Timm Ulrichs

Und die wahre Erfindung von Facebook

2012:Dec // Ludwig Seyfarth

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12-2012



Andy Warhols Reaktion auf einen Brief, den Timm Ulrichs im Dezember 1986 an ihn schrieb, wird die Nachwelt nie erfahren, denn der berühmte Pop-Künstler starb kurz darauf. Ulrichs hatte ihn darauf aufmerksam machen wollen, dass dessen 1986 entstandene Camouflage-Bilder, von Kritikern als originelle Neuinterpretationen des pollockschen Allover-Prinzips gefeiert, ein ganz alter Hut seien. Schließlich hatte Ulrichs selbst bereits seit Mitte der 1960er-Jahre mehrere Werke und Ensembles geschaffen, die auf dem Prinzip der Camouflage-Bemalung beruhten. Das Ensemble „Tarnfarbig gemusterte Natur“ bestand aus einer Kunstlandschaft aus Gras, Sand und Torf. Daneben entstanden diverse einzelne Objekte: ein Tarnanzug, Tarnkappen, ein Tarnzelt, eine Tarnfahne, tarnfarbig angestrichene Baumstämme, eine getarnte Erdkugel, „Das getarnte Frühstück im Grünen“ (als Anspielung auf Manets berühmtes Bild) oder die Idee für eine tarnfarbige große Reklametafel, die 1981 in Köln-Sürth realisiert wurde.
Bei der Vielfalt und Intensität der Auseinandersetzung mit dem Thema hätte Ulrichs es eigentlich verdient, als ‚der‘ Camouflage-Künstler zu gelten. Doch seine verschiedenen Ausmessungen des Tarnfarbenterrains haben nie den Bekanntheitsgrad von Warhols plakativen Werken erreicht.
Timm Ulrichs nennt sich selbst „Ideenkünstler“. Der „konzeptuelle“ Vorrang der Idee vor der Ausführung bringt allerdings auch das Problem mit sich, ständig aufpassen zu müssen, keine Ideen zu wiederholen, die schon längst ersonnen wurden. Wie man damit geschickt umgehen kann, führt einer der erfolgreichsten unter den Künstlern, die heute an die Konzeptkunst und Minimal Art der 1960er- und 1970er-Jahre anknüpfen, exemplarisch vor. Der in Berlin lebende Brite Jonathan Monk wählte den Weg des bewussten Rückbezugs. Sein Werk besteht fast ausschließlich aus bewussten Kommentaren, Referenzen und gezielten Veränderungen künstlerischer Vorbilder.
In Monks „Translation Piece“ von 2002 gilt der Rückbezug Robert Barrys „Telepathic Piece“ von 1969. In Barrys Text „geht es darum, dass er während der Dauer einer Ausstellung ein Kunstwerk telepathisch kommunizieren wird, das als eine Reihe von Gedanken angelegt ist, die weder sprachlich noch bildlich ausgedrückt werden können. Jonathan Monk ließ den englischen Originaltext übersetzen in Französisch, Niederländisch, Tschechisch, Polnisch, Ukrainisch, Russisch, Kasachisch, Mongolisch, Chinesisch und wieder zurück in die englische Sprache. Wie beim Kinderspiel ‚Stille Post‘ kommt der Text am Ende seiner Reise verstümmelt zurück.“ (Ellen Seifermann). Auch bei Barry ging es um eine Art ­„Stille Post“, nämlich die konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Unsichtbaren und Nichtkommunizierbaren. Die Übersetzung des Unübersetzbaren in verschiedene Sprachen ist jedoch eine Ebene, die Monk der Arbeit Barrys hinzufügt. Aber dafür hätte er eigentlich eine zweite Referenz angeben müssen. Sein „Translation Piece“ erinnert nämlich, sowohl was die Idee als auch die äußere Form betrifft, stark an Timm Ulrichs’ Arbeit „Übersetzung“. Zwischen 1972 und 1975 ließ Ulrichs einen Lexikonartikel zum Begriff „Übersetzung“ vom Deutschen ins Englische, dann ins Französische, Spanische, Portugiesische, Italienische, Dänische, Norwegische, Schwedische, Finnische, Polnische, Slowakische, Tschechische, Russische, Bulgarische, Serbokroatische, Mazedonische, Griechische, Türkische, Persische, Arabische, Hebräische, Chinesische, Japanische, Hindi und dann wieder ins Deutsche übersetzen.
Offenbar war das einfacher als mit Barrys Text, denn am Ende kam erstaunlicherweise immer noch etwas Sinnvolles heraus. Insgesamt sind die Übereinstimmungen zwischen Monks und Ulrichs’ Arbeit jedoch groß, auch was die Form betrifft, in der die Übersetzungen als Dokumente präsentiert werden. Gerecht wäre es, bezöge sich Monks „Translation Piece“ auf Barry und Ulrichs, denn eigentlich werden die Werke beider der gleichen Prozedur unterzogen: sie werden aus dem betont selbstreferenziellen Bezugssystem der frühen Konzeptkunst herausgeführt. Vielleicht war Ulrichs’ „Übersetzung“ Monk nicht bekannt. Wenn doch, müsste man ihm unterstellen, die Referenz darauf absichtlich zu unterdrücken oder für nicht relevant zu halten. Das Werk von Timm Ulrichs ist kein Bestandteil des Referenzsystems, auf das sich hippe Konzeptkünstler heute beziehen und damit auf ein verständiges Kopfnicken der einschlägigen Kritiker-, Kuratoren- und Sammlerklientel hoffen können.
Obwohl umfangreich dokumentiert, hat Timm Ulrichs’ Werk, abgesehen von wenigen Ausnahmen wie „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“ (1975) oder die Ausstellung seiner eigenen Person als Kunstwerk, nie eine so große Verbreitung erreicht, dass seine Kenntnis bei der Mehrheit der Künstler und Betrachter vorauszusetzen wäre. Bei vielen ähnlichen Werken anderer Künstler, auch wenn sie bei Kenntnis der ihnen vorausgegangenen Ulrichs-Arbeiten nicht mehr besonders originell wirken, ist ein absichtlicher Ideenklau unwahrscheinlich. Was der internationalen Verbreitung seines Werkes auch im Weg gestanden haben dürfte, ist der umfangreiche Einsatz von Wort und Schrift, denn die zum Einsatz kommende Sprache ist Deutsch und nicht das in der globalisierten Kunstszene dominierende Englisch. Auch kritische Essays zu Timm Ulrichs sind in der Regel nur in deutscher Sprache erschienen. Hier besteht eine gewisse Vergleichbarkeit mit dem Plakatkünstler Klaus Staeck, der in Deutschland sehr bekannt ist, im Ausland jedoch kaum.
Plagiate von Werken, die sie aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht kannten, sind Künstlern kaum zur Last zu legen. Eher müsste man den Kritikern, Kuratoren und Historikern der jüngeren Kunstgeschichte vorwerfen, Ulrichs nur einen Platz als ewiger „Zweitligist“ (siehe dazu Gerda Ridlers Text „Nie mehr zweite Liga!“ in Timm Ulrichs Katalog „Blick zurück nach vorn“)  eingeräumt und nicht rechtzeitig für eine angemessene Präsenz seines Schaffens in einschlägigen Veröffentlichungen gesorgt zu haben. Die Kenntnis längst entstandener Ulrichs-Arbeiten hätte viele Künstler davon abhalten können, sie überflüssigerweise mehr oder weniger identisch noch einmal herzustellen.
Obwohl Ulrichs oft mit vorgefundenem Material arbeitet, das er sich aneignet und nur gezielt verändert, geriet sein Insistieren auf der »Originalität« seiner Ideen in einen merkwürdigen Widerspruch zur postmodernen Kritik an der traditionellen Autorschaft und am Begriff der Originalität. Die Aneignung von Vorgefundenem durch die amerikanische Appropriation Art wurde zur idealen künstlerischen Folie eines theoretischen Denkens, das der Wiederholung, dem Zitat und der Kopie gleichsam den ontologischen Vorrang gegenüber dem nur einmal existierenden Original gab. Zeitgleich mit den amerikanischen Appropriationisten wie Richard Prince, Sherrie Levine oder Louise Lawler trat aber auch der belgische Künstler Guillaume Bijl mit seinen ersten „Transformations-Installationen“, die soziale Räume gefälscht nachbauten, an die Öffentlichkeit. Bijls Vorgehen, so Stefan Römer in seinem Buch über Fake-Strategien in der Kunst, könne „im europäischen Kontext als Analogie zur ‚subversiven‘ Aneignungsweise der Appropriation Art gedeutet werden; ihm fehlte jedoch die Unterstützung eines diskursiven Milieus, wie es die amerikanischen KünstlerInnen erfuhren“.(Ob Timm Ulrichs Guillaume Bijl zu Recht vorwirft, die Idee für die Fake-Ausgrabung einer Kirche in seiner „Archaeological Site“ bei den Skulptur Projekten Münster 2007 von Ulrichs’ Installation „Versunkenes Dorf“ übernommen zu haben, die 2004/2006 als Kunst-am-Bau-Projekt in der Nähe der Münchener Allianz realisiert wurde, ist ein anderes Thema, das an dieser Stelle nicht erörtert werden kann.)
Ähnlich wie Bijl hat auch Ulrichs ein mächtiges diskursives Milieu gefehlt. Und er hat sich strategisch „unklug“ verhalten, indem er auf die redundante Wiederholung, die seinen Ideen genug Sichtbarkeit und Resonanz verliehen hätte, immer wieder verzichtet und stattdessen immer etwas Neues gemacht hat. Aber es gibt auch Konstanten. Fast noch über Bruce Nauman oder Vito Acconci hinausgehend, die in ihren frühen Videoarbeiten unablässig ihren eigenen Körper als Material benutzten, hat Ulrichs immer wieder sich selbst im wahrsten Sinne des Wortes zum Maß aller Dinge gemacht.
So ließ er sich 1969 für ein Höhenschichtenmodell vermessen und nahm seine eigene Körpergröße als Einheit für ein „Urnormalmaß“ (1969/70), das er an die Stelle des Pariser Urmeters von 1889 setzte, der ältere Maße wie Fuß oder Elle abgelöst hatte. Vieles ist heute dann doch anders als das, was Timm Ulrichs vor dreißig oder vierzig Jahren ersonnen hat. Ansonsten müsste auch die Geschichte von Facebook dringend neu geschrieben werden. Hier haben Millionen von Menschen zahlreiche „Freunde“, denen sie nie begegnet sind und von denen sie meist nur wenig wissen. Den „analogen“ Setzling zu einem solchen Netzwerk gab es bereits 1973. Timm Ulrichs schaltete Kleinanzeigen in Zeitungen mit dem Angebot, „einen berühmten Künstler zum Freund“ zu haben. Wer sich auf die Annonce hin oder nach der Vorstellung der Aktion 1975 im TV-Kulturmagazin „aspekte“ meldete, erhielt eine Urkunde, welche »die Freundschaft des berühmten Totalkünstlers Timm Ulrichs« schriftlich und mit Unterschrift bestätigte.

Gekürzte Version eines Beitrags in: Timm Ulrichs – Betreten der Ausstellung verboten! Werke von 1960 bis 2010, Ausst. Kat. Kunstverein Hannover, Sprengel Museum Hannover,  Ostfildern: Hatje Cantz  2011, S. 147–155.
Robert Barry "Telepathic Piece", 1969 (© )
Jonathan Monk "Translation Piece", 2012 (© )
Timm Ulrichs "Übersetzung Translation Traduction. Ein polyglotter Zyklus", 1968/74 (© )
Timm Ulrichs "Übersetzung Translation Traduction. Ein polyglotter Zyklus", 1968/74 (© )
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