Fucking Picabia Girls

Hennes, Mauritz und Picabia

2012:Aug // Melanie Franke

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08-2012


















Bikinis sehen und an Picabia denken – so könnte man es beschreiben, das kleine Erweckungserlebnis, das einem beim Anblick der großformatigen Plakate widerfährt, auf denen H&M mit anatomischen Wunderkörpern für die Bademode der laufenden Saison wirbt. Irgendetwas an dieser Werbung fügte sich nicht – oder gerade besonders gut – in die gewöhnlich manipulative Art von Reklamebildern ein: In dem Reigen der Motive strecken sich gewaltige Körperlichkeiten mit scheinbar kreisrunden Brüsten den Betrachtenden entgegen oder schlummern in einem Swimmingpool. Der Blick ist bei nahezu allen Modellen abgewandt oder auf eine merkwürdige Art abwesend. Selbst wenn sie in die Kamera blicken, scheint es, als wären sie weit entfernt, apathisch. Die Pose, die der Körper einnimmt, ist sichtbar gewollt, pikant. Und ich sage Körper, weil es nicht so aussieht, als wäre da eine Seele, als wäre da Leben. Auch scheint die Bildfläche zu klein für diese wuchtigen Körper. Immer sind sie angeschnitten und in ihrer Bruchstückhaftigkeit anatomisch verzerrt, mache gar versehrt, andere nur leicht verzogen. Braungebrannt glänzen sie, scheinbar in der Sonne, surreale Lichtreflexe einer künstlichen Quelle flirren, die Inszenierung ist offensichtlich.

Diese Darbietung körperlicher Verzerrung erinnert mich an einen Maler, der in einer Phase größter humanitärer Zerstörung begann, nach fotografischer Vorlage weibliche Akte zu malen – und damit einen fotografischen Blick malte. Es war weit mehr als eine Übertragung eines Blickes von einem Medium in das andere, wie gleich im Detail gezeigt werden soll, denn der Künstler erzeugte in der Transformation durch meist nur kleine Änderungen etwas latent Bizarres, einen doppelten Boden.
Der Künstler, von dem hier die Rede ist: Francis Picabia. Sein Name klingt italienisch. Tatsächlich kam er aus gutbürgerlichen französischen Verhältnissen, sein Vater entstammte einer auf Kuba lebenden Adelsfamilie. So war es Picabia vergönnt, sich zeitlebens, finanziell unabhängig, mit der Kunst zu befassen. Er tummelte sich früh in den Kreisen der Avantgarde, begründete die Pariser Version des Dadaismus, war zeitweilig in den surrealistischen Zirkeln zugegen und befreundete sich mit allem was Rang und Namen hatte. Während des Krieges ging er nach New York, wo sich die europäischen Immigranten trafen. Von dem Leben dort wird seine erste Frau (Gabrielle Buffet-Picabia) später sagen: „Gleich bei unserer Ankunft wurden wir in eine zusammengewürfelte internationale Clique aufgenommen, die die Nacht zum Tage machte und in der sich Kriegsdienstverweigerer aller Stände und Nationalitäten in einem unvorstellbaren Toben von Sexualität, Jazz und Alkohol zusammenfanden.“ Während dieser Zeit  – und das wird später als „Mechanische Periode“ gelten – malte Picabia kopulierende Maschinen und Apparaturen, deren anthropomorpher und sexuell konnotierter Charakter bisweilen poetisch verspielt sein konnte. Seine Obsession alles – sogar das Mechanische – sexuell aufzuladen, traf auf einen exzentrischer Lebensstil: Er soll mehr als 120 Automobile besessen haben (mindestens aber 60 Rennwagen). Das mag den anderen Autofreak der Kunstgeschichte, Jason Rhoades, animiert haben, ihm eine Installation mit dem Titel „Fucking Picabia Cars / Picabia Car with Ejection Seat“ (1997/2000) zu widmen. Das für meinen Punkt Interessante an der Biografie von Francis Picabia ist sein familiäres Umfeld, in dem die Bedeutung von Fotografie im Verhältnis zur Malerei verhandelt wurde. Sein Großvater war befreundet mit Jacques Daguerre und fotografierte selbst. Er soll Picabia die Möglichkeiten des neuen Mediums gezeigt haben. Zudem traf er auf einen Zeitgeist, in dem mit der neuen Darstellungsform von Realität, wie sie die Fotografie zu bieten hatte, eine Auseinandersetzung mit der Malerei ausgefochten wurde. Walter Benjamin wird diesen Schaukampf später als „abwegig und verworren“ bezeichnen. Doch auf Picabia mag dieses Scheingefecht Einfluss gehabt haben, jedenfalls lassen sich seine, dem Spätwerk zugerechneten Aktdarstellungen – um die es hier gehen soll – wie eine manierierte Schlichtung dieses Konflikts lesen. Sie wurden lange, bisweilen bis heute, von der Kunstgeschichte verschmäht, und wenn überhaupt, dann im Kontext von „Kitsch“ (Roberto Ohrt im Katalog der Hamburger Deichtorhallen s. u.) wahrgenommen und das vielleicht mit gutem Grund.
Der Vorgang ist denkbar einfach: Picabia malte nach Vorlagen von Softpornos, wie „Paris Magazine“ und „Mon Paris“ Aktfotografien ab. Da posieren Modelle verführerisch und aus heutiger Sicht vielleicht schamhaft, manchmal sind auch zwei oder drei nackte Schönheiten auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie zu sehen. Der Vergleich mit der fotografischen Vorlage (siehe: Katalog „Francis Picabia – Das Spätwerk 1933−1953“, Deichtorhallen Hamburg, 1998) ist aufschlussreich: Man erkennt, dass die in den Gemälden markanten anatomischen Verzerrungen durch die Malerei hinzugekommen sind und nicht in der Fotografie angelegt waren; einzelne Beispiele zeigen: Picabia malte den Arm nicht in die Taille gestützt wie auf dem Foto, sondern in seinem Bild hält das Model ihn hinter dem Rücken. Dadurch verschiebt sich die Schulter, kugelt beinahe aus, die Brüste verlieren ihre Proportion und noch dazu entgleitet der Gesichtsausdruck, zerfließt. In einem anderen Bild verschiebt eine von Picabia für die Szenerie erfundene und ins Bild gemalte Bulldogge die proportionalen Verhältnisse: die Arme der Frau werden länger, zu lang und ihre Gesicht wird zur Grimasse. Oder fünf Damen stehen wie stilisierte Blumen vor einer Wasserfläche scheinbar ohne Körperlichkeit. Je länger man hin und her schaut, desto größer scheint die Verrückung der Darstellung im Verhältnis zur Vorlage, beinahe parodistisch. Und es sind nicht nur die anatomischen Verzerrungen, die zum Eindruck des Bizarren beitragen. Während die fotografierten Körper, die etwas unbeholfen wirken, eine gewisse Lebendigkeit, oder sagen wir mal verschämte Freude am Nacktsein ausstrahlen, wirken die gemalten Körper leblos, als hätte die Malerei sie umgebracht. Roberto Ohrt spricht sogar von einem „emblematischen Totentanz“. Zu diesem Eindruck trägt sicher die artifizielle Lichtsituation und die farbige Modellierung der Körper bei. Bei der Übertragung des Motivs von Schwarz-Weiß in Farbe musste Picabia die Modellierung ja imaginieren – und das merkt man. Einige Körper sind zudem mit einer scharfen, schwarzen Konturlinie eingefasst und wirken wie ausgeschnitten. All das lässt sicher zu wünschen übrig. Die Malerei konnte hier nicht in die von der Fotografie gelassene Bresche springen. Anders formuliert: Durch die Übersetzung von Fotografie in Malerei ergibt sich eine Lücke – eine Möglichkeit und das ist aus meiner Sicht die Thematisierung der Wesenszüge inszenierter Fotografie, lange bevor der Begriff aufkam. Mit Cindy Sherman gesprochen: „Es ist wichtig, dass die Leute merken, dass es künstlich ist.“ Verwandt ist dieses Vorgehen sicher nur ganz entfernt mit ihren allseits bekannten Inszenierungsformen, die zu den „Untitled Film Stills“ führten, mit denen sie ein Abbild nach einem nicht-existierenden Vorbild schuf oder fotografisch inszenierte.

Die Unterschiede sind hier markanter als die Gemeinsamkeiten. Doch der springende Punkt ist, dass Picabia diese Reflexion im Medium Malerei betreibt und das ist das Irritierende. Wenn man davon ausgeht, dass es eine bewusste Reflexion ist und tatsächlich ein doppelter Boden gemeint ist. Vielleicht – und das ist die andere Seite der Medaille – hat er hier das Prinzip seiner „Mechanischen Periode“ einfach ins Gegenteil verkehrt, indem er Modelle sprühender Erotik nicht pikant, sondern leblos malte.
Diese Wirkung verbindet sich – und an dieser Stelle schließt sich der Kreis – mit den H&M-Modellen, deren apathischer Ausdruck wiederum mit den Mitteln der Fotografie und digitalen Bildbearbeitung erzeugt, an die Malweise und Inszenierung von Picabias Akt-Modellen denken lässt. Parallelen finden sich in den artifiziellen Lichtquellen und deren verstreuten, scheinbar eingebrannten Reflexen auf den tief gebräunten Körpern – beinahe ketzerisch in Anbetracht der Krebswarnungen. Wie bei Picabia scheint es, als hätte ihnen jemand Firnis aufgetragen. Vergleichbar seinen Modellen, bestätigt sich auch hier der Eindruck von versehrten Körpern, einmal erzeugt durch die Ausschnitte: einem Modell fehlt ein Bein. Dann auch durch die Posen der Figuren: Der aufgestellte Arm mit den überdimensionalen Brüsten und dem zurückgeworfenen Kopf wirkt deproportioniert und entstellt. Klaustrophobisch sind sie inszeniert, allgewaltig wie bei Picabias Modellen, denen gegenüber man sich auch in der Untersicht befindet. In beiden Fällen werden Wunschbilder von totalitärem Ausmaß gezeigt. Das Totalitäre liegt in der absoluten Geste, mit der sich die Modelle zeigen, im Sinne einer Ideologie, die bereit scheint, einen neuen Menschen zu formen. Und sicher ist es kein Zufall, dass Picabia diese Bilder vor und während der Kriegsjahre malte. Vielleicht aber wollte der damals bereits 60-Jährige seinen manierierten Lebensstil und die Möglichkeiten eines unbeschwerten Lebens auch in Zeiten von Mangel und Bedrohung fortsetzen – im Sinne von Jason Rhoades noch „A Few Free Years“.

Plakatmotive H&M, Sommerbadekollektion 2012 (© )
Plakatmotive H&M, Sommerbadekollektion 2012 (© )
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