Die Aporie der gemütlichen Wohnmaschine

/ Billy Childish bei Neugerriemschneider und Andreas Schmid bei fruehsorge contemporary drawing

2011:May // Jan Rischke

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03-2011
















Auf die Frage, was ein Bild von Billy Childish und eine Rolex gemeinsam haben, könnte man spontan antworten: Dass man beides nicht kauft, obwohl es viel Geld kostet, sondern gerade weil es viel Geld kostet. In beiden Fällen geht es nicht um praktischen Nutzen oder materielle Werte, sondern um Teilhabe an einem Mythos. Diese Analogie wirft eine konkrete Frage auf. Angenommen, dass Kunst und Luxusprodukte beide zunächst fundamental defizitär sind, insofern sich ihr Wert erst in der Vermittlung konstituiert: Haben dann eine Werbeagentur und ein Galerist die gleiche Aufgabe?

„1947. Die Schallmauer wird durchbrochen. Rolex. Für die großen Momente im Leben.“ So zu lesen auf einer aktuellen Printwerbung für die omnipräsente Schweizer Uhrenmarke. Das Motiv dazu: Eine junge Frau mit wehendem Schal vor einem Sonnenuntergang, ihre Lippen halb geöffnet, die Hände herausfordernd auf die Hüfte gestützt. So erschreckend verblüffend banal dieses Motiv auch scheint: Man darf davon ausgehen, dass die wirkungsvoll und souverän inszenierten Schlüsselreize durchaus ihre Wirkung tun – und damit wäre eben die Aufgabe der Werbung schon erschöpfend beschrieben: Sie muss funktionieren.

Wer unter Berufung auf das Wahre, Gute und Schöne von außen Ansprüche an die Kunst heranträgt und in diesem Sinne fordert, dass für ihre Vermarktung andere Gesetze gelten sollten, findet im (post-)postmodernen „Anything goes“ wohl kaum Gehör. Ein anderes wäre es allerdings, wenn sich unhintergehbare kunstimmanente Paradigmen fänden, in deren Licht eine verkaufstechnisch effiziente Vermarktung von Kunst plötzlich problematisch erschiene.

Nach solchen Paradigmen muss man nicht im Mittelalter suchen. Solange der Wert von Kunst für jedermann evident ist, sprich: wenn es einen gesellschaftlichen Konsens gibt, der mittels ästhetischer, religiöser oder gesellschaftlicher Normen Wesen und Wert der Kunst festlegt, legitimiert sich das Kunstwerk selbst durch seine materielle Beschaffenheit. Und solange die Qualitäten eines Kunstwerks an einem fest umrissenen Wertekanon gemessen werden können, ist auch dessen Platz im Leben genau bestimmt.

Der Versuch der Avantgarde der Moderne, diese Grenzen zwischen Kunst und Leben einzureißen, ist längst zu einer der großen Erzählungen des 20. Jahrhunderts geworden, die Stoff für Generationen von nachgeborenen Kritikern und Künstlern geliefert hat und immer noch den Diskurs bestimmt. Und das hat seine Gründe, denn hier formiert sich eine Paradoxie der Kunst, die bis heute nicht an Brisanz verloren hat. Die Kunst beginnt, sich ihre Gesetze selbst zu geben und somit auch einen neuen Betrachter zu fordern, der diese Autonomie verstehen kann. Was mit Dada, Futurismus und Surrealismus anfängt, findet seinen Höhepunkt in der russischen Avantgarde. War es bisher am Menschen, die Kunst zu beurteilen, so ist es nach dieser Umwertung der Werte auf einmal die Kunst, die die Menschen beurteilt: Es geht nicht mehr darum, das heimische Wohnzimmer mit einem Bild zu schmücken, nein, das Wohnzimmer selbst muss ganz und gar Bild werden.

Nun ließe sich natürlich einwenden, diese Visionen der Moderne seien längst ausgeträumt. Nicht nur ideengeschichtlich, auch praktisch: War es nicht ein überdeutliches Fanal des Scheiterns, als 1972 die amerikanische Wohnsiedlung „Pruitt-Igoe“, Aushängeschild des sozialen Wohnungsbaus und Ikone der Nachkriegsmoderne, nur 18 Jahre nach ihrem Aufbau wieder abgerissen wurde? Ja, in der Tat: Diejenigen, die damals modern wohnen mussten, reagierten auf das strenge utopische Raster mit Vandalismus – oder indem sie wegzogen, sofern sie es sich leisten konnten. Wie aber steht es mit denen, die heute utopisch wohnen wollen?

Denn die Sehnsucht ist geblieben. Das Verlangen nach einer Transzendenz, die sich in Architektur und Kunst verkörpern soll, lebt weiter und aktualisiert immer wieder die heikle Frage nach dem Verschmelzen von Kunst und Leben. Exemplarisch festmachen lässt sich das Dilemma am zwiespältigen Verhältnis des zeitgenössischen Star-Architekten zu den Bewohnern seiner Kreation: Was er baut, soll radikal und anders sein – die Villa als Wohnmaschine gewissermaßen. Doch dann fordern Gewohnheit und Gemütlichkeit ihren Tribut, das profane Leben bricht ein in die utopische Idylle, und auf einmal werden Glas und Beton mit Vorhängen kaschiert – worauf der Architekt vor Gericht für die Einhaltung des Reinheitsgebots respektive die Entfernung der Vorhänge einklagt. Das Kunstwerk kann nicht klagen. Dabei ist es genau diesem Dilemma unterworfen: Was der anspruchsvolle Kunstkäufer in sein Wohnzimmer hängt, darf nach allen möglichen Prinzipien entstanden sein, nur nach einem nicht, nämlich das bürgerliche Heim schmücken zu wollen. Gefragt ist also diejenige Kunst, die fordert: Du musst dein Leben ändern! – um dann nur allzu oft gerade den Lebensstil zu repräsentieren und konsolidieren, dem Veränderung von jeher suspekt war. Um es etwas überspitzt zu formulieren: Die künstlerische Transzendenz muss scheitern an der bürgerlichen Immanenz.

Dieses Zusammenfallen zweier unvereinbarer Ansprüche konstituiert den entscheidenden Unterschied von Kunstwerk und Rolex. Zwar brauchen beide den Mythos, um ihren Wert zu behaupten. Doch die Rolex ist eine Projektionsfläche, die beliebig mit Inhalten aufgeladen werden kann. Wenn diese Wertschöpfung gelingt und entsprechend kommuniziert wird, dann kann man den Mythos durchaus am Handgelenk tragen. Oder in die Garage stellen. Oder anziehen. Nur übers Sofa hängen lässt er sich eben nicht. Das gekaufte Kunstwerk muss im Hinblick auf das „Andere“, auf das es verweist, zum bloßen Schatten werden. Dem Kunstmarkt tut das indes keinen Abbruch. Allerdings stellt es den Galeristen vor die Frage, wie er mit dieser Aporie umgeht: Schöpft er das Potential der Differenz aus, thematisiert er die Problematik – oder überspielt er sie, indem er des Käufers Illusion nährt, teilzuhaben an fremder Transzendenz?

Den affirmativen Weg geht momentan die Galerie Neugerriemschneider mit dem Maler, Musiker und Autor Billy Childish. Der britische Exot im Kunstmarkt stilisiert sich zum genialischen Outsider und aktualisiert van-gogh’sche Topoi für das 21. Jahrhundert. Seinen schwungvoll-expressiv gemalten Bildern haftet der anachronistische Hauch des unvermittelt-authentischen an, eine Spur von existenziellem Drama – eben jenem „Anderen“, das selbst hinter dem Chefsessel im klimatisierten Bürogebäude noch für Wildheit bürgt. Billy Childish hat mit Neugerriemschneider, die ihm mit „The soft ashes of Berlin snowing on Hans Fallada’s nose“ einen ernsthaft-monolithischen Auftritt gewidmet haben, die passenden Galeristen gefunden, denn dort wird sein privater Mythos in allen Ehren gehalten. Nur zu gern lässt etwa Tim Neuger den Besucher an der Heldensage seines Künstlers teilhaben, und erzählt Anekdoten aus Childishs bewegtem Leben: Ablehnung an der Kunstakademie, Malocherjobs in den Londoner Docks, Alkoholismus… Die große Erzählung wird gepflegt, als gewinnbringender Mehrwert eingesetzt.

Das muss man nicht moralisch verurteilen, und gewiss lassen sich hinter der orthodoxen Fassade auch postmoderne Ironie und komplexere Diskurse finden, nur: dem Dilemma der Differenz entkommt man so nicht. Allzu augenfällig wurde dies auf der Art Basel 2010, wo Neugerriemschneider Childishs Bilder in einer Koje präsentierten, deren Boden von Jorge Pardo entworfen war, ausgestattet mit Stühlen von Ai Weiwei. Optisch war das super. Schließlich kommt auch Arte Povera am besten zur Geltung in möglichst unpoveren ­Milieus… Insofern dürfte die eigenwillige Inszenierung durchaus verkaufsfördernd gewirkt haben: konnte man so doch schon ahnen, welch reizvollen Akzent diese expressionistischen Werke in einem exquisit-artifiziellen Wohnraum bieten.

Eine gänzliche andere Strategie scheint Jan-Philipp Frühsorge mit der Ausstellung „… sondern dass sie ist“ von Andreas Schmid zu verfolgen. Beim Eintritt empfängt der Ausstellungsraum von fruehsorge contemporary drawings den Besucher mit einer gewissen musealen Erhabenheit: Strenge Neon-Installationen, die mit dem Pathos der minimalistischen Abstraktion spielen und die fundamentalen Diskurse der Moderne wachrufen. Dann die Überleitung in den größeren Teil des Raumes durch farbige Linien an den Wänden: ein entspanntes, aber doch präzise gesetztes Spiel der Geraden. Sieht man genauer hin, zeigen sie sich mal als Farbstriche, mal als Klebeband. Man sucht Bezüge zum Raum, spürt dem Zusammenklang der Farben und Formen nach, und wundert sich nicht, dass sich der Künstler auf Zen beruft, oder was man in Europa so dafür hält.

Was hängt nun aber an den Wänden? Zeichnungen. Im Rahmen. Und zwar in gefälligen, repräsentativen Rahmen. Was auf der Wand mit großer Geste auftritt, die lineare Komposition zwischen Autonomie und Raumbezug, verliert in den Zeichnungen schnell an Aura. Beiläufig und skizzenhaft kommen sie daher. Und, nicht zuletzt: wohnzimmergerecht. Auf die Frage, wie das zusammengehe, antwortet Herr Frühsorge ganz unbefangen: Der Käufer müsse ja auch sehen, wie das Produkt gerahmt aussehe. Mythos Ade! Fast schade drum – denn kann die kleine Zeichnung zu Hause halten, was das wirkungsvoll auskomponierte Setting der Galerie verspricht? „Wirkt“ sie dann noch, reduziert auf ihre im Rahmen doch recht zahme Materialität? Ist das überhaupt Kunst, so ein paar schiefe Linien auf ein Papier zu setzen? Gewiss, wer sich der Versuchung widersetzt, den Traum vom großen Anderen in Szene zu setzen, geht ein Risiko ein.

Doch es lohnt sich – denn diese Inszenierung, die so labil zwischen Anspruch und Kommerz, Erhabenheit und Dekoration schwankt, fordert den Käufer heraus. Die Wertschöpfung kann ihm weder der Künstler noch der Galerist abnehmen, er muss sie selbst leisten. Und wo die Kunst nicht mehr Teilhabe an der Transzendenz verspricht, sondern zur Auseinandersetzung mit der Immanenz einlädt, kann sie vielleicht sogar den Schritt vom Atelier ins Wohnzimmer überstehen.

Billy Childish „The Soft Ashes Of Berlin Snowing On Falladas Nose“ Neugerriemschneider, Linienstraße 155, 10115 Berlin 6.10.–13.11. 2010

Andreas Schmid „…sondern dass sie ist“ fruehsorge contemporary drawings, Heidestraße 46–52, 10557 Berlin, 29.10.–4.12.

Billy Childish, Jorge Pardo auf dem Art-Basel-Stand von Neugerriemschneider, 2010 (© Neugerriemschneider)
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