Tagebuch

/ aus dem Berliner Spätsommer und Herbst

2010:Dec // Einer von hundert

Startseite > Archiv > 11-2010 > Tagebuch

11-2010







6. August, Oranienplatz

Während der Berlin-Biennale, wer kann sich daran überhaupt noch erinnern, komme ich immer wieder am Oranienplatz vorbei. Und eigentlich jedes Mal habe ich den gleichen Gedanken: Vor der Tür ist es viele tausend Mal interessanter und authentischer als in der Ausstellung. Und nicht so fürchterlich verklausuliert. Die Kunstdenke der Kuratoren ist sehr angestrengt. Viele hundert Male hat man jetzt schon ausgegrenzte Menschen und fremde Völker auf endlosen Fotowänden und endlosen Videos mit schwierigen Umständen kämpfen sehen. Eine gute Ausstellung kann aus solch monokultureller Sichtweise schlechterdings nicht werden. Da fehlt der erheiternde Kontrapunkt. Die Welt ist ja nicht nur schwarz, oder? Ich fand’s todlangweilig und wünsche allen Betroffenheitskünstlern den heilenden Umzug ins dokumentarische Fach oder ins Fernsehen. Ich habe dann auch immer nur die pickeligen G8-Touristen in der Gegend rumschlurfen sehen, die Kreuzberg aber alle ziemlich cool fanden, Berlin-Biennale hin oder her. Aber die Frage muss erlaubt sein: Was in Gottes Namen hat die Berlin-Biennale eigentlich mit Berlin zu tun, dem Zentrum der europäischen Kunstproduktion, aber die Künstler kommen alle vom Balkan? Für mich war die allererste Biennale die einzig gelungene. Herzliche Grüße von der Ecke Adalbert-/Oranienstraße, der heißesten Ecke Europas. Einfach mal hingehen und fünfzehn Minuten die Passage beobachten. Ein Traum.

7. September, Haus der Kulturen der Welt

Bei der Auftaktveranstaltung zum Projekt „Über Lebenskunst“, das sich dem nachhaltigen Leben in Berlin widmet, sitzen ca. 400 eingeladene Gäste an langen Tafeln im großen Ausstellungsraum und warten auf das regionale Essen. Kurz nach Beginn der Rede von Hortensia Völckers (Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, die Initiatorin des Projekts ist) geht die Hintertür auf und 20 scheinbar nicht geladene Gäste betreten den Raum, stehen etwas unschlüssig zwischen den Tischen und entrollen ein Banner: „Die Kunst des Überlebens mit Frau Völckers … Linienhof bleibt!“ Der in der Situation performativ wirkende Auftritt der Sympathisanten und Aktivisten des Linienhofs, der Nutzergemeinschaft auf einem Gelände zwischen Linien- und Rosenthaler Straße, hat (stadt-)politischen Hintergrund. Die verteilten Flyer erklären, dass Frau Völckers Mitglied einer Baugemeinschaft ist, die das Grundstück an der Rosenthaler gekauft hat – die Zeit des Linienhofs ist mit dem geplanten Bauvorhaben vorbei. Mit der Ausrichtung des Initiativprojekts der Bundeskulturstiftung, das explizit Freiräume in der Stadt für nachhaltiges Handeln fordert, eine pikante Angelegenheit. Unter den Gästen macht sich allgemeines Unwohlsein breit und am Tisch taucht die Frage auf, ob man unter diesen Umständen überhaupt am Projekt teilnehmen kann. Irgendwann kommt der Abend wieder in geregelte Bahnen, aber die Störung wirkt nachhaltig.

10. September, hinterm Hamburger Bahnhof

Saisoneröffnung in der Heidi-Straße. Hammermäßig viel Volk. Alle Ausstellungen mäßig. Nur Heike Gallmeier bei Wendt+Friedmann super. Theatralisch-wackeliger Einbau. Feine Poesie. Müsste viel bekannter sein.

10. September, immer noch hinterm Hamburger Bahnhof

Ich werfe einen Blick in einen Pressetext und lese „... schafft sie einen Ort, der uns über die Grenzen von Zeit, Raum und Geographie hinaus führt.“ So einen Ort kann ich mir eigentlich nur unter ganz massivem Drogeneinfluss vorstellen.

17. September, schon wieder hinterm Hamburger Bahnhof

Ich schlendere ziellos in der Welt herum und komme aber so was von zufällig bei Haunch of Venison vorbei. Drinnen denke ich sofort: Hätte ich wohl den ganzen Haufen Geld gehabt, den John Lennon seiner Frau hinterlassen hat, dann hätte ich es mir auch erlauben können über 30 Jahre lang nur Kack-Ausstellungen zu machen, so wie Yoko Ono, und trotzdem wäre ich noch immer relativ beliebt bei den Galeristen, weil mich mein Reichtum in Verbindung mit meiner grundblöden Einstellung zu allem und jedem und mein unerträgliches Diven-Gehabe zur Ikone von was auch immer gemacht hätten. Verstehe einer die Mechanismen der Kunst/Gesellschaft/des Geldes. Autsch, war die Ausstellung doof. Kennt irgendjemand überhaupt eine Arbeit von Yoko Ono? Egal ob schlecht oder gut, irgendeine! Außer die, wo sie mit einem Genie für ein paar Tage im Bett rumlümmelt und was von Peace and Love nuschelt.

26. September, zuhause

Es ist Sonntagabend und ich sehe, like many of you, einen Tatort in der ARD, der in der Kunstszene Berlins spielt (spielen soll!). Ich bin entsetzt über so viel Unkenntnis und Naivität eines Drehbuchautors und einer Redaktion. Waren die jemals in einer Galerie, kennt einer von denen einen einzigen zeitgenössischen Künstler? Das ist so übel und klischeehaft übersetzt, dass ich mich plötzlich wieder super fühle als Gebührenverweigerer. Aber das ist ja leider bald vorbei. Shame on you, ARD.

7. Oktober, Markthalle

Quick and dirty. Was war das? Erst immer wieder Mails in denen Künstlerfreunde ihren engen Favoritenkreis ­offenbarten und Mini-Social-Networks über mehrere Kettenmails rückverfolgbar machten, dann ein ominöser „Curator“ der die absolute Demokratie ausrief, aber aus den 2500 Mails, nur ein Kuratorenteam zusammenstellte. Also doch nur repräsentative Demokratie, oder wie? Scheinbar trat die erste Wahl der ernannten Kuratoren gleich wieder geschlossen zurück, weil Mr. Curator ihnen aus den eingesandten Bewerbungen doch wieder nur eine vom ihm verlesene Auswahl präsentierte. Man lernt daraus, schnelle Netzdemokratien verkommen in Nullkommanix zu schmutzigen Bananenrepubliken. Die Ausstellung war dann auch eher sosolala.

8 . Oktober, Messegelände

Gerwald Rockenschaub gilt nicht umsonst als der bestangezogene Künstler Berlins und möglicherweise des gesamten deutschsprachigen Raums. Ich sah ihn kürzlich beim Art-Forum-Aufbau im allerfeinsten Zwirn mit ganz spitzen Fingern eine mehrteilige Skulptur aufbauen. Respekt!

10. Oktober, Messegelände

Da denkst du, jetzt setzt sie zum Sprung an – und dann das. Werke Anna Oppermanns und Jo Baers, die sich ihren Platz im kunsthistorischen Pantheon ebenso verdient haben, wie diese Kunst immer noch weiter nach vorne kickt, als so manches Jungspundtalent, sie wurden in zwei kürzlichen Soloausstellungen bei Barbara Thumm erstaunlich souverän gezeigt. So auf den Punkt hat man diese Galerie länger nicht gesehen. Doch was ist von einer galeristischen Perspektive zu halten, die sich in ihrem Messestand zum diesjährigen, strukturell ohnehin alles andere als selbstverständlich aussehenden Art Forum wie folgt niederschlägt. Da hängen solche Kunstkaliber wie Baer und Oppermann unterschiedslos neben ebenso ähnlich wie gesichtslos aussehender Verkaufsflachware. Da herrscht, anstelle präziser Differenzierung und Tiefenschärfe, der dekorative Gleichklang des Derivativen. Da sagst du „Vielen Dank!“

24. Oktober, Tauentzienstraße

Ich bin im KaDeWe auf der Suche nach einem schmalen Herrengürtel, es gibt ja nur noch diese klotzigen Dinger, am schlimmsten sind ja die, wo vorne der Name der Firma aufgedruckt ist, ja, was denken die sich denn dabei, das ist ja wohl total prollig, das kann und will doch niemand tragen, na, jedenfalls laufe ich da im Eingangsbereich rum und sehe die große illy-(Kaffee)-Sonderaktion mit Lounge und allem Pipapo, sie nennen es Galleria illy und die ist, echt, wirklich, ich kann es gar nicht glauben, von Tobias Rehberger gestaltet, inklusive einer Sonderedition Espressotassen und Kaffeedosen, es ist an Peinlichkeit gar nicht mehr zu überbieten, ob der das denn nötig hat frage ich mich sofort, bin dann aber auch schnell neidisch und denke: warum eigentlich nicht, der Kommerz frisst halt alles und man soll nicht immer so bockig sein, aber was mich als Künstler dann doch irgendwie stören würde, das wäre der Text, den sie in ihrem Werbeblättchen eingedruckt haben, denn der geht so: „…wurde Rehberger mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Eine Kooperation mit illy bildet den künstlerischen Schwerpunkt im Jahr 2010: die illy Art Collection wurde mit dekorativen Espressotassen und -dosen erweitert. Zusätzlich steht die künstlerische Gestaltung der Galleria illy im Blickwinkel des Künstlers. Die Ausstellung findet dieses Jahr gleich in zwei Weltmetropolen statt: Berlin und Istanbul.“ Wenn das wahr ist!?

24. Oktober, Haus der Kulturen der Welt

Galeristen-Don Jörg Johnen, Künstler Mathias Poledna, Texte-zur-Kunst-Mitbegründerin Isabelle Graw mit Lebengefährtem Markus Müller, der frisch gebackene TzK-Redakteur Sven Beckstette, Szene-It-Girl Marieta Chirulescu, verschiedene prominente artnet-Mitarbeiter, Wahlberliner Burk­hard Riemschneider, das Künstlerpaar Claudia Wieser und Bernd Ribbeck, aber auch die ausgewiesenen Musikkenner und Professoren Tom Holert und Diedrich Diederichsen…, ein illustreres Publikum kann man sich selbst für manches Premiumkunstevent kaum vorstellen. Mit Blick auf den Anlass allerdings kein Wunder. Minimal-Music-Pionier Terry Riley war in der Stadt und hatte zum Jubiläumsständchen geladen. Zusammen mit dem Saxophonisten Gerry Brooks sowie dem Tabla-Spieler und Percussionisten Talvin Singh feierte Riley seinen 75-jährigen Geburtstag, ziemlich passend, mit einem fast zweistündigen Konzert im Haus der Kulturen der Welt. Gegen die Krise des Minimalismus, zeigt der Fall Riley, hilft mitunter ein bisschen Weltmusik.

27. Oktober, Mehringdamm

Bei Gruppenausstellungen wird es immer dann schwierig, wenn der Wille nach Durchsetzung einer kuratorischen Idee die versammelten Kunstwerke dominiert und am Ende lediglich zur Illustration dieser Idee instrumentalisiert. Als Anschauungsbeispiel für diese These kann man die aktuelle Show „My lonely days are gone“ bei Arratia, Beer (www.arratiabeer.com) ins Feld führen. Kuratiert von Arturo Herrera, werden hier zehn ungegenständliche, eigens für die Räumlichkeiten der Galerie entwickelte Wand- und Bodenarbeiten von überwiegend guten bis sehr guten Künstlern präsentiert, die sich aber dank der Vision des Kurators so gewaltig Konkurrenz machen, ja, sich dermaßen überlagern und dabei gegenseitig derart schwächen, dass man, bei aller sichtbaren Mühe und Qualität des einzelnen Werks, nicht von einer gelungenen Ausstellung sprechen kann. Zu bunt, zu durcheinander, zu durchschaubar. Der allererste Eindruck erinnert leider an das schwedische Möbelhaus, wo (Wohn-)Räume auch immer mit witzigen Fußbodenmustern und quitschbunten Wandfarben daherkommen. Obwohl so natürlich niemand auf der ganzen Welt leben kann/will/muss. Eine klassische Inszenierung hätte vielleicht doch etwas mehr Kraft entwickelt. Mein Fazit: Gescheitert. Obwohl der Pressetext mit gewohnt pressetexthaft verschwurbelten Formulierungen bemüht ist, dem entgegenzuwirken: „… überdenken sie (die Künstler) die normalerweise passive Rolle der Wand als einen Ort, der nur dafür da ist, Werke zu hängen… Die Präzision der formbaren Sprachweise des Ausstellungskonzeptes erlaubt es, abbildhafte, theoretische und abstrakte Bildstrategien nebeneinander und ineinandergreifend zu präsentieren. In einer Zeit fundamentalen Wandels stellt Abstraktion nach wie vor alternative Realitätsebenen und Quellen dar…“ Da hätte ich noch drei Fragen: 1. Kann eine Wand aktiv sein? 2. Was ist eine formbare Sprachweise? 3. Welcher fundamentale Wandel?

1. November, Mitte

Das klingt nach einem größeren Verlust für die die Kunstkritik. Gerrit Gohlke und Astrid Mania verlassen gemeinsam die Plattform artnet-Magazin. Unter ihrer Regie mauserte sich das Magazin zum Besten was man im deutschsprachigen Raum lesen konnte. Ihre Nachfolgerin Henrike Freifrau von Spesshardt wird die Lücke schwer füllen können, war sie bisher lediglich für die Dossiers „Auktionsberichte“ und „Kunst und Recht“ zuständig und machte sonst die Berichterstattung von größeren Kunstevents. Das sieht nach Kurswechsel aus. Zumal der Abschiedstext der beiden Redakteure pünktlich zum Stabwechsel nicht mehr online aufzufinden war. Das sieht nicht gut aus….

4. November, im Hamburger Bahnhof

Oh wow, das macht was her. Im Hamburger Bahnhof zog ein Rentierzoo ein, nebst obskuren Fliegenpilzfütterungen und abgezapftem Rentierpipi. In der Mitte thront ein futuristischer Fliegenpilzpavillion mit aufgebahrtem Bett. Die erste Nacht verbrachte dort Francesca von Habsburg, als Käuferin des Bettes musste sie bestimmt nicht die sonst fälligen 1000 Euro zahlen. Hat eigentlich jemand Matthew Barney Bescheid gesagt, der könnte das doch filmen? Die Habsburg rentierurintrinkend im symmetrischen Bühnenbild thronend, die Kanarienvögel zwitschern und dann kommt Matthew im Vogelgewand…

5. November, wieder im Hamburger Bahnhof

… aber man muss nicht Rentierurin trinken, man muss gar nicht zwischen Vögeln und Rentieren schlafen. Man muss nur einfach eine Eintrittskarte lösen und sich in die Haupthalle des Hamburger Bahnhofs begeben. Dort lasse er oder sie sich nieder im Angesicht der Rentiere und schaue dabei zurück. Mit der Zeit empfindet man eine gewisse Ruhe, begleitet von dem Gezwitscher der Vögel oben drüber. Im Übrigen gibt es keine Ausflucht, nur den Richtung Ausgang. Die Rieckhallen bleiben bis zum 6. Februar geschlossen. Und was dort passiert, bleibt der eigenen Imagination überlassen: Jeder sein/e eigene/r Künstler… oder Künstlerin.

7. November, Strausberger Platz

Wenn Gisela Capitain, wie erzählt wird, Köln zugunsten einer Berliner Vollzeit- und Capitain-Minus-Petzel-Galerie zumacht, dann können die da drüben am Rhein echt froh sein, dass sie immer noch eine Messe – immerhin mit mehr und mehr Berliner Zulauf – haben.

9. November, Heidestraße

Ich werfe einen letzten Blick in einen Pressetext und lese „… eine schwebende Welt, gehalten durch eine völlig andere Art der Verbindung: Helium-Gas, welches Ballons in Form von Nullen füllt – Formen, die gleichzeitig Assoziationen mit Kreise, Löcher, Fluchtwege oder Neuanfänge wecken.“ Da hat sich in der Pressestelle wohl leider eine Helium-Fluchtwege-Null selbständig gemacht.
„Illy Art Collection“ (© Tobias Rehberger)
Berlin Kreuzberg (© Andreas Koch)
Szene aus dem Tatort „Die Unmöglichkeit, sich den Tod vorzustellen“ (© rbb 2010)
Carsten Höller „Soma“, 2010, Installationsansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin (© Attilio Maranzano (Ausschnitt))
Gerwald Rockenschaub (© www.axelspringer.de)
Linienhof (© Andreas Koch)
Microtime für Seitenaufbau: 1.36520695686