Andreas Seltzer

Interview

2007:Mar // Kito Nedo

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04-2007








„Der konzentrierte Sinn“ lautete der Titel einer dreiteiligen, der Zeichnung gewidmeten Ausstellungsserie, die Anfang 2007 in der Kreuzberger Galerie Laura Mars Grp. zu sehen war. Organisiert wurde die Präsentation von Gundula Schmitz, Galeristin und Andreas Seltzer, dem Berliner Künstler, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher, der seit 1989 gemeinsam mit Heike Vogler den Grabe, wo du stehst / Interview mit Andreas Seltzer

„Bilderdienst Berlin“ betreibt. Die Trilogie eröffnete mit „Kongo“, Bleistiftzeichnungen von Vitek Marcinkiewicz, in der Folge zeigte Seltzer Blätter aus seinem Jules Verne-Zyklus „Reise zum Mittelpunkt der Erde“, den Abschluss bildete die Gruppenausstellung „Soziale Grapheme“ mit Exponaten aus Seltzers Privatsammlung sowie Leihgaben verschiedener Herkunft. Anfang März traf /100 den Künstler und Sammler zu einem Gespräch in der Ausstellung.

 / 100   /  Ein Thema der Ausstellung „Soziale Grapheme“ scheinen Karten und Orientierungssysteme zu sein. Warum?

Andreas Seltzer  /  Mit Kartographie und kartographischen Systemen habe ich mich schon ziemlich früh beschäftigt – der Grund liegt vielleicht darin, dass der Ort in dem ich lebe, für mich eine grosse Wichtigkeit hat, nach dem Motto: Grabe, wo du stehst. Als Künstler suche ich nach Ausdrucksformen, die abseits der üblichen Stadtveduten-Bildnerei ist, obwohl ich auch solche Darstellungen sammle. Ein anderes Interesse kann man vielleicht an den Arbeiten des Pressezeichners Werner Kruse in der Ausstellung ablesen, der sich Robinson nannte. Der hat mit seinen Querschnittdarstellungen in den sechziger und siebziger Jahren eine gewisse Berühmtheit erlangt, ist jedoch heute fast gänzlich vergessen. Dahinter liegt für mich auch ein analytisches Interesse an der Funktionsweise von Institutionen.

 / 100   /  Was verbindet die Zeichnungen, die ja aus ganz verschiedenen Kontexten stammen?

Seltzer  /  Das sind eigentlich alles Zeichnungen, die als Grundstruktur das Zeigen haben. Wir konnten natürlich nur einen Bruchteil hier aufhängen. In meiner Sammlung sind beispielsweise auch Zeichnungen einer Hautärztin, die ich über einen gewissen Zeitraum gesammelt habe. Zu deren Handwerk gehört es, ihren Patienten etwas aufzuzeichnen, um etwas zu verdeutlichen. Also, ob die ein Talgdrüsenabszess haben oder ein Furunkel, einen Tumor oder was auch immer. Dieses Moment des Zeigens, besser noch: des Deutens gehört zu den Grundlagen meiner Arbeit, weswegen mich das Ausstellen auch als Technik immer sehr interessiert hat.

 / 100   /  Woher kommt Ihr Interesse an Bildern, die auf den ersten Blick keine Kunst sind?

Seltzer  /  Den Beginn dieses Interesses markieren frühe Film­erfahrungen. Als ich Ende der sechziger Jahre nach Berlin kam, um an der Hochschule der Künste zu studieren, sah ich beispielsweise im Kino Arsenal in der Schöneberger Welserstrasse einerseits Andy Warhols Filme wie „Sleep“ und „Empire State Building“. Andererseits wurden Filme des amerikanischen Dokumentarfilmers Frederic Wiseman gezeigt – das waren Langzeitbeobachtungen in Institutionen, etwa in Krankenhäusern und Gefängnissen. Der erste Film, den ich von Wiseman sah, hieß „Titicut Follies“ – ein intensiver Film über ein Gefängnis mit psychiatrischen Kriminellen in Arizona. Ich komme immer wieder darauf zurück, dass es diese beiden Enden sind, die mich in der eigenen Arbeit beeinflussen. Die Kunst ist mir als System zu wenig offen. Die Alltagsbeobachtung gibt mir da sozusagen Entlastung und mitunter auch neue Standpunkte.

 / 100   /  Dennoch ist Ihnen der Bezug zum Kunstsystem wichtig?

Seltzer  /  Meine Sammlung ist immer parallel zu der Beschäftigung mit anderen Ausdrucksformen entstanden, die man vielleicht mit „Volkskunst“ beschreiben könnte. Also nicht „traditionelle“ Volkskunst sondern die der Hobby-Bastelei. Und das ganz sicher auch immer im Hinblick auf das, was in der Kunst passiert. Ohne diesen Kontext wäre es nicht interessant gewesen. Meine erste Ausstellung Mitte der 70er Jahre, in der 7. Produzentengalerie handelte vom so genannten Sendermann. Das war ein Paranoiker, der über das gesamte Stadtgebiet einen immer wieder variierten Spruch geschrieben, gekritzelt, gezeichnet hat. Da ging es immer darum, dass die Bürger am Kopf mit Sendern abgehört werden: cia, kgb und soweiter. Samstags ist der immer mit einem großen Transparent und Megafon den Kurfürstendamm entlang gezogen und hat eigentlich genau das gemacht, was ein paar Jahre zuvor in der Schüler- und Studentenbewegung gemacht wurde – nur eben auf sein Wahnsystem bezogen. Ich habe damals seine Spuren verfolgt und dadurch eigentlich die Stadt kennengelernt. Das war die erste Ausstellung dieser Art, die ich gemacht habe. Ich habe gedacht, dass sei so eine Art Gegenentwurf zum Kunstsystem. So naiv bin ich heute nicht mehr. All diese Gegensysteme werden bestens geschluckt.

 / 100   /  Sowohl für Ihre Sammlung als auch für Ihre eigene künstlerische Arbeit scheint das Verhältnis zwischen Text und Bild wichtig zu sein, das konnte man im Februar bei der Ausstellung „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ sehen. Seltzer  /  Ich habe hier an der Hochschule der Künste Malerei bei Heinz Trökes und Grafikdesign bei Helmut Lortz studiert, der vor kurzem gestorben ist. Seit dem Studium wechselte ich sehr oft zwischen Schreiben und Zeichnen. Vor drei, vier Jahren gab es dann einen Punkt, an dem ich nach einer neuen Form der Selbstbesinnung und Konzentration suchte und schließlich mit diesem Jules-Verne-Projekt begann.

 / 100   /  Sie arbeiten sich kontinuierlich am Text entlang?

Seltzer  /  Ja. Aber ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, ich arbeite da jeden Tag dran. Die permanente, ungestörte Produktion gehört in den Bereich der Künstlermythen. Jetzt, während der Vorbereitungen für die Ausstellungen, bin ich fast gar nicht dazu gekommen.

 / 100   /  Die Blätter sind ja nummeriert, waren jedoch in der Galerie nicht chronologisch gehängt.

Seltzer  /  Das habe ich auch bewusst vermieden. Denn es sind ja keine Illustrationen. In der Arbeit gibt es zwar Entwicklungen, das heißt bestimmte Unsicherheiten sind nicht mehr so offensichtlich. Im Tun entwickelt man ein Geschick, was dann wieder zu anderen Problemen führt. Aber das ist eigentlich eher eine Frage des Handwerks, inwieweit man sich auf das Geschick einlässt oder damit bricht, wenn man merkt, dass es zu leicht von der Hand geht. Ich bin jetzt bei Blatt 140 und es werden am Ende wahrscheinlich 200, höchstens 230 Blätter sein.
Andreas Seltzer, aus der Serie „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“, 2004-2007 (© Courtesy Laura Mars Grp.)
Andreas Seltzer, aus der Serie „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“, 2004-2007 (© Courtesy Laura Mars Grp.)
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