Einer von hundert

Tagebuch aus dem Berliner Frühjahr und Sommer

2012:Aug // Einer von hundert

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08-2012

















29. April, Gallery Weekend, Villa Schöningen, Potsdam
Was für eine super BILD-Schlagzeile: „Irre – Springer baut Mauer wieder auf!!!“ Oder, etwas subtiler: „Mr. Doepfner  – tear down this Wall!“ Beziehungsweise „these Walls“. Schließlich tut sich am Sonntag des Gallery Weekends schier Unglaubliches in der Villa Schöningen, die neben der Glienicker Brücke symbolischer kaum liegen könnte. Gefeiert wird im Garten bei Currywurst und Spargelsuppe der Baubeginn von Andreas Slominskis Projekt „Walls“, das den Bau fünf verschiedener Mauern vorsieht. Pointe daran: Vier davon werden irgendwie schräg gemauert, von oben nach unten beispielsweise, was geschulte Dialektiker jeglicher Couleur wahrscheinlich vor Freude erröten ließe. Vom Kopf auf die Füße gestellt und so weiter. Obendrein wäre darauf hinzuweisen, dass neuerdings die Mauern nicht mehr zwischen Ost und West, sondern oben und unten verliefen – doch mir persönlich reicht als Punchline der offizielle Eröffnungstermin des ganzen Wahnsinns: Der zweite Juni.

10. Mai, Bundesstraße nach Strausberg
Fahre mit einem erfolgreichen Künstler (artfacts-ranking in den hundertern) zum Golfen. Er verteidigt Anselm Reyle & Co. Das seien halt Fußballspieler, deren Karriere geht eben nicht so lange, und die müssten so viel wie möglich an Geld bunkern. Er sei Golfspieler, da erzielt man auch im Alter noch Achtungserfolge …

5. Juni, Brunnenstraße
Neulich, beim Durch-Mitte-radeln, geht mir ein Wortspiel durch den Kopf: „KOW“, viele kennen und erkennen sie, die so zusammengesetzten drei Buchstaben, die als Abkürzung für Namen stehen. Ihre Kombination an sich löst jedoch noch keine sprachliche Bedeutung aus. Doch, sobald man davon, die Reihenfolge beibehaltend, einen Buchstaben weglässt, entsteht eine solche:

ko (ohne w): erledigt
ow (ohne k): oh weh …
kw (ohne o): Abkürzung für: kann weg – oder für Kunst-Werke (Berlin)

So ein Quatsch denke ich mir, mit was ich mich hier schon wieder beschäftige …
Etwas später, wieder zu Hause, meine ich mich zu erinnern, dass in der Fassade der so benannten Galerie Bauklötze mit der Aufschrift „ok“ stehen. Ist das nun Einbildung oder Realität. Mal schauen, ob man das bei Google Streetview sehen kann. (Resultat: da ist noch die Baulücke zu sehen, das Gebäude steht da noch gar nicht …). Dass KOW nur noch aus Oberhuber und Koch besteht, habe ich jedenfalls kürzlich irgendwo auf einer Messe-Seite im Internet realisiert, vielleicht bei der „Liste“ in Basel. Aber ok klingt ja auf jeden Fall schon besser als ko. Hoffen wir, dass es auch so ok ist.

27. Juni, im Büro
Aus irgendeinem Grund auf der amerikanischen Artnet-Magazine-Seite. Ist ja, nachdem die deutsche vor fast zwei Jahren einen Qualitätsabfall durch Eliminierung der Redakteure Mania und Gohlke und damit auch der besseren Schreiber erlitt, noch eine sehr amüsante Seite, gerade auch weil das amerikanische Artnet-Magazin immer auch Künstler als Schreiber einband. Ja, einband, Vergangenheit. Die kündigen an, alles dicht zu machen, to cease, auch das deutsche und das französische Magazin. Hätte sich wirtschaftlich nie getragen. Klar, aber dass das Magazin dazu beitrug, dass sich das Gesamtkonstrukt artnet trägt, darüber machen die sich keinen Kopf. Fand ich eben auch schon vor zwei Jahren, als sie die kritische Seite durch eine marktfreundlichere Berichtserstattung ersetzt haben, viel zu kurzsichtig. Jetzt gebe ich dem Gesamtkonstrukt artnet noch zwei Jahre. Auf der deutschen ist heute übrigens noch nichts zu sehen …

29. Juni, zu Hause, im Netz
Jetzt auf der deutschen artnet-Magazin-Seite das gleiche. Sie schließen. Auf artforum lese ich nach, dass der Gründer Hans Neuendorf das Zepter an seinen Sohn übergab. Miese erste Amtshandlung des Nachfolgers … Ob Gesine wieder bei Monopol unterkommt?

6. Juli, Bonanza Coffee Heroes, morgens
Heute im Magazin der Süddeutschen. Rammstein. Beschäftige mich zum ersten mal näher mit dem Phänomen. Die Musik war noch nie mein Ding. Aber dieses Ostjungs-Authentiker-Ding ist schon faszinierend. Einerseits sind alle noch so, als würden sie am liebsten vor dem Späti in der Choriner rumhängen und sehen auch so aus, andererseits füllen sie auf der ganzen Welt Stadien und verballern eine halbe Million pro Auftritt. Mad Max und Tacheles und deutsche Romantik und Lederwesten auf nacktem Oberkörper. Erfolg total, im Lear-Jet zu hunderttausend Armen, die sich einem entgegenrecken und dann Anti-Kapitalismus in der Mark Brandenburg oder in Meck Pom …
Geht bestimmt, wenn aber jeder in dieser Intensität sein Leben betreiben würde, wäre die Welt in zehn Minuten am Ende. Dann vielleicht doch lieber die Choriner hoch- und runterfahren und weiterbasteln? Soll jetzt keine Öko-Keule sein, mir fehlt es bloß an Testosteron …

6. Juli, später
Wer wäre in der bildenden Kunst am ehesten das Äquivalent zu Rammstein? Vielleicht Martin Eder, der kommt jedoch aus Augsburg, aber die Grundhaltung ist vielleicht ähnlich. Das Erfolgsrezept wäre eine Mischung aus Wut, Ehrgeiz und Punk-Sein, also viel Männlichkeit gepaart mit Romantik ohne Angst vor abgründigem Kitsch. Es gibt sogar eine Verbindung von Martin Eder über Lisa Junghanß und Jenny Rosemeyer zu Rammstein, fällt mir jetzt ein …

23. Juli, weit nach Redaktionsschluss

Eben kam noch eine Ankündigung rein:
paradocumentic XIII,
Beginn: 16. 9. 2012,
100 Tage Ausstellung für erfolgsbehinderte Künstler.
Ort: Kassel, Großsporthalle am Auepark
Künstlerliste wird noch veröffentlicht.
Kataloggrußwort: Karl-Theodor zu Guttenberg

31. Juli, Heft noch immer nicht im Druck, 
wieder in der Brunnenstraße

Jetzt sehe ich die Leuchtbauklötze wirklich. no steht da. Vielleicht war ich deshalb so verwirrt. Ok, dann halt No.

Aufbau Andreas Slominski „Walls“, Courtesy Villa Schöningen, 
 www.villa-schoeningen.org/ausstellungen/skulpturengarten (© )
Google Streetview: Brunnenstraße 9 (© )
Screenshot www.artnet.de/magazine (© )
Zeitmagazin und Süddeutsche Zeitung Magazin (© )
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