player im Textilhandel sind. Mode ist im kommodifizierten Kapitalismus ein zunehmend ausdifferenziertes soziales System von in- und exklusiven Distinktionsmerkmalen geworden, das individuelle Selbstentwürfe und kollektive Trends determiniert und exakt die Ausblendung von industriellen Produktionsbedingungen innerhalb der Modewelt reproduziert, an der man selber beteiligt ist. Genauso löchrig und porös wie Creischers fragile Apparatur verlasse ich die Ausstellung und als ein von Kindheit an modeaffiner Mensch frage ich mich, inwiefern mich die mögliche elterliche Entscheidung, für einen Textilkonzern in Asien zu arbeiten, beeinflusst hätte.

„Social Fabric“, ifa-Galerie, Institut für Auslandsbeziehungen e.V., Linienstrasse 139/140, 10115 Berlin, 5.7. – 15.9. 2013
Apparat zum osmotischen Druckausgleich von Reichtum bei der Betrachtung von Armut, 2005, Courtesy KOW (© Alice Creischer)
Bedruckter Bettüberwurf, spätes 19. Jh., Courtesy Joss Graham (© )
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