Onkomoderne

Hitlers Handtuch

2012:Dec // Christina Zück

Startseite > Archiv > 12-2012 > Onkomoderne

12-2012


















In der chaotisch-kreativen Altbauwohnung, in der wir Gäste­zimmer gemietet haben, hat mir die Wohnungsinhaberin verschiedene Documenta-Broschüren ans Bett gelegt, darunter Merian Spezial Kassel, Carolyn Christov-Bakargievs „Brief an einen Freund“ und ein kleines, von der Gastgeberin selbst herausgegebenes Büchlein mit dem Titel „Ich bin erleuchtet und es ist nicht so schlimm wie ich dachte“. Vor dem Einschlafen lese ich alles durch. Christov-Bakargiev zeichnet in ihrem Brief nach, über welche Forschungsreisen und Gedankenwege sie zu den theoretischen Grundlinien der Documenta 13 fand. Die meisten der bereits im akademischen und kunstnahen Diskurs herumschwirrenden Themenmäander vergesse ich sofort wieder, außer: „wir treten gerade in ein kairologisches Zeitalter ein“. Was in meiner Erinnerung deutlicher übrig bleibt, sind Berichte über ausgedehnte Gespräche, die CCB mit ihren vielen Freunden und Documenta-Beteiligten an den interessantesten Orten führte: „Natürlich gab es da auch die Momente des Nachdenkens mit Pierre, außerdem weitere Reisen nach Mexico mit Sofia und nach Asien mit Sunjung, Momente, in denen ich mit Livia in György Lukács’ Haus in Budapest verstaubte Unterlagen durchforstete oder mich mit Koyo und Javier über mauretanische Schiffsfriedhöfe unterhielt. In Chicago traf ich mit Jane, Mike und Madeleine auf Theaster, und weißt Du, dass ich dort mein letztes Notizbuch verlor?“ In der Artworld kennen sich alle Menschen und sind eng miteinander befreundet. Wer die Vornamen zu den künstlerischen Arbeiten und Theorien nicht zuordnen kann, kennt sich halt nicht so gut aus. So wie ich, suggeriert mir der durch den Text angetriggerte Reaktionsmechanismus, und auch ich wäre gerne mit der Carolyn und der Chus in dem japanischen Restaurant in Sao Paolo mit dabei gewesen und hätte atemberaubende Gespräche über Kunst geführt – besonders da ich in jenem Moment im Zimmer eines Teenagers unter einem riesigen H&M-Bikini-Plakat liege und auf Regale mit Fantasy-Romanen und Spielkonsolen blicke. Carolyn schreibt, während sie im Flugzeug aus Kuala Lumpur zurückkehrt, an den Freund, der zuhause auf sie wartet. Es ist literarisch gemeint, der Freund könnte auch die unbekannte Leserin sein. Am Ende stellt sich heraus, dass die Metapher des Freunds noch ganz andere Bedeutungen annehmen kann – ein kleines ernüchterndes Erlebnis: „Ich weiß, dass Du mein Alibi, dass Du mein Grund zu leben, dass Du ich selbst bist. Und dass ‚ich selbst‘ nur Dein blasses Abbild bin, nicht greifbar, unergründlich, einzigartig und chorisch, wunderschön – …“
Die Kasseler Künstlerin Nora von der Decken, bei der ich übernachte, ist so alt wie CCB und schreibt in ihrem Buch ebenfalls eine Art theoretische Apologie ihres Lebens. Sie hat Kunst gemacht, viele Männer geliebt und viele Kinder bekommen. Nach einer Sterilisation im Alter von 30 Jahren kam die Fruchtbarkeit wie durch ein Wunder wieder und noch mehr Kinder wurden geboren. Sie referiert zeitgenössische Advaita-Theorien und weiß, wie man in der Küche sitzen, die Sonnenstrahlen auf den Schnittblumen wahrnehmen und vollkommen im gegenwärtigen Moment sein kann. Die Kunst ist ein bisschen zu kurz gekommen in diesem lebendigen und gleichzeitig kontemplativen Leben, aber es ist völlig stimmig so wie es ist, mit den vielen Menschen in der bunten WG um sie herum.
Dieser intime Einblick in die Leben zweier Frauen, die sich im Berufsfeld Kunst bewegen, ist fast schon interessanter als die Documenta. Und beim Lesen frage ich mich: was ist mit meinem Leben als Künstlerin? Immerhin konnte ich nach Kassel fahren, weil ein Freund sich am Wochenende zuvor mein Auto ausgeliehen und es mit einem gefüllten Tank zurückgegeben hatte. Ich habe auch ein okayes Leben, aber um Besser-Leben-Punkte damit zu sammeln, müsste ich nicht-art­gerechte Anstrengungen unternehmen. Und auch mir schlägt der Zwang zur Selbstpropaganda, zu der mich die Gesellschaft in jeder öffentlichen Artikulation anhält, schwere Schneisen ins Urteilsvermögen.
 Am nächsten Morgen geht’s los auf dem Jakobsweg der zeitgenössischen Kunst, ich habe mich lange darauf gefreut. Mit meinem Behindertenausweis bekomme ich nicht nur den Ermäßigungstarif beim Eintritt, sondern kann auch eine Freundin ganz umsonst als Begleitperson mit hineinbringen. Der Ausstellungsraum im Nordflügel des Hauptbahnhofs ist sehr weitläufig, wir gehen vorbei an einem holzgeschnitzten Sweatshop und landen vor einem großen Erdhügel in einer Warteschlange. Nach zehn Minuten geht es Stufe für Stufe eine Sperrholztreppe hoch und man schaut in eine skate-pool-artige Vertiefung mit geometrischen Figuren auf Podesten. Damit soll ein Theaterstück zum Thema Ontologie nicht jetzt, sondern wannanders aufgeführt werden. Hinter mir drängeln schon die nächsten Besucher und beim Heruntergehen stolpert ein älterer Mann und schafft es gerade noch, sich an der dünnen MDF-Platte festzuhalten, die der Konstruktion als Geländer dient. Vor der William-Kentridge-Arbeit ist wieder eine Schlange, das Stück beginnt est in 30 Minuten, aber im Raum sind feuerwehrtechnisch nur 25 Personen zugelassen, so kann es gut eineinhalb Stunden dauern, bis wir hinein können. Clemens von Wedemeyers Installation ist zum Glück frei zugänglich. Auf zum Dreieck zueinander gestellten Leinwänden werden Spielfilmszenen aus drei zeitgeschichtlichen Momenten des Klosters Breitenau – einem ehemaligem KZ und Waisenhaus, einer der thematischen Angelpunkte der d13 – gezeigt und ineinander verschränkt: die Befreiung der KZ-Häftlinge durch Alliierte, ein Spielfilmdreh aus den 70er Jahren über die unmenschlichen Bedingungen im Mädchenheim und der Besuch einer Schulklasse in der heutigen Gedenkstätte. Der Zirkus der Vergangenheitsbewältigung zieht von Ebene zu Ebene, und, die komplexe Form der Installation deutet es an, scheitert an der zugrundeliegenden Fraktalität: Gewaltsysteme können nur schwer geheilt werden, alte Strukturen leben weiter und nehmen neue Formen an. Doch das aktuelle, daraus folgende Schreckenssystem wird hier ausgelassen und möglicherweise genau durch die Leerstelle markiert, denke ich als an diesem Morgen bereits frustrierte Besucherin, der Ausstellungsmoloch d13 selbst. Bisher die beste Arbeit, finde ich.
Nicht schon wieder Nazi-Geisterbahn, jammert meine Freundin, nachdem wir weitere 40 Minuten im Hauptbahnhof angestanden haben, um uns einen iPod mit einem Audio Walk von Cardiff & Miller auszuleihen und anschließend wieder abzugeben. Gleis 11 führte damals die Familienmitglieder der Erzählerin ins Konzentrationslager. Nachdem ich ein paar Minuten den Anweisungen auf der Konsole gefolgt und mit anderen desorientierten Kopfhörermenschen zusammengestoßen bin, setze ich mich an die Seite und erspare mir noch ein paar Treppen und Commissario-Brunetti-artige Wendungen in der Erzählung.
Das Erdgeschoss des Fridericianums ist fast komplett leer. Der Wind, der an diesem heißen Augusttag angenehm kühl durch die Hallen weht, kommt aus Windmaschinen von Ryan Gander. Eine Vitrine zeigt eine handschriftliche Absage von Kai Althoff, er leidet unter Burnout, weil der Ausstellungbetrieb unerfüllbare Forderungen an ihn stellt. Schon stehe ich wieder an einer langen Schlange vor dem Hochsicherheitsbereich des „Brain“ – inzwischen habe ich dazugelernt und wedele mit meinem Behindertenausweis, der mich in die privilegierte Position versetzt, an allen anderen vorbeigelassen zu werden.
Leere und Verdichtung, restricted areas, weite Strecken – der Raum ist selbstverständlich nicht wie eine herkömmliche Ausstellung strukturiert, sondern vielfältig, willkürlich und deterritorialisiert. Da ich langsam vorankomme, verliere ich viel Zeit. Die neuen Grenzen, die eingeführt werden, sollen vermutlich auf die Gängeleien in der nicht-kuratierten Welt hinweisen. Von den 150 Künstlern der Documenta präsentieren gefühlte hundert eine Videoinstallation in einer Länge zwischen 30 und 90 Minuten. Als Schriftenreihe wurden 105 Essays in drei verschiedenen Heftformaten, sechs Künstlerbücher, drei Kataloge – Begleitbuch, Logbuch und „Das Buch der Bücher“ – herausgegeben. Da ist für jeden Geschmack und jedes Rechercheinteresse etwas dabei. Mir ist das inzwischen egal, ich hake alles ab wie ein chinesicher Tourist auf Europarundreise. Wenn man sich später mit Leuten über die Ausstellung unterhalten wird, wird jeder etwas anderes gesehen und eine andere Arbeit als besonders wichtig empfunden haben. Ob jemand „die Documenta“ gut oder blöd fand, wird völlig egal sein, denn es handelt sich um einen jeweils anderen Ausschnitt. Dennoch gibt es viel tolle Kunst zu sehen. Jeder Besucher geht spazieren in seinem eigenen packenden und verzweigten Wahrnehmungstunnel, das Gemeinschaftsgefühl geht bei so einer Inkommensurabilität jedoch flöten. Die Ausstellung formt das reale Schweine­system, das sie permanent kritisiert, mimetisch nach, und das funktioniert sehr gut – multiperspektivisch-kybernetisch, organisch, polysemantisch –, überall hängt alles mit allem mehr oder weniger bruchstückhaft zusammen. Die Grundfesten des Eventmanagements werden dabei nicht angetastet. Die drei bis vier Documentakünstler, die ich gewagt habe zu fragen, ob sie ein Honorar für ihre Beteiligung bekommen, haben verneint.

Man kann nichts dagegen tun, auch die schlechte Laune und die verstärkte Criticality, die daraus hervorgehen, verpuffen einfach. Schmerzhafte psychische Verwerfungen entstehen, wenn Informationen, Reize, Wahrnehmungen nicht mehr eingeordnet werden können. Das Hirn versucht dann panisch, eine Struktur in das Chaos hineinzuweben, egal welche. Die verschiedene Abstufungen – Kollaps, Trauma, Burnout, Ohnmacht – ziehen sich als als grundlegendes Thema durch die Artenvielfalt der Documenta. Die Vogue-Korrespondentin Lee Miller hatte sich 1945, nachdem sie die alliierten Truppen bei der Befreiung von Konzentrationslagern begleitet hatte, als strukturierende Handlung in Hitlers Badewanne fotografieren lassen. Aus Hitlers Münchner Villa ließ sie ein Handtuch, eine Puderdose und ein paar andere Privatgegenstände mitgehen. Diese Objekte sind jetzt neben anderen traumatisierten Gegenständen im „Brain“ zu sehen. Man Ray, in derselben Vitrine zu sehen, hat ein Foto von Lee Millers Auge auf ein Metronom montiert und fantasiert in einem Buchtext darüber, das Auge zu zerstören. Als Betrachter kommen wir hier am zentralen Fluchtpunkt der Rotunde Hitlers Körper ganz schön nahe, so nahe wie noch nie. Die multiplen Bedeutungen, die sich an diese Reliquien anbinden, lassen sich nicht vollständig kontrollieren. Das Trauma schwappt über und sprengt die Artengrenze. In Pierre Huyghes Springkraut- und Marihuana-Zone, die er in den Auepark hineinbaggern ließ, laufen zwei streunende Hunde mit rosa eingefärbten Pfoten herum. Dort werden sie täglich von hunderten Smartphonekameras verfolgt. Die Bäume, an die die Lautsprecher von Janet Cardiffs und George Bures Millers Installation geschraubt wurden, spüren hundert Tage lang den Hollywoodsurroundklang des Bombenkriegs, im nächsten Frühling tragen sie vermutlich keine Blüten mehr.
Als langjährige Berlinerin habe ich eine kulturell gewachsene Veranlagung zum Granteln. Aber ich entscheide mich eine Woche später, von Südhessen aus nochmal zur Documenta zu fahren. Frühmorgens stelle ich das Auto in der Nähe des Auestadions ab und wandere durch den Park. Auf der Hälfte des Weges, schon mittendrin, fällt mir ein, dass ich gar keine Eintrittskarte habe und dass es die nächste Verkaufsstelle nur drei Kilometer weiter an der Documentahalle gibt. Dort jetzt hinzugehen, würde den Verlust des halben Tages bedeuten. In das „Worldly House“ von Tue Greenfort mit der Bibliothek von Donna Haraway werde ich sicher irgendwie reinkommen. Der blasse junge Mann mit braunen Locken und Röhrenjeans sieht mich schon von Weitem heranhinken. „Ich bin behindert und kann blöderweise nicht nochmal hierher zurückkommen, das geht über meine Möglichkeiten. Können Sie mich vielleicht einfach so reinlassen? Ich muss ja später sowieso noch ein Ticket kaufen, um in alle anderen Ausstellungen reinzukommen.“
– „Jetzt kann ich Sie sowieso nicht reinlassen, jetzt ist voll.“
– „Können Sie mich dann reinlassen, wenn wieder jemand rauskommt?“
– „Nein, das ist nicht möglich.“
– „Ich hab einen Schwerbehindertenausweis – hier.“
– „Sie wissen, dass Sie damit noch eine Person umsonst als Begleitung mitnehmen können?“
– „Ja, aber jetzt bin ich allein und hab kein Ticket. Das soll doch ein konzeptuelles Zentrum der Ausstellung sein, das ist ein wichtiger Ort hier, sonst wär’s mir ja auch egal, aber doof wenn ich’s nicht sehen könnte.“
– „Da kann ich leider nichts machen.“
– „Kann ich die Nummer von ihrer Dienststelle haben? Dann ruf ich die an und erklär’s denen?“
Er will lieber selber anrufen.
– „Hallo, hier ist 157. Ich hab hier eine Dame mit Schwerbehinderung, sie sagt, sie kann nicht zum Ticketschalter gehen und wiederkommen und sie möchte kurz reingelassen werden. Hm. Hm hm. Mmm. Ok. Hmhm.“
– „Und?“ sage ich erwartungsvoll.
– „Ist ok.“
– „Oh vielen Dank, das ist total nett!“
In der Blockhütte, die über einen Teich konstruiert ist, läuft auf einem Monitor ein Video. Die Kamera folgt einem Hund mit einem bandagierten Hinterlauf. Seine Herrin wirft Stöckchen, und der Hund rennt ihnen nach, qualvoll seine verletzte Pfote hinterherziehend.
 
Zum Ende hin sollte ich noch einen Berlin-Bezug einbauen, bat mich die Redaktion, hier ist ein abgebrochener Berlin-Bezug: Die Deutsche Bahn, einer der Hauptsponsoren der Documenta, hatte ein Kultur-Ticket-Spezial im Angebot, mit dem man für 39 Euro eine Tagesausflug nach Kassel buchen konnte – solange der Abfahrtsbahnhof nicht weiter als 300 km von Kassel entfernt war. Berlin liegt etwa 380 km weit weg.

 
Friedrichsplatz mit Landgraf Friedrich II, d13 Bookstore und Occupy Camp (© )
Friedrichsplatz mit Landgraf Friedrich II, d13 Bookstore und Occupy Camp (© Christina Zück)
Hündin "Human" in Pierre Huyghes "Untitled", 2011-12 (© Christina Zück)
Videoprojektion in Tue Greenforts "Worldly House" (© Christina Zück)
Postkarte, die ganz offiziell im Museumsshop der Orangerie verkauft wurde (© Christina Zück)
AND AND AND (© Christina Zück)
Microtime für Seitenaufbau: 1.2725250721