Grüne Illusionen

2013:Dec // Harald Welzer

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12-2013
















Grüne Illusionen
/ Verzicht statt Status Quo oder Wachstum

Alle reden vom Klimawandel. Gegenüber dieser fatalen Bedrohung der Überlebensbedingungen in den kommenden Jahrzehnten sind alle mindestens ebenso gravierenden Umweltprobleme in den Hintergrund getreten: die Überfischung der Meere, die Bodenverluste, die Vermüllung der Ozeane spielen in der öffentlichen Aufmerksamkeit nur eine Nebenrolle. Der Grund dafür ist einfach: Würde man über diese Dinge sprechen, käme man nicht umhin, über das eigene Verhalten zu sprechen: denn schließlich entsteht der ganze Aufwand und der ganze Dreck nur durch unsere scheinbar unstillbaren Konsumbedürfnisse.
Da hat der Klimawandel schon Vorteile: Seine Verursachung liegt Jahrzehnte zurück, man rechnet in abstrakten Zahlen von Gigatonnen CO2 und redet ominös von „2-Grad-Leitplanken“, und vor allem: er gilt als technisch lösbar. Dafür hat man ja die Energiewende erfunden. Die Technik wird dafür sorgen, dass nicht mehr so viel Treibhausgase die Atmosphäre belasten werden. Die Kanzlerin teilt gerade in einer bundesweit verteilten Broschüre mit: „Die Gestaltung der Energiewende erfordert ein Umdenken von uns allen – bei der Erzeugung, Verteilung und beim Verbrauch von Energie. Dieses Umdenken findet in neuen Technologien und Systemlösungen seinen Ausdruck.“ Das heißt: es kann so weitergehen wie bisher, die Technik wird schon alles richten.
Auch dem Konsumenten hilft die Technik beim klimafreundlichen Verhalten. Er kann sich zum Beispiel den carbon footprint eines Produkts auf seinem smartphone anzeigen lassen. Oder den „echten“ Preis, also den, der anfallen würden, wenn man die externalisierten Kosten einrechnete. Findige Programmierer entwickeln nämlich Apps, die strategische oder moralische Konsumentscheidungen erleichtern sollen, indem sie Informationen zum Produkt liefern, die dieses selbst nicht preisgibt. So könnte ein so unschuldig daherkommender Fruchtjoghurt sich unmittelbar als die ökologische Katastrophe outen, die er hinsichtlich der seiner Klimawirkungen tatsächlich ist. Und der potentielle Käufer könnte zugleich sehen, dass der „echte Preis“ für dieses Produkt eben nicht 0,39 Euro ist, sondern unter Einrechnung aller externalisierten Umweltkosten zum Beispiel 1,89 Euro wäre. Fasziniert kann er dann das danebenstehende Konkurrenzprodukt aus dem Kühlregal nehmen, sein smartphone dieselben Berechnungen durchführen lassen und feststellen, dass dieses Produkt zwanzig Prozent weniger klimaschädlich ist als das vorherige und sein „echter Preis“ nur 1,45 Euro ist. Es schmeckt zwar nicht und kostet mit 0,79 Euro im falschen Preis mehr als das doppelte des schuldigen Joghurts, aber das Gerät hat psychologisch die korrekte Kaufentscheidung schon festgelegt. Wer würde davon noch abweichen, nachdem der ganze Aufwand getrieben worden ist?
Allerdings: der Recherche- und Rechenaufwand, der hinter dem Rücken des informationshungrigen Käufers getrieben wird und erhebliche Mengen Energie für den Betrieb der Suchmaschinen erfordert, wird hier natürlich nicht berechnet – wie überhaupt generell übersehen wird, dass all die Berechnerei von carbon footprints und ökologischen Rucksäcken zur permanenten Erhöhung von Aufwand beiträgt. Dem Klima ist es übrigens gleichgültig, ob die Server von Google laufen, weil jemand wissen möchte, ob Lady Gaga beim Zahnarzt war oder welcher Joghurt unter Gesichtspunkten des Klimaschutzes empfehlenswert ist – Energie erfordern beide Typen von Information gleichermaßen.

Anstatt sich nun intuitiv für einen beliebigen Joghurt zu entscheiden oder sogar überhaupt keinen zu kaufen, überlässt der potentielle Käufer seine Entscheidung dem Aufwandserhöhungs-App, das er auf seinem Smartphone installiert hat, und hat sich unter dem Vorzeichen des Klimaschutzes entmündigt. Seine Smartness hat er an das Produkt abgegeben, dass seine Entscheidungsparameter objektiviert und unabhängig von seinen eigenen Präferenzen die Wahl trifft. Dasselbe tun auch all jene „smart grids“, die Stromverbräuche in klimabewussten Haushalten so steuern sollen, dass im Land ein ausgeglichener Zustand zwischen Stromangebot und –nachfrage herrscht. Hier überantwortet der Energiekonsument die Entscheidung, ob er sich jetzt eine Pizza aufbacken oder die schmutzige Wäsche waschen soll, dem kleinen Rechner, der ihn über die günstigste und daher entsprechend tarifierte Nutzungszeit aufklärt.
Die flächendeckende Einführung solcher Innovationen soll Deutschland zusammen mit den Technologien erneuerbarer Energieerzeugung das Wunder eines ungebremsten Wirtschaftswachstums bei sinkendem Ressourcen- und Energieverbrauch verschaffen. Das nennt man dann „grünes Wachstum“ und freut sich, dass die Zukunft so bleiben kann, wie die Gegenwart ist. Verzichten muss niemand auf nichts.
Und nun die illusionslose Lesart des Klimawandels. Der Umweltaktivist und Autor Bill McKibben hat unlängst in einem brillanten Artikel (www.rollingstone/politics/news/global-warmings- terrifying-new-math-201) im „Rolling Stone“ beschrieben, womit man es im Fall des Klimawandels zu tun hat: nicht mit einem Problem ohne Täter und Verantwortliche, sondern mit einem radikalen Interessengegensatz, der sich sehr einfach formulieren lässt. Möchte man das sogenannte 2-Grad-Ziel erreichen, darf man weltweit bis zur Jahrhundertmitte nicht mehr als etwa 565 weitere Gigatonnen CO2 in die Atmosphäre blasen. So sagt es übereinstimmend die Klimaforschung. Die gegenwärtig vorhandenen Lager für fossile Energien umfassen allerdings ein Potential von 2795 Gigatonnen CO2, also etwa die fünffache Menge. Das Geschäftsmodell aller Mineralölunternehmen besteht schlicht und einfach darin, diese 2795 Gigatonnen aus dem Boden und aus dem Meer, aus dem Ölschiefer und den Ölsänden zu holen und auf den Markt zu bringen, und folgerichtig tun sie das auch, und zwar völlig unbekümmert um alle Probleme der globalen Klimaerwärmung. Sie investieren gigantische Summen in die Erschließung der Vorkommen, weil sie damit gigantische Umsätze und Gewinne zu erzielen gedenken. Exxon beispielsweise wird bis 2016 jährlich 37 Milliarden Dollar für die Suche nach Öl- und Gasvorkommen und ihre Erschließung ausgeben. Das sind ungefähr einhundert Millionen Dollar jeden Tag (Quelle aus dem gleichen Rolling-Stone-Artikel).
Das Geschäftsmodell von Unternehmen dieser Art ist die Zerstörung der Erde. Wollte man gegen den Klimawandel tatsächlich etwas unternehmen, müsste man also dieses Geschäftsmodell zerstören. Gegenwärtig würde allerdings kein politischer Akteur gegen die Absichten von BP, Exxon, Gazprom usw. vorgehen, weil die komplette Wirtschaft und ihr Wachstumsprinzip von der beständigen Dosiserhöhung der täglichen Infusion mit fossilen Rohstoffen abgängig ist. Mehr noch: weil auch der Aufstieg der Mittelklassen in den Schwellenländern und die Erhöhung der Lebensstandards in den asiatischen und südamerikanischen Ländern genau daran hängt.
Das ist am Beispiel der Verbesserung des Lebensstandards der Bewohnerinnen und Bewohner der Schwellenländer zu belegen, eben an der rasanten Entwicklung von Mittelklassen, von Konsumkulturen, von erhöhtem Wohlstand, von besserer Bildungs- und Gesundheitsversorgung. Denn es geschieht ja beides zugleich: die Erhöhung des durchschnittlichen Lebensstandards und der Geschwindigkeit der Zerstörung der natürlichen Ressourcen. Das, was in ökologischer Hinsicht katastrophale Jahre sind, das sind für die aufsteigenden Bevölkerungsgruppen in Brasilien, China, Vietnam Wirtschaftswunderjahre, psychologisch wie ökonomisch vergleichbar mit der westeuropäischen Nachkriegszeit.

Hier und in den USA ging es schon vor einem halben Jahrhundert richtig los mit dem Massenkonsum und der permanenten Ausweitung der Komfortzone; die Kehrseite des Aufstiegs bildeten exponentielle Steigerungsraten im Material- und Energieverbrauch, bei den Emissionen und beim Müll – genau wie jetzt in den Schwellenländern. Die Zahlen sprechen für sich: während heute jeden Tag 50.000 Hektar Wald gerodet, 100 Arten verschwinden und 350.000 Tonnen Fisch aus dem Meer geholt werden und Investoren überall auf der Welt Land aufkaufen, hat sich die weltweite Armut reduziert: Die Zahl derjenigen, die pro Tag nicht mehr als einen Dollar ausgeben können, hat sich seit dem Erdgipfel von Rio 1992 halbiert; wahrscheinlich gibt es demnächst auch weniger als eine Milliarde absolut arme Menschen. Beim Zugang zu Trinkwasser zeigt sich die gleiche Tendenz; insgesamt werden weit mehr Lebensmittel produziert als vor zwanzig Jahren, und sogar die Zahl der Kriege hat abgenommen.
Was man hier beobachten kann, entspricht insgesamt genau jenem „Fahrstuhleffekt“, der den sozialen Frieden im Nachkriegseuropa gewährleistet hat: Zwar blieb soziale Ungleichheit bestehen, vertiefte sich zum Teil sogar, aber mit dem Lebensstandard ging es für alle im Fahrstuhl nach oben. Das ist das unzweifelhafte Verdienst des Prinzips der Wachstumswirtschaft: kein System hat historisch vergleichbar schnell soziale Verhältnisse verbessert und damit für Viele zum ersten Mal ein Gefühl von Chancen und Freiheit gegeben.
Leider machen diese Wirtschaftswunder das Leben nur kurzfristig besser; mittelfristig unterminieren sie ihren eigenen Erfolg. Denn die globale Wachstumswirtschaft ist zutiefst unökonomisch, da sie ihre eigenen Voraussetzungen aufzehrt.
Die Wahrheit ist nicht schön: das ethisch wünschenswerte Ziel global auch nur annähernd egalitärer Wohlstandsniveaus steht in Widerspruch zu allen Klimaschutz- und Nachhaltigkeitszielen. Klimaschutz und Wachstum schließen sich wechselseitig aus. Will man soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz im globalen Maßstand, hilft alles nichts: Dann muss man die Komfortzone verlassen, auf Wohlstand verzichten, abgeben, andere Modelle des Verteilens, Wirtschaftens und Lebens entwickeln. Was das politisch heißt, kann nicht durch Technik beantwortet werden, sondern nur durch die ernsthafte und konfliktträchtige Auseinandersetzung darüber, was man für die Zukunft bewahren und was man aufgeben muss. Grüne Illusionen helfen da kein bisschen weiter.
Dekoration bei Vattenfall, Berlin, 2011 (© Hans Martin Sewcz)
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